Text: Charlotte Herrmann — Fotos: Thomas Pirot
Bella wiegt gerade einmal zweieinhalb Kilo. Wie alt sie ist, weiß niemand genau. „Der Tierarzt schätzt zwischen fünf und 15 Jahren.“ Die abgemagerte Perserkatze steht im Flur von Martina Schmidts Wohnung. Sie schnuppert neugierig. Trotz ihres Zustands ist sie recht aufgeweckt. Als Bellas einstige Halterin verstarb, kam sie zu Martina Schmidt. Nur noch Haut und Knochen sei sie gewesen, mit verfilztem Fell und voller Parasiten, erzählt die Tierschützerin.
Katzen wie Bella bekommen bei Schmidt eine neue Chance. Pflegefälle, die vernachlässigt und misshandelt wurden, die krank oder unterernährt sind, päppelt sie solange auf, bis sie wieder in ein neues Zuhause vermittelt werden können. „Dass ich nicht selbst 20 Katzen habe, ist ein Wunder“, lacht Schmidt. Eigentlich arbeitet Schmidt in Vollzeit als Finanzberaterin. Die übrigen Stunden steckt sie in den Einsatz für Streunerkatzen – bis zu 60 in der Woche. „Ich bin ständig auf Achse. Tierschutz verträgt keine langen Pausen.“
Seit 20 Jahren bereits setzt sich Schmidt für Katzen in Not ein. Seit der Gründung des Vereins „Katzenhilfe Katzenherzen“ 2007 haben sie und ihr Team knapp 3 000 Katzen – hauptsächlich aus Spanien – vermittelt und weit über 300 Tiere kastriert. Und das, obwohl Martina Schmidt lange keine Katzen mochte. „Sie gehen immer zu den Leuten, die Katzen nicht leiden können. Mein damaliger Freund hatte einen Kater, der meine Abneigung gespürt hat und ständig auf meinem Schoß sitzen wollte. Irgendwann haben wir uns angefreundet. Ehe ich mich versah, war ich eine Katzen-Tante.“ Heute verbringt sie keinen Tag ohne ihre felligen Schützlinge.
Im hessischen Hochheim am Main betreut Martina Schmidt außerdem seit sechs Jahren ein regionales Streunerprojekt: die „Wilden 13“. Es sind allerdings keine Wildkatzen, sondern die Nachkommen von domestizierten Hauskatzen, um die sich niemand mehr gekümmert hat – und die auch nicht kastriert wurden. Die Tiere wurden zurückgelassen oder ausgesetzt. Mit Schmidts Hilfe haben sie nun ein Dach über dem Kopf und werden regelmäßig versorgt.
Wie gewohnt beginnt ihre abendliche Routinefahrt gegen 18 Uhr. Schmidt belädt ihr Auto: mit Bergen von Nass- und Trockenfutter, frischem Wasser in Kanistern, Leckerlis. Fast jeden Abend fährt sie mehrere Futterstellen ab. Diese Aufgabe teile sie sich mit zwei anderen Helferinnen. Zeit für Privates bleibe zwischen Füttern, Fangen und medizinischer Versorgung aber kaum.
Ein ignoriertes Problem
Während Streunerkatzen in Spanien oder Griechenland selbstverständlich zum Straßenbild gehören, haben sie in der öffentlichen Wahrnehmung in Deutschland kaum einen Platz. Ein Grund: Katzen halten sich vor allem an verlassenen Orten oder verwilderten Grundstücken auf und meiden den Kontakt zu Menschen. Obwohl es schätzungsweise zwei Millionen streunende Katzen in Deutschland gibt, bleiben sie unsichtbar – und damit auch ihr Leid.
Laut einem Bericht des Deutschen Tierschutzbunds sind 99 Prozent der Straßenkatzen krank. Sie haben Parasiten oder Infektionskrankheiten, sind unterernährt. Viele werden deshalb nur wenige Monate alt. Weibliche Katzen können außerdem schon mit sechs Monaten Nachwuchs bekommen, was dazu führt, dass sie sich trotz Krankheiten oft unkontrolliert vermehren. Ein Katzenpaar kann durchschnittlich zweimal im Jahr Junge zur Welt bringen. Nach Angaben der Tierschutzorganisation Peta ergibt das nach fünf Jahren rein rechnerisch 11 801 Tiere. Umso dringlicher stellt sich also die Frage: Wer kümmert sich um die nötigen Kastrationen?
