Sicher unsicher — Justice4Mouhamed

Mouhamed Dramé starb 2022 durch fünf Schüsse aus einer Maschinenpistole – abgefeuert von einem Polizisten. Drei Jahre nach der Tat sind Fragen offen. Anna und der Dortmunder Solidaritätskreis Justice4Mouhamed fordern Gerechtigkeit.
27. März 2025
7 Minuten Lesezeit
Text: Marius Münstermann — Fotos: Benjamin Jenak

Dieser Text beschreibt Suizidgedanken. Bei Depressionen oder Selbstmordgedanken ist die Telefonseelsorge ein kostenfreies Angebot: 0800 111 0111 oder 0800 1110 222. Außerdem ist der Bereitschaftsdienst der kassenärztlichen Vereinigungen unter 116 117 erreichbar.

Am 8. August 2022 sitzt Mouhamed Lamine Dramé in sich zusammengesunken im Hof einer Jugendhilfeinrichtung in der Dortmunder Nordstadt. Der 16-Jährige hält ein Küchenmesser mit einer 20 Zentimeter langen Klinge in der Hand, die Spitze gegen seinen Bauch gerichtet. 

Dramé spricht Wolof, seine Muttersprache aus dem Senegal, auch Französisch und ein wenig Deutsch. In diesem Moment allerdings spricht der Jugendliche gar nicht, er scheint nichts wahrzunehmen, sondern hockt offenbar in einer psychischen Ausnahmesituation mit dem Rücken zur Wand. Der Leiter der Jugendhilfe sucht Zugang zu dem Jungen – ohne Erfolg. Weil er befürchtet, Dramé könne sich selbst verletzen, ruft er die Polizei. Elf Polizeikräfte rücken aus. Am Ende dieses Einsatzes wird Mouhamed Dramé tot sein – getroffen von fünf Schüssen aus einer Maschinenpistole, abgefeuert von einem Beamten.

Zweieinhalb Jahre später sammeln sich gut ein Dutzend Menschen auf dem Kurt-Piehl-Platz. Es ist ein lauer Montagabend in der Dortmunder Nordstadt. Kerzen werden entzündet, Blumen niedergelegt und kurze Reden gehalten. Mit einer Schweigeminute endet die Mahnwache in Gedenken an Mouhamed Dramé, die der Solidaritätskreis Justice4Mouhamed seit dessen Tod jeden Monat abhält. „Mouhamed war ein junger Mensch mit großen Träumen“, sagt Anna von der Initiative. „Es ist eine wahnsinnig dramatische Geschichte.“

Ihren kompletten Namen will Anna aus Sicherheitsbedenken nicht preisgeben. Gemeinsam mit einem kleinen Kreis weiterer Engagierter organisiert Anna die Mahnwachen, verfolgte den Gerichtsprozess und hält Kontakt zu den Angehörigen. „Es geht um Mouhamed. Darum, dass sein Name und seine Geschichte nicht in Vergessenheit geraten“, bemerkt Anna. „Nach allem, was er durchgemacht hatte, hätte er ein gutes Leben verdient gehabt.“

Mouhamed Dramé machte sich 2019 aus seiner Heimat im westafrikanischen Senegal auf den Weg nach Europa, um dort Geld für seine Familie zu verdienen – gemeinsam mit einem Freund, der bei der Überfahrt über das Mittelmeer nach Spanien auf ungeklärte Weise ertrunken sein soll. Dramé landete schließlich in einer Asylunterkunft in Sevilla, kam von dort aus über einen Zwischenstopp in Paris nach Deutschland. In Dortmund lebte er bis zu seinem Tod nur wenige Monate. Dass der Jugendliche unter psychischen Problemen litt und womöglich einen Suizid beabsichtigte, war den Behörden bekannt.

Persönlich hat Anna Dramé nie kennengelernt, die Bruchstücke seiner Biographie haben die Engagierten des Solidaritätskreises nach seinem Tod zusammengetragen. So hatte er eine Leidenschaft für den Fußball, wollte zu einem Spiel des BVB gehen. „Wir haben ein paar Kinder getroffen, die mit ihm Fußball gespielt haben.“ Eines, so erinnert sich Anna, sei Augenzeuge des Polizeieinsatzes gewesen, den Dramé mit dem Tod bezahlte: „Da war überall Blut.“

Als die Polizei eintrifft, heißt es in den Protokollen, sitzt Mouhamed Dramé noch immer in sich zusammengesunken mit dem Rücken zur Wand. Einer der Beamten versucht ihn auf Englisch anzusprechen, dann auf Spanisch. Dramé reagiert nicht. Der Einsatzleiter ordnet den Einsatz von Pfefferspray an, um ihn zu entwaffnen. Dann eskaliert die Situation.

