Text: Anne Brockmann — Fotos: Johanna Lohr
„Gäbe es die ‚Kalte Schnauze‘ nicht, müsste ich mehr schnorren. Ganz einfach“, sagt Micha gerade heraus. „Ganz einfach“ heißt in seinem Fall genauso viel wie „Was sonst?“ Oder noch drastischer: „Eine andere Möglichkeit habe ich nicht.“ Ein Ausdruck der Alternativlosigkeit und „ganz einfach“ wäre in Wirklichkeit ziemlich hart. Denn mehr Schnorren bedeutet mehr Kälte, mehr Pöbeleien, mehr Angst, mehr Stress. Micha kennt das. Beinahe 20 Jahre lang hat er mit kleinen Unterbrechungen auf der Straße gelebt. „Platte gemacht“, wie er selbst sagt. Seit vier Monaten hat er wieder ein Dach über dem Kopf. Er ist in eine WG gezogen, zu befreundeten Menschen. Die haben ihn auch auf die „Kalte Schnauze“ aufmerksam gemacht.
Hinter dem Namen verbirgt sich ein Projekt des Stuttgarter Tierschutzvereins Küstenhund. Alle zwei Monate laden das Team um Lena Strohm Obdach- und Wohnungslose sowie andere Menschen mit schmalem Geldbeutel dazu ein, kostenlos Futter für ihre Hunde und Katzen abzuholen. Die „Kalte Schnauze“ ist gewissermaßen die Tafel für Vierbeiner. Micha und seine Mischlingshündin Frieda kommen inzwischen regelmäßig vorbei.
Bevor Lena Strohm 2016 mit dem Küstenhund ihren eigenen Tierschutzverein gründete, hat sie sich im Auslandstierschutz engagiert. Sie suchte in Deutschland Adoptions-Interessierte für Straßenhunde aus Mallorca, organisierte Transport sowie Vermittlung und begleitete die neuen Mensch-Hunde-Teams durch die erste gemeinsame Zeit. „Irgendwann war das nur noch frustrierend und nicht mehr wirklich erfüllend. Auf jeden vermittelten Hund kamen zwei neue, die Hilfe brauchten. Ohne Kastrationskampagnen fehlt dem Auslandstierschutz die Nachhaltigkeit“, so die 35-Jährige. Und auch in Deutschland gäbe es viele bedürftige Tiere.
Etwa zur selben Zeit bekam Lena Strohm mit, dass eine kostenlose Ausgabe von Tierfutter an Bedürftige eingestellt wurde. „Eine Privatperson, die das im Kleinen organisierte, schaffte es einfach nicht mehr und gab schließlich auf. Es war also eine ganz konkrete Lücke entstanden und die wollten wir füllen“, beschreibt Lena Strohm die Entstehung des Vereins.
Futter und Begegnung
Kommen dürfen alle, die zu wenig Geld haben, um ihre Tiere ausreichend zu versorgen. Ein Nachweis darüber ist erwünscht, aber nicht zwingend erforderlich. „Wenn uns jemand einen Studentenausweis, einen Rentenbescheid oder einen Bürgergeldbescheid vorlegen kann, ist das super. Aber wir möchten vor allem diejenigen erreichen, die nicht einmal das haben. Das sind meist wohnungs- oder obdachlose Menschen. Mit den Nachweisen handhaben wir es nicht allzu streng“, erklärt Strohm. Es werden aber nicht nur Tiere versorgt, sondern auch die Menschen. Bei den Verteilaktionen gibt es Kaffee, Kuchen und Brezeln für die Zweibeiner.
