Klassenkampf auf Rädern — Lieferando Workers Collective

Die Rider von Lieferdiensten wie Lieferando fahren für multinationale Unternehmen. Die Arbeit ist anonym und prekär. Doch die Arbeitskämpfe werden immer lauter. Wofür Merle vom Lieferando Workers Collective Berlin kämpft.
27. Oktober 2022
6 Minuten Lesezeit
Text: Olivier David — Fotos: Benjamin Jenak

Es gibt da dieses Video vom Lieferando Workers Collective Berlin aus dem April dieses Jahres. Darin brettern Mitarbeitende in den Lieferando-typischen orangefarbenen Jacken über Schweizer Skipisten, trinken Sekt, tanzen und feiern ausgelassen. 16 Millionen Euro hat der viertägige Trip für einen ausgewählten Teil der Belegschaft – all inclusive – gekostet. Zur gleichen Zeit riskieren die Rider des Branchenriesen JustEat Takeaway, zu dem Lieferando gehört, auf vereisten Straßen bei Minusgraden ihre Gesundheit. Die Doppelbödigkeit des Liefergeschäfts bildet sich an dieser gegensätzlichen Szene perfekt ab: Die Rider haben Millionen für das Unternehmen erwirtschaftet, doch eingeladen sind sie nicht.  

Wenn Merle von der Aktion erzählt, lacht sie böse. Sie kennt viele solcher Anekdoten. Seit über einem Dreivierteljahr fährt sie für Lieferando, trägt bei dem ersten Kennenlernen im Juli eine schwarze Kappe, Lippenpiercing und Brille. Gemeinsam mit sechs anderen Ridern sitzt sie vor einem Kiosk in der Berliner Hasenheide. Auf dem Tisch liegen Tabak, eine Kamera, Wasserflaschen. Und Flyer, die die anstehende Betriebsratswahl bewerben. Verständigt wird sich auf Englisch und Deutsch. Über Monate ist bei wöchentlichen Treffen das Engagement des Lieferando Workers Collective (LWC) gewachsen. Hier organisieren sie ihren Protest, treten ein für ihre Rechte als Arbeitnehmende. 

Betriebsrat unerwünscht

Nur wenige Tage nach diesem Treffen ist die Betriebsratswahl gelaufen. Merle stand auf Platz acht der Liste und hatte Erfolg. Im 17-köpfigen Betriebsrat ist sie eines von elf Mitgliedern, die das LWC stellt. Doch was sie zusammen mit anderen erreicht hat, gestaltet sich äußerst fragil. Einem Großteil des Betriebsrats versucht Lieferando aktuell außerordentlich und fristlos zu kündigen. Auch Merle ist betroffen. Ihre Kündigung erhielt sie wenige Tage nach der Wahl.

Sie nennt das „eine Sache, die sich einreiht in viele Dinge, die schon passiert sind. Es ist nicht normal, Betriebsratsmitgliedern zu kündigen – für die Mitbestimmung in einem Unternehmen ist das ein Riesenskandal.“ Doch trotz der scharfen Worte klingt sie nicht wirklich überrascht oder aufgebracht. Schlechte Arbeitsbedingungen, unfaire Methoden, Konzernmacht und Zwei-Klassen-Behandlung kennt die 26-jährige Geografiestudentin gut.

Davon erzählt zum Beispiel auch die Pool-Party im Hochsommer, die ebenso wie der Skitrip den Unmut der Rider auf sich zog. Wieder waren sie und Zeitarbeitende nicht willkommen. „Das macht schon extrem sauer, auch wenn es mich nicht verblüfft. Wir arbeiten bei über 30 Grad in der Hitze und die Leute, die in ihren klimatisierten Büros sitzen, wurden eingeladen.“ Drinnen die Menschen im Office mit gekühlten Drinks, draußen die Rider mit Plakaten und Sprechchören – es ist genau die Art von Trubel, die Lieferando am liebsten verhindern will.

Doch seit den Streiks, die Angestellte des Mitbewerbers Gorillas im Sommer 2021 angezettelt hatten, nachdem Ridern gekündigt worden war, ist eine ganze Branche in Bewegung. Und die Unternehmen beginnen damit, die Macht, das neue Selbstbewusstsein der Belegschaft ernst zu nehmen, und sie kämpfen mit Kündigungen und Klagen gegen die Aufbegehrenden an. 

