Lebenswelt Niqab — Selina Pfrüner

Über vollverschleierte Frauen wird gestritten – aber nur selten mit ihnen. Fotokünstlerin Selina Pfrüner hat sich auf die Suche nach ihnen gemacht und fünf Jahre lang recherchiert. In Köln eröffnet sie nun eine Ausstellung.
12. Juni 2019
8 Minuten Lesezeit
Text: Tom Waurig — Fotos: Marina Rosa Weigl

Der erste Kontakt entstand eher zufällig, denn in die muslimische Community fehlte Selina Pfrüner der Draht. Auch im Freundeskreis fand sich niemand, der ihr eine befriedigende Antwort auf all die drängenden Fragen geben konnte. Bei einem Shooting schließlich lernte die Fotokünstlerin eine junge Muslima kennen. Ihr hat Pfrüner von dem Wunsch erzählt, mehr erfahren zu wollen über die vollverschleierten Frauen im Land – mehr, als es die vielen, unpersönlichen Berichte dokumentieren.

Sie habe „das Bedürfnis gespürt, in eine Welt eintauchen zu wollen, die vielen verborgen bleibt und deshalb fremd erscheint“, erinnert sie sich. Pfrüners neue Bekannte war gewillt, ihr zu helfen. Sie nahm die Wahl-Kölnerin mit zum Beten in die Moschee oder zum Fastenbrechen nach dem Ramadan.

Die Fotografin wurde zur stillen Beobachterin oder nahm, wie sie erzählt, auch selbst aktiv an den religiösen Ritualen teil. „Ich bekam über Jahre die Möglichkeit, mit ganz verschiedenen Menschen zu sprechen, um mir ein umfassendes Bild von ihrem Glauben machen zu können.“

Fotografin Selina Pfrüner wagt sich an das Thema Vollverschleierung.
Fotografin Selina Pfrüner wagt sich an das Thema Vollverschleierung.

Über Umwege ergab sich später der Kontakt zu einer „Munaqabba“ – so der arabische Ausdruck für eine Frau mit Gesichtsschleier. Frauen in Burka gibt es entgegen der öffentlichen Debatte nicht in Deutschland. Die hellblauen Ganzkörperschleier mit einem feinmaschigen Stoffgitter vor den Augen werden so nur in Afghanistan und Teilen Pakistans getragen. Nichtsdestotrotz steht der Begriff Burka weiter als Synonym für die Vollverschleierung.

Pfrüner wollte herausfinden, warum sich so viele von diesem Thema berührt fühlen. Und die Fotografin erfuhr gleich zu Beginn ihrer Recherchen, wie groß ihre eigenen Barrieren sind, auf verschleierte Muslimas zuzugehen, „weil ein Gesichtsschleier nicht nur eine starke soziale Barriere darstellt, sondern auch reichlich Gedanken im Kopf auslöst, was die Frauen wohl damit ausdrücken wollen“.

Pfrüner wollte weg von abstrakten Verbotsdiskussionen, hin zu einer ernsten, aber auch sensiblen Auseinandersetzung anhand persönlicher Geschichten. Und so entstand aus ihrem persönlichen Dialog der Inhalt für eine multimediale Ausstellung.

Unverständnis und Empörung

Die Fotografin war irritiert über die emotionalen Debatten um die Vollverschleierung muslimischer Frauen und wollte mehr über die Hintergründe erfahren – anfangs noch ohne die Idee für die Umsetzung, sondern vor allem aus persönlichem Interesse. „Oft sind es weiße Männer, die sich dazu äußern. Es wird aber gar nicht mit den Frauen gesprochen, sondern meistens nur über sie.“

Die Wahl-Kölnerin war irritiert über die emotional geführten Debatten.
Die Wahl-Kölnerin war irritiert über die emotional geführten Debatten.