Eingenebelt von der brennenden Flüssigkeit – so viel, dass sie ihm über den Kopf lief – soll er aufgestanden sein. Dramé habe orientierungslos gewirkt, sich von der Wand weg bewegt,  in die einzig mögliche Fluchtrichtung: auf die Polizei zu, die ihn im Halbkreis umstellte.

Das Messer hält er noch in der Hand. Daraufhin schießen Polizeikräfte mit einem Taser auf ihn. Der erste Schuss aus dem Elektroschockgerät verfehlt ihn, der zweite trifft. Fast zeitgleich feuert ein Polizist sechs Schüsse aus einer Maschinenpistole ab. Fünf Kugeln treffen Gesicht, Hals, Schulter, Bauch. Rettungskräfte, die bereits am Einsatzort warten, versuchen noch das Leben des Jungen zu retten – ohne Erfolg. 

Rassistische Narrative

Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) erklärte noch am selben Tag: „Dieser psychiatrisch offensichtlich kranke Mensch stürmt auf die Polizisten mit dem Messer und dann – so ist meine heutige Informationslage – schießt der, der dafür vorgesehen ist, und rettet den Polizisten. Und in der Situation ging es um die Frage, sticht der zu oder schießt die Polizei?“ Reul ruderte wenig später zurück und sagte, die Ermittlungen abwarten zu wollen. Das rassistische Narrativ vom vermeintlich aggressiven Schwarzen Geflüchteten, der die deutsche Polizei angreift, sei da bereits in der Welt gewesen. So sieht es Anna. 

In der Dortmunder Nordstadt versammelten sich am Tag nach Mouhamed Dramés Tod rund 300 Menschen zu einer Demonstration. Gemeinsam zogen sie zur Polizeiwache Nord, um ihre Trauer und ihre Wut bei einer Kundgebung mit offenem Mikrofon deutlich zu machen. „Für uns bedeuten mehr Beamte mit mehr Ausrüstung nicht mehr Sicherheit, sondern mehr Gewalt“, so ein Redner. Eine andere Teilnehmerin sagte: „Wen sollen wir anrufen, wenn wir Hilfe brauchen? Gestern wurde die Polizei gerufen, weil ein Jugendlicher mit einem Messer im Hof stand und offensichtlich Hilfe gebraucht hat. Und dieser Jugendliche wurde im Endeffekt erschossen. Ich weiß nicht, wen wir in Zukunft anrufen sollen. Ich glaube, die Polizei ist es nicht.“

Bei dem Einsatz sei so ziemlich alles schief gelaufen, was schief laufen konnte, schätzt Anna vom Solidaritätskreis rückblickend ein. Diesem Verdacht ging auch die Staatsanwaltschaft Dortmund nach. „Wir gehen davon aus, dass der Einsatz, so wie er abgelaufen ist, und zwar von Beginn an – nicht verhältnismäßig gewesen ist“, erklärte der leitende Oberstaatsanwalt wenige Wochen nach Dramés Tod. Die Staatsanwaltschaft ermittelte wegen Totschlags gegen mehrere Polizeikräfte, dem Einsatzleiter wurde fahrlässige Tötung vorgeworfen. Dieser habe zu Unrecht und zu unüberlegt den Einsatz von Pfefferspray angeordnet – und so den fatalen Verlauf überhaupt erst ausgelöst. 

Der Prozess, der den bis Fall Dezember 2024 am Dortmunder Landgericht verhandelte, sollte die Verantwortung für den Tod des Jungen klären. Anna war bei vielen Prozesstagen vor Ort dabei. „Es wurde kaum hinterfragt, was bei dem Einsatz falsch gelaufen ist. Es fand keine wirklich kritische Aufarbeitung statt.“ Anna macht dafür eine „mangelhafte Fehlerkultur“ und den „Korpsgeist“ der Polizei verantwortlich. „Ich hatte das Gefühl, dass es eine starke Täter-Opfer-Umkehr gab.“ So hätten die Angeklagten das Verfahren vor allem dafür genutzt, sich selbst und die Behörde vom Rassismus-Vorwurf freizusprechen.  

Das Verfahren endete mit Freisprüchen für alle angeklagten Polizeikräfte. Der Schütze, durch dessen Schüsse Mouhamed Dramé starb, wurde noch am Tag nach der Urteilsverkündung auf Lebenszeit verbeamtet. Die Staatsanwaltschaft und auch die Familie von Mouhamed Dramé, die als Nebenklägerin vor Gericht war, legten Revision ein.

