Text: Eva Goldschald — Fotos: Benjamin Jenak
Es sind nur ein paar Schritte abseits des asphaltierten Fußwegs an der Hermannstraße im Berliner Süden. Ein paar Schritte und schon verstummen Baulärm, Menschenmassen und Verkehr. Es riecht nach Thymian und Rosmarin, die Vögel zwitschern. Immer wieder ruft ein Uhu aus einem der uralten Kastanienbäume. Es ist der Neue St. Jacobi Friedhof an einer der verkehrsreichsten Straßen der Hauptstadt, der hier einen paradiesischen Flecken Grün bietet. Mittendrin, zwischen Bäumen, Sträuchern und Beeten, steht Hanna Burckhardt. Seit sieben Jahren schon ist sie Teil des Kollektivs Prinzessinnengarten in Berlin.
Kinder, Jugendliche und Erwachsene können sich hier das ganze Jahr über an der Gestaltung der Flächen beteiligen: von der Aussaat im Frühjahr, dem Gießen und Ernten im Sommer und Herbst bis zum Ruhen und Vorbereiten in den Wintermonaten. „Mit Wissen und Unterstützung möchten wir anderen Menschen den Umgang mit der Natur näher bringen. Kreisläufe spielen eine große Rolle. Dabei lernen wir übrigens selbst immer mit“, erzählt Hanna Burckhardt, die es vor neun Jahren nach Berlin gezogen hatte. Gut zwei Jahre nach ihrer Ankunft wurde sie Teil des Prinzessinnengartens – zuerst als Praktikantin, nunmehr als Mitgesellschafterin.
Nach ihrem „sehr theoretischen Masterstudium“ der Humanökologie wollte Hanna Burckhardt etwas Praktisches machen: „Ich habe mich schon immer dafür interessiert, wie es möglich ist, in einem sehr, sehr kleinen Rahmen Alternativen zu schaffen und auch zu leben. Mittlerweile betreue ich externe Projektgärten, die wir mit der eigenen Gartenbauabteilung ausbauen und ich leite Gartensprechstunden.“ Alles, was Hanna Burckhardt über das Gärtnern weiß, hat sie im Prinzessinnengarten gelernt. Erste Erfahrungen sammelte sie davor bei einem kleinen Gartenprojekt während des Studiums in der schwedischen Stadt Lund. Damals sei es ihr mehr darum gegangen, Anschluss im Ausland zu finden und weniger ums Gärtnern an sich.
In Berlin sei das anders. Der soziale Gedanke spiele trotzdem eine wichtige Rolle: „Ich mag den Ort als Plattform, das Gärtnern ist das Werkzeug dazu. Es ist schön, dass der Fokus nicht auf der rentablen Produktion von Lebensmitteln oder der Versorgung der Nachbarschaft liegt, sondern eher auf Bildung und Teilhabe am Ganzen. Das macht es zu etwas Besonderem.“
Im Prinzessinnengarten kommen Menschen unkompliziert zusammen: aus der Nachbarschaft und aus entfernteren Stadtteilen. „Es gibt keine Mitgliedschaften, der Zutritt kostet nichts und funktioniert hier ohne Anmeldung. Manche kommen einfach mal vorbei, um zu gucken, andere sind regelmäßig hier“, beschreibt die 32-Jährige. Jeden Montag ist Gartenarbeitstag auf der Hochbeetwiese. Dort gedeihen zum Beispiel Tomaten, Bohnen und Gurken. Die Ernte wird unter denen verteilt, die gerade da sind. Auf einer Arbeitsliste hält das Team die anstehenden Aufgaben fest. Die ist für alle zugänglich, damit ersichtlich wird, was zu tun ist.