Und wenn es doch jemand tut, ist der Aufschrei groß – so geschehen im November 2016. In ihrer Sonntagabend-Talkshow stellte ARD-Journalistin Anne Will die Frage „Mein Leben für Allah – Warum radikalisieren sich immer mehr junge Menschen?“. In ihrer Fünferrunde saß neben Ex-CDU-Innenpolitiker Wolfgang Bosbach und Ahmad Mansour auch die Schweizerin Nora Illi. Mit 18 konvertierte sie zum Islam und trägt seitdem einen Niqab – einen Gesichtsschleier. Kopf und Körper sind mit schwarzen Gewändern und Tüchern verhüllt, nur ihre Augen sind durch einen schmalen Schlitz zu sehen. Illi gehört außerdem zu einem Verein, der eine „radikalislamische bis hin zu islamistische Ausrichtung“ habe, erklärte Anne Will in der Sendung.

Allen voran Illis Auftritt wurde scharf kritisiert. Die frühere Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Gerda Hasselfeldt, nannte ihn „befremdlich und irritierend“. Die Vollverschleierung passe nicht zu unseren gesellschaftlichen Werten, erklärte sie weiter. Schon 2012 trat Nora Illi in der TV-Diskussionsrunde von Sandra Maischberger auf und löste auch damals großes Unverständnis beim Publikum aus.

Für die neuerliche Empörung aber sorgte nicht unbedingt nur der Gesichtsschleier, sondern Illis Verständnis für junge Menschen, die nach Syrien in den Dschihad ziehen. ARD-Moderatorin Anne Will hielt die Einladung der Schweizerin auch im Nachhinein für vertretbar. „Wenn wir uns gar nicht mehr anschauen, wie die radikalisierten Kräfte in unserer Gesellschaft denken, berauben wir uns in einer demokratischen Gesellschaft eines wesentlichen Mittels“, sagte sie in einem Interview mit der Zeitung Die Zeit.

Genaue Zahlen über vollverschleierte Frauen in Deutschland sind im Übrigen nicht bekannt – Schätzungen gehen weit auseinander, die meisten sprechen von 300.

Hohe Hürden für ein Verbot

Während der Islam an sich schon bei vielen Deutschen auf Ablehnung trifft, gelten Kopftuch oder Verschleierung als Inbegriff der Unfreiheit. Auch deshalb befasste sich die CDU vor Jahren schon mit einem Verschleierungsverbot.

Der einstige Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) aber hielt einen solchen Vorstoß für wenig erfolgversprechend. Tatsächlich garantiert das Grundgesetz die freie Religionsausübung – für Einschränkungen gelten sehr hohe Hürden.

Bereits 2012 befasste sich auch der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages mit einem möglichen Verbot. In dem Gutachten hieß es damals: „Ein generelles Verbot der Burka im öffentlichen Raum verstößt gegen das Neutralitätsgebot des Grundgesetzes und lässt sich verfassungsrechtlich nicht rechtfertigen.“ Auch Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor hält ein mögliches Verbot für unverhältnismäßig und die Debatte für gefährlich. „Themen wie das Burkaverbot werden häufig dann diskutiert, wenn es kurz zuvor ein Problem mit Islamismus oder Terrorismus gegeben hat“, erklärte sie.

In Frankreich hingegen wurde der Gesichtsschleier 2011 verboten und demzufolge komplett aus dem öffentlichen Leben verbannt. Frauen mit Gesichtsschleiern würden sich von der Außenwelt abschotten, lautete das Argument. Und sie würden gesellschaftlicher „Interaktion“ aus dem Weg gehen. Bestätigt wurde der Vorstoß Frankreichs schließlich sogar vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Auch die Universität Kiel hat Anfang des Jahres ein solches Verbot erlassen. In Lehrveranstaltungen und bei Prüfungen ist es seitdem untersagt, einen Niqab zu tragen.

In der Richtlinie des Kieler Hochschulpräsidiums heißt es, das Gremium habe dafür Sorge zu tragen, dass „die Mindestvoraussetzungen für die zur Erfüllung universitärer Aufgaben erforderliche Kommunikation in Forschung, Lehre und Verwaltung sichergestellt sind“. Dazu gehöre die offene Kommunikation, welche nicht nur auf dem gesprochenen Wort, sondern auch auf Mimik und Gestik beruhe. Auf dem Campus sei das Tragen hingegen weiter erlaubt, so die Universität.