Die „Kalte Schnauze“ möchte allerdings mehr sein als eine reine Ausgabestelle für Futter und Accessoires. Der Verein will Begegnungsstätte sein für Menschen, die woanders kaum einen Platz haben. „Ich fühle mich hier willkommen“, erzählt Micha. Willkommen sein, das ist etwas, das Micha so nicht kennt. Er wuchs im Heim auf. Mit 18 ging er zurück zu seiner Mutter, die ihn wenig später rausschmiss. Micha landete auf der Straße. „Bei meiner Mutter bist du nur so lange willkommen, wie du etwas hast, das ihr nützlich ist – Geld, was zum Kiffen, irgendwas anderes“, fasst er zusammen. Micha hat nur noch sporadisch Kontakt zu ihr. Er knibbelt die dünne Folie von einem Schokoladenweihnachtsmann ab, während er erzählt. Auch die wurden bei der „Kalten Schnauze“ an alle Zweibeiner ausgegeben.
Mit dem Projekt pflegt Lena Strohm außerdem einen engen Kontakt zu unterschiedlichen Einrichtungen der psychosozialen Versorgung – zum Beispiel zu einer Suchtberatungsstelle, die spezialisiert ist auf Substitution. Oder zum Schlupfwinkel, einer Anlaufstelle für Kinder und Jugendliche, die auf der Straße leben. Und auch zu Lagaya, einem Verein, der Mädchen und Frauen auf ihrem Weg in ein suchtfreies Leben begleitet.
„Die Sozialarbeitenden staunen manchmal nicht schlecht, wenn wir ihnen erzählen, dass die Menschen, die sie betreuen, hier immer pünktlich sind und keinen Termin vergessen. Ihre Tiere sind den Menschen oft wichtiger als sie sich selbst. Deshalb funktioniert das hier auch“, mutmaßt Lena Strohm. Und deshalb unterstützt sie dieses fragile System überhaupt.
Es mag Zufall sein oder auch nicht – im Projekt engagieren sich überdurchschnittlich viele Menschen, die hauptamtlich einem sozialen Beruf nachgehen. Erzieherinnen wie Lena Strohm zum Beispiel. „Dadurch haben wir natürlich auch einen besonderen Blick auf die Menschen. Die Hunde sind für einige die letzten sozialen Wegbegleitenden, die ihnen geblieben sind und sie nehmen daher eine ganz wichtige und stabilisierende Rolle in deren Leben ein“, sagt sie.
Mehr als Ausgabestelle
Tier- und Menschenwohl miteinander in Einklang zu bringen, das ist manchmal ein schmaler Grat für Lena Strohm und ihr Team: „Es gibt vereinzelt Fälle, bei denen wir das Veterinäramt eingeschaltet haben.“ Jake und sein Frauchen waren so ein Fall. Jakes Halterin konnte sich eine Zeit lang nicht um ihren Hund kümmern. Sie musste notgedrungen an einen Ort, an den sie ihn nicht mitnehmen konnte. Sie hat das Team des Küstenhunds gebeten, ihrem Hund für diese Zeit eine Pflegestelle zu sein. „Das haben wir gemacht und als sie zurück war, konnte sie ihn auch wieder zu sich nehmen“, erinnert sich Lena Strohm. Fest im Gedächtnis geblieben ist ihr auch der Zustand, in dem sie Jake übernommen haben: „Er war stark übergewichtig, benahm sich apathisch und wirkte eigentlich mehr tot als lebendig.“
Das Küstenhund-Team hat Jake einem Tierarzt vorgestellt und ihn versorgen lassen. Unter der Auflage, die Praxis regelmäßig aufzusuchen und mit Jake außerdem zur Physiotherapie für Hunde zu gehen, übergaben sie den Rüden nach deren Rückkehr wieder seiner Besitzerin. Die Kosten aller Maßnahmen hätte der Verein übernommen. „Leider kam Jakes Frauchen in keinem guten Zustand zurück und hat es nicht geschafft, die Absprachen einzuhalten“, sagt Strohm. „Durch eine Vergiftung ist er erblindet und wurde vom Veterinäramt beschlagnahmt und ins Tierheim gebracht. Ich weiß aber, dass er wieder ein Zuhause gefunden hat, wo es ihm jetzt gut geht.“ Solche dramatische Fälle erlebe sie allerdings selten.