„Wir produzieren keine großen Mengen, sondern wollen eine Vielfalt von dem anbieten, was die Natur uns gibt. Tomaten sind nicht immer rot und rund, sie können grün und ausgebeult sein und trotzdem super schmecken“, so Hanna Burckhardt. „Wir machen Obst und Gemüse erlebbar. In einer Welt, in der alles immer und überall verfügbar ist, sollen Menschen bei uns ein Gefühl für Saisonalität entwickeln. Statt Vermarktung konzentrieren wir uns auf Bildung – das eröffnet Freiraum, vieles ausprobieren zu können. Für mich ist es ein Experimentierlabor. Ideen, die auf ersten Blick abwegig erscheinen, sind für uns gerade deshalb spannend.“
Genug Platz zum Wachsen
Der Garten ist für Hanna Burckhardt ein Sicherheitsnetz, denn Scheitern sei hier erlaubt, weil daraus Lösungen entstehen können. Sie selbst bezeichnet sich nicht als Aktivistin und doch entspricht ihr Wirken einem stillen Aktivismus. Schließlich gehen Burckhardt und die anderen nicht direkt auf die Menschen zu, sondern diese kommen von sich aus in den Garten. Hier können dann alle etwas bewegen und werden, ohne es vielleicht bewusst zu merken, Teil dieses stillen Aktivismus. „Wir bringen Bewegung in die Stadt, ohne uns aufzudrängen.“
Strenge Hierarchien gibt es im Berliner Prinzessinnengarten nicht. „Alle haben ihren eigenen Schwerpunkt und treffen eigenverantwortlich Entscheidungen“, erzählt Hanna Burckhardt. Die Aufgaben sind wie folgt verteilt: Finanzen, Öffentlichkeitsarbeit, Förderungen, Gartenbau. Zusätzlich zum festen fünfköpfigen Team arbeiten im Garten 30 Teilzeitangestellte, sechs während eines Freiwilligen Ökologischen Jahres und bis zu 15 über das Jahr im Praktikum. „Gießen betrifft alle. Bei dem großen Gelände dauert das schon bis zu acht Stunden pro Tag.“
Burckhardt sagt von sich selbst, dass sie sich in einem nie endenden Lernprozess befinde: „Darum geht es beim Prinzessinnengarten. Einfach mal schauen, was aus der Pflanze wird. Wenn es nichts wird, gemeinsam an Lösungen arbeiten und bei Erfolg den anderen erzählen, wie das geklappt hat.“ Beim Anbau kommen keine chemischen Düngemittel oder Pestizide zum Einsatz, Erde und Saatgut haben ein Bio-Zertifikat. „Jedes Jahr wandeln wir organische Abfälle aus dem Garten in etwa 15 Tonnen Kompost um, die zum Düngen verwendet werden.“
Wer zu den einzelnen Gartenbereichen gelangen möchte, muss von der Hermannstraße kommend die imposante Kastanien-Allee zwischen den Grabfeldern passieren. Auf vielen Grabsteinen fehlen Buchstaben, andere sind so verwildert, dass sie zwischen Efeugeflecht und wilden Rosen nur noch zu erahnen sind. Nur vereinzelt kümmern sich Hinterbliebene noch um die letzten Ruhestätten. Diese sind dann so üppig bepflanzt, dass sie wie Villen zwischen verfallenen Häusern erscheinen. Seit 2015 wird hier niemand mehr bestattet.
Ernten auf altem Friedhof
Hanna Burckhardt schätzt, dass nur noch rund 100 der noch verbliebenen 500 Gräber im vorderen Bereich des siebeneinhalb Hektar großen Geländes besucht werden. Weil sich seit Jahren schon immer mehr Menschen einäschern lassen, ist auf Friedhöfen mehr Platz frei. Das ist nicht nur in Berlin so, sondern bundesweit.
Da Friedhöfe allerdings nicht als Bauland geeignet sind, müssen sie als Grünflächen weiter bewirtschaftet werden. Das lohnt sich für die Friedhofsverbände aber nur, wenn dafür bezahlt wird. Je weniger Platz für Verstorbene gebraucht wird, desto weniger Einnahmen generieren sie. Im Fall des Neuen St. Jacobi Friedhofs suchte der Evangelische Friedhofsverband Berlin Stadtmitte (EVFBS) nach einer alternativen Nutzung für diese sogenannten Überhangflächen. Und fand den Prinzessinnengarten. Die Geschichte des Namens ist weniger romantisch als pragmatisch: „Das Gelände am ursprünglichen Gründungsort in Kreuzberg war umgeben von der Prinzen- und der Prinzessinnenstraße. Die Gründer Robert Shaw und Marco Clausen entschieden sich einfach für Letztere“, erzählt Hanna Burckhardt.
2009 entstand schließlich die Idee zu dem Projekt am Berliner Moritzplatz. Mit einem mobilen Garten wollten die beiden Gründer Shaw und Clausen hier zeigen, dass Pflanzen nicht nur im Boden, sondern auch in recycelten PET-Flaschen und alten Plastikboxen wachsen.