Aufmerksamkeit im Netz

Drei Monate sind seit dem ersten Treffen im Sommer vergangen; Merle sieht geschafft aus und kommentiert ihren Gefühlszustand mit Blick auf die letzten Wochen knapp: „Erschöpfung, aber auch Bestätigung.“ Die außerordentlichen, fristlosen Kündigungen will die Lieferando-Leitung aktuell weiter vor Gericht durchkämpfen; gegen eine schon durchgesetzte Kündigung hat das Kollektiv wiederum rechtliche Schritte eingeleitet. Dinge, die Nerven kosten. 

„Es gibt nicht viele Gründe einem Betriebsratsmitglied zu kündigen“, erklärt Merle. Einer der wenigen sei der Arbeitszeitbetrug. „Das wirft uns Lieferando vor. Sie behaupten, wie hätten Stunden aufgeschrieben, die wir nicht geleistet haben. Oder, dass wir für unsere Arbeit zu lange gebraucht hätten.“ Dabei sei es die Leitungsebene gewesen, die zum Beispiel die Wahl des Betriebsrats immer wieder in die Länge gezogen hätte. „Weil sie uns Dokumente oder Informationen vorenthielten.“ Doch nicht nur die Kündigungen beschäftigen Merle.

Auch die gesamte Betriebsratswahl in Berlin wird von Lieferando derzeit angefochten. Das sei das übliche Vorgehen der Konzernleitung, meint Merle. Und sie rechnet damit, dass sich die Rechtsstreitigkeiten erst in Monaten klären. Was besonders anstrengend ist: Verfahren kosten Zeit, Kraft und Ressourcen, die an anderer Stelle fehlen – den eigentlichen Arbeitskampf, den sie parallel mit dem Betriebsrat weiter verfolgt. „Eine Taktik, uns zu beschäftigen“, meint sie.

Neben der unterschiedlichen Behandlung der Mitarbeitenden kritisiert das LWC auch immer wieder, dass auf Gesundheitsrisiken nicht reagiert werde. Am 19. Juli schreibt das Kollektiv dazu auf Twitter: „Heute 35°C, morgen 38°C. @Lieferando, wann wird der Betrieb eingestellt? Wir fahren 8 h Schichten in der prallen Sonne, zwischendurch Treppen hoch und runter rennen, die ganze Zeit im Stress durch Vorgesetzte, Bonussystem und die Angst, gekündigt zu werden. Das ist gefährlich!“ Die Resonanz: mehr als 16 000 Likes, fast 2 000 Retweets. 

Kritik an prekärer Arbeit

In den digitalen Echokammern finden die Klarheit und Transparenz der Rider ihre Bestätigung. Mit Blick auf den Herbst, bemerkt die junge Frau, kommen noch einmal ganz andere Risiken hinzu: Stürze auf regennassem Laub, undichte Regenkleidung – und irgendwann Minusgrade. „Januar und Februar sind die härtesten Monate, weil es da am kältesten ist. Die Lage wird sich noch einmal zuspitzen, weil alles teurer wird und auch der jetzt angehobene Mindestlohn in prekären Arbeitsbedingungen nicht reicht, um Kosten zu decken.“ Im Oktober 2022 ist der Mindestlohn auf zwölf Euro gestiegen – bisher erhielten die Rider elf Euro Stundenlohn, sowie Bonuszahlungen bei einer entsprechenden Anzahl von Lieferungen im Monat.

Je nach Perspektive sind es aber nicht nur die Arbeitsbedingungen, die gefährlich sind. Aus Sicht der Geschäftsführung ist es auch das Kollektiv, welches das Unternehmen unter Druck setzt. Oder besser gesagt: Gewinne bedroht. In einem Artikel der „Süddeutschen Zeitung“ von 2018 wird Lieferando wie folgt zitiert: „Ein Betriebsrat (…) entspricht grundsätzlich nicht unserer Kultur als junges, sowie modernes und offenes Unternehmen“. 

Die Geschäftsführung versuchte schließlich, diese Form der Selbstermächtigung vor dem Arbeitsgericht zu verhindern – und scheiterte. Ein zweiter Versuch, die Wahl für den Betriebsrat zu torpedieren, ging von Mitarbeitenden des Lieferando-Hubs aus. Gemeint sind damit die Lager, in denen die Rider mit Rucksäcken und Arbeitsmaterialien ausgestattet werden. Die Hub-Belegschaft wollte vor dem Arbeitsgericht erkämpfen, sich mittels einer einstweiligen Verfügung auf die Wahlliste setzen zu lassen. Wieder ohne Erfolg. 

