Text: Susanne Kailitz — Fotos: Paul Glaser
Es ist unmöglich, mit Julian Nejkow durch Görlitz zu laufen, ohne alle paar Meter einen kurzen Stopp einzulegen. Nejkow grüßt nach rechts, wird von links angesprochen, ruft jemandem etwas quer über die Straße zu, beantwortet nebenbei drei Anrufe und wird auch schon wieder angesprochen. All das geschieht in maximaler Lautstärke, die Gespräche unterbrochen von einem dröhnenden Lachen – und selbst wenn er flüstert, ist der Zwei-Meter-Mann mit den ausladenden Schritten unübersehbar. In der sächsischen Neißestadt ist er zweifellos ein bekanntes Gesicht.
Heute ist der 31-Jährige unterwegs in ein Wohnheim für Kinder und Eltern, das von einem großen Wohlfahrtsverband betrieben wird. Nejkow ist beschäftigt mit den letzten Vorbereitungen für sein derzeitiges Herzensprojekt – eine Jugendkochschule, in der die Kinder des Wohnheims und junge Menschen aus ganz Görlitz die Grundlagen des Kochens und guter Küche erlernen können. In wenigen Tagen wollen die Kinder mit Koch Karsten Lachmann das Projekt einer großen Gruppe von Interessierten vorstellen, verbunden mit der Bitte, die Idee der Kochschule zu unterstützen.
In seinem Büro geht Julian Nejkow noch ein letztes Mal den geplanten Ablauf des Abends durch: Begrüßung, ein kurzer Vortrag – und im Anschluss sollen die Gäste schon auf einzelne Tische verteilt werden, an denen fachkundiges Personal auf sie wartet, um inhaltliche Fragen zum Projekt zu beantworten. Das Kochen ist hier mehr als Handwerk, den Kindern sollen Informationen über die Lebensmittel, die sie auf den Tisch bringen, ebenso vermittelt werden wie soziale Fähigkeiten und Kenntnisse über den Berufsstand. Nejkow will dem Nachwuchs Lust aufs Kochen machen.
Schulen seien deshalb ebenso geladen wie Menschen aus der Wissenschaft, erzählt Nejkow: „Es gibt kein Unterrichtsfach, in dem junge Menschen das Kochen lernen würden. Gleichzeitig wissen wir, dass die Ernährung gerade in den Familien nicht so gut ist, denen es finanziell nicht gut geht. Dort wird häufig weniger gekocht, dafür aber mehr Fast Food oder Fertigprodukte gekauft.“
Kochen heißt nicht nur Essen
Essen und Mahlzeiten haben heutzutage oftmals keinen festen Platz mehr im Tagesablauf, meint auch die Ernährungswissenschaft. Am Mittagstisch versammelt sich nur noch jede zweite Familie. „Die Ernährungsgewohnheiten haben sich in den zehn letzten Jahren gravierend verändert“, sagt Renate Köcher, Geschäftsführerin vom Institut für Demoskopie Allensbach. Vor kurzem hatte ihr Wissenschaftsteam im Auftrag eines Lebensmittelkonzerns rund 1600 Deutsche nach ihren Essgewohnheiten befragt.
Fixe Essenszeiten würden demnach weiter verschwinden oder werden weniger wichtig. Vor allem aus Zeitmangel snacken viele Menschen in Bäckereien, Imbissbuden und Kiosken, so die Studie. Und Fast Food ist besonders bei Jüngeren sehr beliebt.
Noch dazu kommt, „dass viele Deutsche Kochen als verlorene Zeit ansehen. Und sie können es auch gar nicht mehr“, bilanzierte Hans Hauner, langjähriger Direktor des Else Kröner-Fresenius-Zentrums für Ernährungsmedizin, in einem Gespräch mit dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel.
„Kinder lernen das Kochen nicht mehr von den Eltern. Sie bekommen nicht mehr mit, wie Essen entsteht“, so Hauner weiter. Aus diesem Grund kritisiert er unter anderem auch die Abschaffung des Schulfaches Hauswirtschaft, in dem Kochgrundkenntnisse vermittelt wurden. „In Folge der Emanzipation wurde es abgeschafft. Frauen sollten studieren und ‚nicht mehr am Herd stehen‘. Besser wäre es gewesen, Hauswirtschaft auch für die Jungen einzuführen.“
Der Aufbau von Schulküchen sei kostenintensiv, weiß Hauner. „Doch selbst, wenn die Kinder in der Schule etwas Bewusstsein für gesundes Essen vermittelt bekommen, verliert sich das schnell wieder, wenn zu Hause kein Wert auf gesundes Essen gelegt wird.“ Der Versuch solle trotzdem unternommen werden – und zwar bereits in Kindertagesstätten. Kinder könnten dort spielerisch mit Ernährung und Kochen vertraut gemacht werden.