Dieses Urprungsprojekt gibt es immer noch. Während Marco Clausen die Organisation 2018 verlassen hat, ist Robert Shaw weiter beim Prinzessinnengarten aktiv und kümmert sich um sein Herzensprojekt, den Gemüseacker. Er ist auch Teil der sechsköpfigen Geschäftsführung der GbR Nomadisch Grün, die vor gut vier Jahren mit der Planung am alten Friedhof begann. Gepflanzt und geerntet wird seit 2019. Schilder aus Holz leiten zur Umweltbildungsfläche, dem Experimentiergarten oder einer Wildblumenwiese. Was vom einstigen Friedhof geblieben ist, sind die Öffnungszeiten. Das Gelände schließt immer noch pünktlich um 20 Uhr.
Werkzeuge für die Zukunft
„Als wir hierher kamen, dachten die Leute wirklich, dass wir Tomaten direkt auf den Gräbern pflanzen wollen“, sagt Burckhardt und lacht. Der Friedhof befindet sich im ersten Drittel des Geländes. Genutzt werden nur die freien Flächen im hinteren Bereich, die keine Grabflächen mehr sind. „Für uns ist es selbstverständlich, dass wir Abstand zu den Gräbern halten. Ballspielen oder Picknick sind dort nicht erlaubt. Dafür übernehmen wir die Verantwortung.“
Anfangs hätten nicht alle das Projekt befürwortet. Das hätte am falschen Eindruck gelegen, meint Burckhardt. Viele hätten befürchtet, dass es zu laut werden könnte. „Der Lärmpegel ist nicht höher als vorher, schließlich grenzen an die Umweltbildungswiese eine Kita und ein Kindergarten. Bevor wir hierher kamen, war der Friedhof verwildert, wurde zu wenig gepflegt. Jetzt freuen sich die Menschen, dass wir täglich ansprechbar sind, die Mülleimer leeren und auch den Rasen mähen“, sagt sie.
Hinter der Umweltbildungswiese geben Sträucher und Bäume die Sicht einen alten Bauwagen frei, von dessen Holz sich das Pastellgrün stellenweise löst. Würde Peter Lustig noch leben, wäre das der perfekte Drehort für die Sendung Löwenzahn gewesen. Einmal in der Woche von März bis Oktober findet dort der Umweltbildungstag für Kinder statt.
Im Kompost buddeln, Kräuterstecklinge ziehen, ernten, säen und pflanzen, Bienenhotels bauen oder Naturwebrahmen basteln – die Liste der Aktivitäten ist lang. Lokale Einrichtungen wie die Kita und die angrenzende Tagesklinik pflegen hier eigene Beete. „Die Wiese dient als Modell für einen klimaangepassten Schulgarten. Den wollen wir noch in diesem Jahr an sechs Schulen aufbauen“, sagt Hanna Burckhardt.
Während des Corona-Lockdown war der Prinzessinnengarten ein prominenter Zufluchtsort unter freiem Himmel, das erlangte Wissen ein schöner Nebeneffekt. „Immer noch kommen 70 bis 90 Prozent der Besuchenden aus der direkten Nachbarschaft“, schätzt Hanna Burckhardt. Insgesamt sind es 150 bis 200 Menschen, die täglich aufs Gelände kommen. Ein Grund ist auch das Café direkt am Eingang. Dort wird in Mittagsgerichten ein Teil der Ernte verarbeitet.
Auch Restaurants aus der nahen Umgebung nehmen dem Verein hin und wieder Obst und Gemüse ab. Das helfe bei der Finanzierung des Gartens. Der Prinzessinnengarten wirkt auch über die Friedhofsmauern hinaus: „In den letzten Jahren hat unser Gartenbauteam über 140 große und kleine Nutzgärten für Kindergärten, Schulen und andere Einrichtungen angelegt“, sagt Burckhardt. „Diese Gärten werden durch Bildungsprogramme und Workshops begleitet.“
Dass das Kollektiv mittlerweile nicht nur in Kästen, sondern – außerhalb ehemaliger Gräber – im Boden anbauen darf, empfindet Hanna Burckhardt auch als eine langfristige Zusage. Wenn die Nutzungsrechte der Gräber 2035 auslaufen, werden hier an der viel zu lauten und vollen Hermannstraße hoffentlich weiterhin Visionen blühen und Freundschaften Wurzeln treiben. In Ruhe und Frieden, hinter den Friedhofstoren. Ein grünes Leben nach dem Tod.
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