Zwischen Symbol und Schutz

An den Fragen um Kopftuch und Verschleierung entbrennen immer wieder heftige Diskussionen um die Gleichberechtigung von Frau und Mann im Islam. Kritische Stimmen halten den Schleier für ein Zeichen von Rückwärtsgewandtheit, Zwang und Unterdrückung. Andere erklären ihn zur freien, selbstbestimmten Entscheidung oder sie argumentieren theologisch.

Im Koran jedenfalls heißt es: „Sag den gläubigen Frauen, sie sollen darauf achten, dass ihre Scham bedeckt ist.“ So schreibt es die Islamwissenschaftlerin Rotraud Wielandt in einem Aufsatz für die Junge Islam Konferenz. Das Kopftuch oder die Verschleierung erfülle, sagen andere, zwei Aufgaben – erstens eine Schutzfunktion und zweitens ein Erkennungsmerkmal. Doch viele sind sich einig, dass gerade die Vollverschleierung kein islamisches Gebot ist. Weder stehe eine solche Aufforderung im Koran, noch sei es von der klassischen islamischen Theologie gewollt, dass sich die Frauen ihr Gesicht verschleierten. Das machten gläubige Muslima, weil sie meinten, dass das zu ihrem Islamverständnis dazugehöre.

Hierzulande bekannter ist ohnehin der sogenannte Hidschab. Dabei werden je nach Land und Auslegung Haare und Hals komplett bedeckt oder er wird als dünner Schal leger um den Kopf getragen. Im Iran ist er den Frauen in der Öffentlichkeit vorgeschrieben. Während die Frauen in Deutschland ihren Schleier also aus freien Stücken an- und auch ablegen können, ist dieser in fundamentalistischen Staaten für Frauen Gesetz oder zumindest soziale Pflicht. Die Motive der Trägerinnen sind also weltweit durchaus individuell.

Kritische Stimmen halten den Schleier für ein Zeichen der Unfreiheit.
Kritische Stimmen halten den Schleier für ein Zeichen der Unfreiheit.

Vor den ersten Gesprächen las sich Pfrüner deshalb monatelang in die Welt der muslimischen Werte und Traditionen ein. Sie wollte möglichst viel Neues kennenlernen und auf all das vorbereitet sein, was da kommen sollte. Sie besuchte Vorträge und nahm an Weiterbildungen teil. Auch Moscheen hat sie besucht und wäre fast rausgeworfen worden, weil die Gläubigen Sorge hatten, Pfrüner wolle negativ über sie berichten. Die Erfahrungen mit Diskriminierung seien sehr groß, bemerkt die Fotografin.

Lebensgroße Video-Portraits

Mit dem ersten Kontakt sei es aber deutlich schneller gegangen. Viele Frauen seien in Telegram-Gruppen organisiert. Dort hätten sie sich ausgetauscht. Und so kamen zu einem Interview-Termin nicht nur eine Frau, sondern gleich sechs. Bei türkischem Essen haben sie sich unterhalten, erinnert sich Pfrüner. „Das war sicher ein lustiges Bild“, ergänzt sie, „sechs verschleierte Frauen um mich herum.“ Andere hätten von ihrem Projekt über Instagram erfahren, sagt die Fotografin. Und sie habe auch Frauen auf der Straße befragt, obwohl sie dazu bemerkt: „Es war für mich eine große Hürde jemanden anzusprechen, dessen Gesicht ich nicht sehen kann.“

Selina Pfrüner zeigt lebensgroße, auf Stoffe projizierte Video-Portraits.
Selina Pfrüner zeigt lebensgroße, auf Stoffe projizierte Video-Portraits.

Auch für sie persönlich war es die „Konfrontation mit Ängsten und Irritationen, die das Unbekannte in uns auslösen können“. Mit 20 vollverschleierten Frauen hatte sie in den letzten fünf Jahren Kontakt – und gut die Hälfte war letztendlich dazu bereit, sich von ihr fotografieren oder auch filmen zu lassen. „Ich war nach den Gesprächen immer total erschöpft. Es war wie ein Muskeltraining für mein Gehirn“, fasst sie zusammen. 