Dennoch machen Strohm und ihr Team immer wieder Beobachtungen, die Handeln erfordern. Manchmal etwa sehen sie einen Hund, der einen viel zu kleinen Maulkorb trägt und kaum die Möglichkeit hat, zu hecheln. „So etwas zu thematisieren, ist nur bei guter Beziehungsarbeit möglich“, weiß Strohm. Neben der Einladung zum Verweilen bei Kaffee, Kuchen und Brezeln bieten die Engagierten der „Kalten Schnauze“ deshalb auch ganz niedrigschwellig Hilfen an.
„Es beginnt damit, dass wir ein offenes Ohr für die Probleme der Menschen haben. Haben sich Schulden angehäuft? Gibt es Stress in der Beziehung? Ist jemand rückfällig geworden?“ Und für vieles hätten die Engagierten auch eine passende Adresse parat. Die Kontakte in Stuttgarts psychosoziale Betreuungslandschaft würden sich auszahlen, sagt Strohm.
Manchmal wird der Verein aber auch direkt aktiv. „Wenn jemand mit einem Brief von der GEZ kommt oder ein Schreiben von der Vermietung erhalten hat, in dem drinsteht, dass die Hunde weg sollen, dann unterstützen wir beim Beantworten“, berichtet Lena Strohm. Davon hat auch Micha schon gehört. Die Befreundeten, bei denen er und Frieda jetzt wohnen, hätten selbst schon von dieser unkomplizierten Unterstützung profitiert.
Sparen durch Spenden
Wenn es nötig wäre, würde auch er sich an Lena Strohm und ihr Team wenden, bemerkt er. Gerade laufe es aber verhältnismäßig gut für den 38-Jährigen und seine Hündin. „Seit ich nicht mehr so viel draußen sein muss, bin ich viel ruhiger geworden. Draußen bist du immer auf der Hut, immer angespannt. Auch Frieda merke ich das an. Die hat ja draußen auch immer nur mit einem Auge und auf einem Ohr geschlafen“, sagt der Mann mit rotem Irokesenschnitt. Friedas Futter koste im Monat etwa 70 Euro. Mit Hilfe der „Kalten Schnauze“ könne er sparen.
Das Futter, das das Projekt ausgibt, wird gespendet oder auch zugekauft. „Wir kooperieren mit einem Tierfachmarkt, der uns das Futter mit überschrittenem Mindesthaltbarkeitsdatum überlässt. Den Rest kaufen wir zu Sonderkonditionen ein“, sagt Strohm. Von Tierheimen oder Privatleuten kämen auch immer wieder größere und kleinere Mengen. In der Woche vor einer Verteilaktion sind Lena Strohm und ihr Team viel mit dem alten Mercedes-Bus des Vereins unterwegs und sammeln die Spenden ein. Ausgegeben werden nicht nur Futter, sondern auch Leinen, Geschirre, Betten, Spielzeuge und anderes Zubehör. Im Monat würden sich bei Lena Strohm gut 30 Stunden ansammeln, die sie für ihren Verein aktiv ist.
Die viele Arbeit moniert manchmal auch ihr eigener Hund Kento, der aus Andalusien zu ihr kam. „Wenn eine Verteilaktion ansteht, muss er leider oft ein bisschen zurückstecken, aber danach bin ich auch wieder ganz und gar für ihn da“, sagt Lena Strohm, die nicht nur ihrem Kento für seine Geduld dankt, sondern auch ihren Mitstreitenden für deren Einsatz. „Nicht nur ich fahre Abende lang mit dem Sprinter durch die ganze Stadt. Das machen auch andere. Wir sind ein kleines, aber bombastisches Team“, fasst die Gründerin zusammen.
Und auch Micha ist dankbar, als er zusammen mit Hündin Frieda und seinen Mitbewohnenden aus der WG die Verteilaktion der Küstenhunde mit gefüllten Taschen wieder verlässt. Nach nur wenigen Stunden ist der volle Transporter des Verein wieder geleert. Schnorren müsse Micha heute also nicht mehr – und für das nächste Mal hat er sich auch schon angekündigt.
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