Es sind regionale Projekte wie das von Martina Schmidt. Doch oft habe sie das Gefühl, gegen die Zeit anzulaufen: „Wir haben Tausend Pflichten, aber genauso keinerlei Befugnisse für gar nichts.“ Manchmal würden sich Menschen bei ihr melden, um auf eine misshandelte Katze aufmerksam zu machen. „Wie soll ich da helfen? Ich bin ja nicht mal befugt, in die Wohnung einzudringen und das Tier rauszuholen. Wenn ich beim Ordnungsamt und der Polizei anrufe, müssen erstmal die Zuständigkeiten geklärt werden.“
„Tierschutz“, meint Schmidt, „hat in Deutschland keinen großen Stellenwert. Klar, wir haben teilweise gute Tierschutzgesetze, die müssen aber auch durchgezogen werden. Das meiste wird einfach aufs Ehrenamt abgewälzt und wir werden dadurch aber wieder ausgebremst.“
Schmidt spricht erregt über diese „Systemfehler“. Parallel lenkt sie ihr Auto an den Rand einer holprigen Straße. Zwischen Quitten- und Walnussbäumen liegt das Quartier der „Wilden 13“. In einer selbstgebauten Holzhütte lebt knapp ein Dutzend Streunerkatzen aus den umliegenden Gärten der Nachbarschaft. 13 sind es heute nicht mehr – zwei sind verstorben. Hier sollen die Tiere möglichst lange eine schöne Zeit haben und zur Ruhe kommen: so wie Oscar. Der grau-weiße Kater mit nachdenklichem Blick hat wegen einer Krebserkrankung keine Ohrmuscheln mehr. Schmidt versorgt ihn mit Cortisol. Ob der Krebs bereits gestreut hat, weiß sie nicht.
Gesetzliche Leerstellen
Martina Schmidt ist sich im Klaren darüber, dass sie nicht alle retten kann. Deshalb versucht sie, wenig Bindung aufzubauen. „Die Entscheidung, eine Katze einzuschläfern, zerreißt dich. Leider muss ich diese aber oft treffen. Normalerweise versuche ich, die Gefühle beiseite zu schieben. Wenn alle anderen aufgelöst sind, muss ich das Grab buddeln.“
Inzwischen hat sich das Domizil im Grünen zu einer kleinen Rettungsstation für verschiedene tierische Notfälle entwickelt – gerettete Hühner aus Legebatterien, Schafe, Ziegen und Pferde, die vor der Schlachtung bewahrt wurden. Und auch Clara, eine ehemalige Ausstellungshäsin aus schlechter Haltung hat Schnupfen. Sanft und leise sprüht Dampf aus ihrem Inhaliergerät.
Tierschutz ist für Schmidt Herzenssache. Bei jedem Tier schieße ihr nur eine Frage in den Kopf: „Wie kann ich es retten?“ Seit mehr als 20 Jahren habe sie daher kein Fleisch mehr gegessen. „Ich finde diese Versklavung so schlimm. In meinen Augen ist das ein Armutszeugnis für die Menschheit.“ Die Moral fehle auch beim Umgang mit den unzähligen Straßenkatzen, bemerkt Schmidt. Sie spricht von gesellschaftlichem und politischem Versagen. „Die Tiere kommen ja nicht aus dem Nichts, die stammen alle von unkastrierten Hauskatzen ab.“
Teil des Problems sei auch eine fehlende einheitliche und verbindliche Kastrationspflicht für Hauskatzen, erklärt Schmidt. Entsprechende Regelungen zu schaffen, ist Ländersache, werde aber oft den Kommunen überlassen. So könne jede Gemeinde selbst entscheiden, eine Pflicht zur Kastration von freilaufenden Katzen einzuführen und umzusetzen – oder eben nicht. Laut Deutschem Tierschutzbund gibt es diese aber nur in über 1 000 Gemeinden und Städten.
Auch fehlt es an einer Regulierung für Privathaushalte. Bislang wird nicht überprüft und auch nicht geregelt, inwiefern Katzen individuell gepaart werden dürfen, um mit dem Verkauf der Jungtiere Geld zu verdienen. Wenn diese nicht vermittelt werden, sind es häufig genau diese Babys, die dann auf der Straße landen würden, weiß Schmidt. Um die Straßenkatzenpopulation nachhaltig zu reduzieren, bräuchte es deshalb entsprechende Gesetze.
Kastrationen als Lösung
Bei einer Kastration werden die sexualhormonproduzierenden Organe – also die Hoden oder Eierstöcke – entfernt. Bei einer Sterilisation werden die Ei- oder Samenleiter abgebunden und durchtrennt. Die Produktion der Sexualhormone und auch der Sexualtrieb bleiben bestehen. Und obwohl die Kastration den „endgültigeren“ Eingriff darstellt und vor allem bei Haustieren angewandt wird, können Schmidt und ihr Team oft nur eine Sterilisation durchführen lassen.