Nach arbeitsreichen Jahren eröffnet Pfrüner Ende Juni eine multimediale Ausstellung in Köln. Im Atelierzentrum Ehrenfeld werden ihre Installationen zu sehen sein – lebensgroße, auf Stoffe projizierte Video-Portraits beispielsweise, Audio-Beiträge und Fotografien der Kleidung, die die Frauen unter ihren Schleiern tragen.

Eine Fotografie der Kleidung, die Frauen unter ihren Schleiern tragen.
Eine Fotografie der Kleidung, die Frauen unter ihren Schleiern tragen.

Auch ein Rahmenprogramm wird es geben, mit Podiumsdiskussionen, Vorträgen oder Begegnungen mit den fotografierten Munaqabbis. Ihren Gästen will Pfrüner außerdem noch die Möglichkeit geben, selbst einen Schleier anzuprobieren, sagt sie. Denn nicht die Bilder sollen im Vordergrund stehen, sondern die Begegnung zwischen Menschen. Hilfe bekommt Pfrüner bei all dem von Kuratorin Janine Koppelmann. Und auch ihr Fotoassistent musste zuletzt mit anpacken.

Pfrüner hofft darauf, dass es keine Einmalaktion bleibt, zu intensiv sei die jahrelange Recherche gewesen. Die Fotografin will mit ihrer Ausstellung auf Reisen gehen, ihre Installationen in verschiedenen Städten zeigen, möglichst viele an ihren intimen Einblicken teilhaben lassen. 

Über den Umgang mit Kritik

Auf Gegenwind sei sie vorbereitet, sagt sie, doch wie genau die Kritik aussehen wird, wisse sie nicht. Sie kenne aber natürlich genauso die andere Seite der Argumentation – von jenen, die Kirche und Staat strikt getrennt wissen wollen oder feministische Sichtweisen, die gegen das islamische Patriarchat aufbegehren. So erreichte Pfrüner ein Brief einer iranischen Frauenorganisation, deren Mitglieder gegen die strengen Kleidervorschriften in ihrem Land protestieren und sich ohne Kopftuch zeigen.

Es gebe sicher Frauen, so Pfrüner, die gezwungen werden, sich zu verschleiern, „ich habe nur keine kennengelernt“. Doch an ein Gespräch könne sie sich noch gut erinnern. Dabei ging es um die Vielehe, die muslimischen Männern erlaubt ist. Mit dieser Situation umzugehen, verstehe die Muslima als religiöse Prüfung. „Für mich war es eine Herausforderung, sie immer ausreden zu lassen – auszuhalten, wenn sie von einer ganz anderen Lebenseinstellung sprach. Ich habe dann versucht zu verstehen, was mir so fremd ist und warum es mich berührt.“

Ihre Bilder sollen die Gelegenheit bieten, über Vorurteile zu sprechen.
Ihre Bilder sollen die Gelegenheit bieten, über Vorurteile zu sprechen.

Pfrüner will deshalb weder für die Vollverschleierung werben, sie aber genauso wenig verteufeln. „Wenn ich was nicht verstehe, dann sollte ich mich aber zumindest damit auseinandersetzen und zuhören.“ Pfrüner hofft auf viele Aha-Momente: „Die Frauen sind es gewohnt aufzufallen, so wie ein Punk mit bunten Haaren. Aber es kommt darauf an, wie wir sie wahrnehmen – ob als Mensch oder doch nur als dunkle Gestalt. Sie wollen eigentlich nur eines: mehr Akzeptanz.“

Und so wäre es ein Gewinn, wenn auch die kritischen Stimmen in die Ausstellung kommen würden, an Diskussionen teilnehmen und es so die Gelegenheit gebe, sich mit Vorurteilen auseinanderzusetzen. „Es reicht nicht, nur um Verständnis oder Vielfalt zu werben. Doch was ich kenne, kann ich nicht so schnell ablehnen. Und wir müssen uns damit beschäftigen und verstehen, wie wir mit anderen umgehen. Ich sage aus diesem Grund immer: Kommt mir euren Gefühlen hierher und sagt, wenn ihr etwas nicht versteht oder irgendwas blöd findet. Aber lasst uns zumindest miteinander sprechen.“

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