„Bullshitjob und Ideale“

Für Merle ist das Engagement der vergangenen Monate, diese Form politischer Beteiligung nicht selbstverständlich. Über ihre eigene soziale Herkunft sagt sie nur so viel, dass politische Gespräche am Küchentisch nicht zu ihrem Aufwachsen gehörten. Auch nach Abschluss ihres Studiums sieht sie sich deshalb nicht zwangsläufig im akademischen Betrieb: „Ich arbeite lieber in einem Bullshitjob bei Lieferando“, sagt die Arbeitsrechtsaktivistin. „Der Job an sich ist egal, aber es ist nichts, für das ich meine Ideale aufgeben muss.“

Vielleicht ist damit auch die Frage beantwortet, die die Leute vom Kollektiv öfters zu hören bekommen – vor allem nach ihrem Twitter-Post zum Poolparty-Protest: „Wenn‘s so scheiße ist, warum sucht ihr euch nicht einfach einen anderen Job?“ Merle hat für sich selbst längst eine Antwort gefunden, reagiert darauf meist mit Sarkasmus: „Ich gehe mir einen besseren Job suchen und alle anderen bleiben in der schlechten Situation?“ Diese Einstellung sei für sie nicht nachvollziehbar. Anstatt den bequemsten Weg zu nehmen, will sie bleiben und kämpfen.

Nun kommt – neben den Rechtsstreits wegen den Kündigungen – jede Menge Arbeit auf die Betriebsräte, aber auch auf die Mitglieder des Lieferando Workers Collective zu. Basale Arbeit, die im Alltag der Rider aber den entscheidenden Unterschied macht. Obwohl es ein Urteil vom November 2021 gibt, das besagt, dass Lieferando Fahrräder und Handys stellen muss, sei knapp ein Jahr später nichts passiert, weiß Merle. Stattdessen gebe es „lächerliche Kompensationen“, also Abnutzungsgebühren für Handy und Fahrrad (oder Auto).

Auf Anfrage erklärt Lieferando dazu: „Seit April 2022 kompensieren wir allen Fahrenden die Nutzung eigener Handys durch eine zusätzliche Handypauschale. Die Nutzung eigener Fahrräder kompensieren wir bereits seit Jahren. Auch stehen in Berlin genügend gestellte Fahrräder bereit.“ Am Ende steht Aussage gegen Aussage: zu Lasten für die Beschäftigten.  

Ständiger Arbeitskampf

Merle musste eine Geltendmachung schreiben und ihr Arbeitshandy juristisch einfordern, um tatsächlich eins zu bekommen. Das sagt einiges über eine Firma, die so gerne ein modernes Bild abgeben würde. In der Realität jedoch kommt ohne Beschwerde und Widerspruch wenig Zählbares für die Rider heraus. Für Gesamtdeutschland immerhin gibt es schon länger das, was in Berlin erst vor Kurzem entstanden ist: einen Betriebsrat. Lieferando hingegen erklärt in seinem Statement, dass genau diese deutschlandweite Vertretung der Arbeitnehmenden einer besseren Ausrüstung der Rider im Weg stehen würde. 

Einen Betriebsrat zu haben, das weiß Merle, ist kein Selbstzweck. Daher bleibt für sie die Organisierung der Rider im Kollektiv ein wichtiges Werkzeug im Arbeitskampf. Für Merle ist das Engagement der Mitarbeitenden vor allem auch eins: ein Beweis, dass sich die Arbeit der vergangenen Monate ausgezahlt hat. „Die Rider haben ein Netzwerk geknüpft, das stabil ist. Wir bekommen viele Nachrichten von Menschen, die uns ihre Probleme im Betrieb schildern, denen wir den Rücken stärken können. Es ist ein gutes Gefühl, sich zusammenzuschließen, auch wenn es weiter viel Kraft kosten wird, sich gegen die Konzernleitung zu behaupten.“ Für warme Klamotten, Fahrräder, Handys und eine Begegnung auf Augenhöhe werden sie weiter kämpfen – selbst wenn sich Lieferando per Urteil zu manchem erst verpflichten muss.