Zum einen, weil der Aufwand sehr viel kleiner ist und weniger Stress für die Katzen bedeutet. Zum anderen, weil es auch eine Frage der Versorgung ist. „Für Streuner, die ihr ganzes Leben auf der Straße verbracht haben, ist es schwer möglich, gute Nachsorge zu leisten“, beschreibt Martina Schmidt. Die Eingriffe finanziert der Verein ausschließlich über Spenden. „Bei zwei Kastrationen für zwei Katzen können die Kosten am Ende 600 Euro betragen.“
Auf Instagram und Facebook macht Schmidt regelmäßig Werbung für ihre Streuner und klärt über deren Situation auf. So sei ein Netzwerk unterstützender Menschen gewachsen, das zum Beispiel Patenschaften für unvermittelbare Katzen oder auch die Kosten für die medizinische Versorgung trägt. Trotz allem bleibe der Bedarf aber riesig und die Liste der zu kastrierenden Straßenkatzen werde immer länger. All das erfordere Kraft und Mühe, aber auch Geld, Zeit und Menschen, die aktiv helfen. Für Tierschutzinitiativen würde eine bundesweit einheitliche Kastrationspflicht daher vor allem Entlastung und Entgegenkommen bedeuten.
In Schmidts Wohnort Hochheim (Hessen) sind sie dagegen schon deutlich weiter. Hier wurde 2022 nach langem Ringen die sogenannte Katzenschutzverordnung eingeführt. Gegenteilige Stimmen, die einen vermeintlich enormen Verwaltungsaufwand und hohe finanzielle Kosten bemängelten, konnten sich nicht durchsetzen. Seitdem gilt: Nur kastrierte und gechippte Katzen, die einem Haushalt zugeordnet werden können, dürfen in den Freigang.
Geregelt ist auch: Wer füttert, dem gehört die Katze. So werden die Menschen in die Pflicht genommen – und bei Zuwiderhandlung drohen Strafgelder. Das sei ein Schritt in die richtige Richtung, sagt Schmidt: „Wenn ich mal weggehe, bleibt die Katzenschutzverordnung.“
Schockierendes Ereignis
Dass sie und ihre Tiere „weggehen“, das haben Menschen schon einmal versucht zu forcieren, deutet Schmidt an. Knapp drei Jahre ist es nun her, als die Situation völlig eskalierte. Mitten in der Nacht bekommt Schmidt einen Anruf: „Das Katzenzelt steht in Flammen“. Kurz darauf rückt die Feuerwehr mit zwei großen Löschzügen an. „Wir konnten nur dastehen und mitansehen, wie alles abgebrannt ist“, erinnert sich Martina Schmidt.
Die Polizei nimmt die Ermittlungen auf, findet Grillanzünder und Brandbeschleuniger – alles deutet auf Brandstiftung hin. „Geht es gegen das Zelt, gegen die Katzen, gegen uns? Klar, es gibt viele Menschen, die Katzen hassen“, weiß Schmidt, „dass deshalb jemand eine Straftat begeht, ist unfassbar.“ Nach kurzer Zeit werden die Ermittlungen eingestellt. „War ja nur ein Sachschaden.“ Ein paar Igel, die Winterschlaf hielten, habe es erwischt. Die Katzen konnten sich retten. „Ich heule selten, aber da habe ich geheult – aus Wut. Vor lauter Konflikten und Gegenwind kommst du kaum zum eigentlichen Tierschutz.“ Schmidt dachte schließlich ans Aufhören, denn ihr Körper beginnt zu streiken. Diagnose: schwerer Hörsturz.
Während sie im Krankenhaus liegt, wenden sich Vereinskolleginnen an die Öffentlichkeit. Und es dauert nicht lange, bis die ersten Spenden eintreffen; Menschen aus England oder den USA überweisen Geld für den Wiederaufbau des Quartiers. Leute aus der Umgebung bringen Futter und Sachspenden vorbei. „Es war ein großes Glück, dass wir in den sozialen Netzwerken auf den Vorfall aufmerksam gemacht haben“, sagt Martina Schmidt. Trotzdem hängen inzwischen mehrere Kameras auf dem Gelände – zur Sicherheit.
Während die Sonne untergeht, schaltet die Tierschützerin mental in den Automatikmodus. Ein letzter Stopp in Hochheim. Dort sollen knapp 80 Katzen von einem nahgelegenen Bauernhof angefüttert, gefangen und schließlich kastriert werden. Dafür legt Martina Schmidt frisches Nassfutter in einer großen Lebendfalle aus. Dann heißt es: warten. Auf einer Kamera kann sie sehen, ob eine Katze angebissen hat. Im besten Fall kann sie gleich mehrere fangen und am nächsten Morgen und noch vor der Arbeit in die Tierpraxis bringen. Häufig ist sie nicht vor 22 Uhr zuhause. Manchmal arbeite sie auch die ganze Nacht durch. Die Kraft gehe ihr nicht aus.
Irgendwann einmal möchte Schmidt weg aus Hochheim. Dass sie die Katzen zurücklässt, ist schwer vorstellbar, sagt sie, solange es die „Wilden 13“ gibt. Deshalb wird sie vorerst weiter täglich ihre Runden fahren – und wie jeden Abend warten ihre Katzen dann schon auf sie.
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