Dass überhaupt Angehörige von Mouhamed Dramé aus dem Senegal nach Dortmund kommen konnten, sei dem Solidaritätskreis zu verdanken, meint Anna. Kontakt entstand via Messenger. Zwar hatte die Stadt Dortmund den Vater und den Bruder des Verstorbenen eingeladen, nicht aber zum Prozessauftakt. Die Begegnung mit den Hinterbliebenen sei surreal gewesen, erinnert sich Anna: „Niemand hat uns von der Einladung erzählt, wir wussten anfangs gar nicht, dass die beiden in der Stadt waren. Wir sprachen mit ihnen per Videocall, obwohl die beiden nur wenige Kilometer entfernt irgendwo in Dortmund saßen.“ 

Fälle von Polizeigewalt

Inzwischen leben zwei Brüder von Mouhamed Dramé selbst in Dortmund. Der Solidaritätskreis setzt sich dafür ein, dass beide einen dauerhaften Aufenthaltstitel bekommen. Zusammen zum Yoga gehen, Fußball spielen – aus der gemeinsamen Trauer, beschreibt Anna, seien über die Zeit Freundschaften gewachsen. Darüber hinaus findet eine Vernetzung mit anderen anti-rassistischen Gruppierungen statt. Vor allem der Kontakt zur Initiative „Kein Schlussstrich“, die sich für die Aufklärung des rassistischen Terroranschlags in Hanau einsetzt, ist für die Dortmunder Engagierten wichtig: „Die sind ein großes Vorbild für die Erinnerungsarbeit.“

Aber auch viele andere, die sich ebenfalls für die Aufklärung von Todesfällen in Gewahrsam und für Betroffene von Polizeigewalt einsetzen. Oury Jalloh zum Beispiel verbrannte 2005 unter bis heute ungeklärten Umständen in einer Polizeiwache in Dessau. Amed Ahmad erlag den Verletzungen, die er 2018 bei einem Brand in der JVA Kleve erlitt, wo er zu Unrecht mehr als zwei Monate inhaftiert war. Ibrahima Barry, geflüchtet aus Guinea-Bissau, starb 2024 an den Folgen eines Tasereinsatzes. In Mannheim starb 2022 Ante P., nachdem er von der Polizei zurück in die Psychiatrie gebracht werden sollte. In Amsterdam erschoss die niederländische Polizei 2020 Sammy Baker, einen Fitness-Influencer aus Deutschland, nachdem er vermutlich durch den Konsum von Marihuana eine Psychose erlitt. Die Liste ist lang. 

Betroffene von Polizeigewalt würden sich regelmäßig an den Solidaritätskreis wenden, sagt Anna. Für solche Anfragen sei die Gruppe allerdings gar nicht qualifiziert. Deshalb verweisen sie in der Regel an die Beratungsstelle für Betroffene rechtsextremer, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Nordrhein-Westfalen. Eine Notlösung, findet Anna: „Wünschenswert wäre ein fester Kreis von Anwält*innen, an die wir in solchen Fällen vermitteln könnten.“

Für die Engagierten hinter Justice4Mouhamed ist der Fall Dramé jedenfalls längst nicht abgeschlossen. Wenn ein Schwarzer Jugendlicher durch Kugeln aus einer Polizeiwaffe stirbt, stellen sich grundsätzliche Fragen, betont Anna: „Es geht um Unterstützung für Menschen in akuten Krisensituationen. Der Präventionsgedanke sollte an erster Stelle stehen.“ Deshalb gehe es bis heute um die Frage, welche Rolle die Polizei in der Gesellschaft einnimmt.

Gerade in der Dortmunder Nordstadt, einem migrantisch geprägten Viertel, würden viele Menschen die Polizei nicht als „Freund und Helfer“ wahrnehmen, sondern eher als Bedrohung. Die Dortmunder Münsterstraße und der Mehmet-Kubaşık-Platz – benannt nach einem Opfer des NSU-Terrornetzwerks – wurden von der Polizei monatelang mit Kameras überwacht. Die Polizeikräfte kontrollierten bis heute vor allem migrantisch gelesene Personen. So seien viele Menschen von Racial Profiling betroffen, bemerkt Anna. „Ich wurde als weiße Person in der Nordstadt noch nie kontrolliert. Aber ich sehe, dass die Polizei oftmals sehr eskalativ vorgeht.“

Die Taser-Aufrüstung der Polizei etwa stehe bis heute gar nicht zur Debatte, kritisiert Anna. Obwohl bei Einsätzen immer wieder Menschen durch die Elektroschockwaffe zu Schaden kommen, in einigen Fällen sogar mit Todesfolge. „Wir stellen all das grundsätzlich in Frage“, erklärt Anna. Es müsse Alternativen zur Polizei geben. Um das staatliche Gewaltmonopol zu hinterfragen, brauche es eine ernsthafte Debatte über die Abschaffung von Gefängnissen und der Polizei, über rassistische Gewalt, Übergriffe und Sanktionen – alles Forderungen der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA. „Wir sprechen bewusst von Ordnungs- statt Sicherheitsbehörden.“ Denn für Anna steht fest: „Mehr Polizei bedeutet nicht mehr Sicherheit.“

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