Mit Veto geben wir dem Aktivismus im Land eine mediale Bühne. Warum? Weil es Zeit ist, all jene zu zeigen, die sich einmischen. Unser Selbstverständnis: Journalismus mit Haltung.

Weiterlesen

Ort der Zuflucht — Susan Al-Salihi

An der deutschen Bürokratie ist Susan Al-Salihi schon oft verzweifelt. Heute bringt sie andere Frauen mit Migrationsgeschichte zusammen, die voneinander lernen und sich gegenseitig zu stützen – in einem Land, das ihnen vieles abverlangt.

Nonspiration — Kolumne Luisa L’Audace

Was bedeutet es, mit geringen Kapazitäten sein Leben zu bestreiten und diese über den Tag hinweg einteilen zu müssen? Die Spoon Theory lehrt uns, dass jede Tätigkeit Energie kostet und schon gar nicht selbstverständlich ist.

Im Schatten — Caspar Tate

Prekäre Arbeitsbedingungen, Anfeindungen und Gewalt gehören für viele Sexarbeitende in Deutschland zum Alltag. Trans Personen sind davon besonders betroffen. Und Aussicht auf Veränderung gibt es kaum.

Schweine — Peter Kossen

Tausende aus Osteuropa schuften in deutschen Schlachthöfen unter teils ausbeuterischen Bedingungen. Pfarrer Peter Kossen setzt sich für ihre Rechte ein und prangert die Methoden der Fleischindustrie an.

Altern in Würde — Lydia Staltner

Über drei Millionen Menschen in Deutschland sind von Altersarmut betroffen, obwohl sie ihr Leben lang gearbeitet haben. Mit ihrem Verein bietet die Münchnerin Lydia Staltner Ausflüge, Essensgutscheine und Haushaltsgeräte an.

Journalismus mit Haltung

Mit Veto geben wir Aktivismus eine mediale Bühne und stellen all jene vor, die für Veränderung etwas riskieren. Veto ist die Stimme der unzähligen Engagierten im Land und macht sichtbar, was sie täglich leisten. Sie helfen überall dort, wo Menschen in Not sind, sie greifen ein, wenn andere ausgegrenzt werden und sie suchen nach Lösungen für gesellschaftliche Probleme.

Mediale Aufmerksamkeit aber bekommen ihre mutigen Ideen nur selten. Das muss sich ändern – und Aktivismus endlich raus aus der Nische! Die Aktiven brauchen vor eine starke Stimme und Wertschätzung für ihre Arbeit. Mit Veto machen wir Engagement sichtbar und zeigen denen, die finden, dass es nun höchste Zeit ist, sich einzumischen, wie es gehen kann. Unsere Botschaft an alle Gleichgesinnten da draußen: Ihr seid nicht allein!

Mit Print gescheitert?

Veto gab es bis Sommer 2022 auch als gedrucktes Magazin. Doch die extrem gestiegenen Preise für Papier, Druck und Vertrieb wurden für uns zur unternehmerischen Herausforderung. Gleichzeitig bekamen wir Nachrichten aus der Community, dass sich viele ein Abo nicht mehr leisten können. Wir waren also gezwungen, das gedruckte Magazin nach insgesamt zehn Ausgaben (vorerst) einzustellen.

Aber – und das ist entscheidend: Es ist keinesfalls das Ende von Veto, sondern der Beginn von etwas Neuem. Denn in Zeiten multipler Krisen wird Veto dringend gebraucht. Um Hoffnung zu geben, zu verbinden, zu empowern und zu motivieren. Deshalb machen wir alle Recherchen und Porträts kostenfrei zugänglich. Denn: Der Zugang zu Informationen über Aktivismus und Engagement darf keinesfalls davon abhängen, was am Ende des Monats übrig ist.

Transparenzhinweis

Veto wird anteilig gefördert von der Schöpflin Stiftung, dem GLS Treuhand e.V., dem Presse- und Informationsamt der Bundesregierung und der Bürgerstiftung Dresden. Bis 2022 war auch die ZEIT STIFTUNG BUCERIUS beteiligt. Der Aufbau der Webseite wurden realisiert durch eine Förderung der Amadeu Antonio Stiftung (2019) und des Förderfonds Demokratie (2020).

Du kannst uns mit einer Spende unterstützen: DE50 4306 0967 1305 6302 00 oder via PayPal.