Von der Großmutter inspiriert
Schon Ex-Landwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU) hatte sich gemeinsam mit dem Hamburger Fernsehkoch Tim Mälzer dafür starkgemacht, das Thema Ernährung als neues, eigenes Unterrichtsfach einzuführen. Doch nach seinem Ausscheiden aus dem Ministeramt wurde seine Initiative nicht weiterverfolgt.
Nachfolgerin Julia Klöckner (CSU) hat zumindest angekündigt, Schulkinder künftig besser über gesunde Lebensmittel aufklären zu wollen. „Eine ausgewogene Ernährung gerade unserer Kleinsten ist der Schlüssel für ein gesundes Leben“, erklärte sie in der Neuen Osnabrücker Zeitung. Ähnliches hatte Ärztepräsident Klaus Reinhardt schon im Juni gefordert. „Gesundheitsförderung sollte zu einem Schulfach werden – und zwar schon in der Grundschule.“ Dazu gehöre das Wissen über gesunde Ernährung.
Julian Nejkow will genau dort ansetzen. Seine eigene Leidenschaft fürs Kochen wurde vor Jahren geboren, im Zusammenleben mit der Großmutter. „Sie konnte ungefähr 20 Gerichte. Irgendwann wollte ich aber einfach etwas Neues ausprobieren.“
Im Studium sei das Kochen dann irgendwann in gewesen, da habe er abends regelmäßig für bis zu 20 Menschen am Herd gestanden und sein Können sogar als Koch in einem Studierendencafé genutzt. Essen zubereiten – und gemeinsam genießen, das ist für Nejkow Kommunikation und Lebensart, „das ist einfach existentiell“.
Selbstbewusstsein sollen die neuen Fähigkeiten nun auch den Kindern bringen, das gemeinsame Arbeiten an Suppen, Salaten und Aufläufen das Gefühl stärken, dass im Team vieles leichter geht. Und vielleicht können das Schnibbeln, Rühren und Abschmecken ja auch Anregung für die Wahl des späteren Berufes sein – ein früherer Teilnehmer des Projekts jedenfalls macht bereits in einem der lokalen Restaurants eine Ausbildung zum Koch.
Leben lief anders als geplant
An dem Abend, den Nejkow gerade plant, sollen all diese Aspekte besprochen werden – denn er möchte noch mehr Finanziers mit ins Boot holen. Damit das gelingt, sollen die Teilnehmenden der Kochschule für die Gäste kochen und zeigen, was sie inzwischen gelernt haben. Dafür bespricht Nejkow jetzt noch mit „seinem“ Koch den geplanten Ablauf, überlegt, wann die hausgemachten Dips mit dem frischgebackenen Brot und die kalte Gurkensuppe serviert werden sollen.
Die Jugendkochschule ist nicht Nejkows Idee – aber er hat sie nach einer längeren Zeit, in der das Projekt nicht so recht vorwärts kommen mochte, wiederbelebt und zu seinem Anliegen gemacht. Und das ist möglicherweise das beste, was der Kochschule passieren konnte. Denn Nejkow kann keine halben Sachen – wenn der Mann mit dem Vollbart etwas anpackt, nimmt es unweigerlich an Fahrt auf. Dabei war das alles überhaupt nicht geplant, nicht die Kochschule und nicht das Leben in Görlitz. Denn eigentlich hatte er ganz andere Sachen vor.
Nach dem Studium in Dresden und Jena wollte der Politikwissenschaftler richtig durchstarten, nach unterschiedlichen Jobs in der politischen Bildung und der Wissenschaft sollte es losgehen – vielleicht mit einer Promotion, ganz sicher mit Stationen im Ausland und insgesamt überall anders als in einem kleinen Städtchen direkt an der deutsch-polnischen Grenze.
Das Leben aber machte einen Strich durch diese Rechnung: Vor drei Jahren erkrankte Nejkow schwer und kämpft seither darum, wieder auf die Beine zu kommen. Wer mit ihm spricht oder mit ihm durch Görlitz läuft, würde davon nichts merken. Und doch ist die Krankheit allgegenwärtig – vor allem dann, wenn sie ihm die Kraft für all das raubt, was er gern tun würde. Nejkow spricht darüber wenig, er will kein Mitleid.
„Natürlich ist das ein Teil meines Lebens, besondern in den Phasen, an denen es mir nicht gut geht und es ein Kampf ist, überhaupt aufzustehen.“ Aber eben keiner, dem er gestatten würde, Überhand zu nehmen. „Jetzt bin ich hier und jetzt suche ich mir hier Dinge, die mich begeistern und die ich voran bringen kann.“
Idee für eigenen Wettbewerb
Die Dinge vorantreiben, auch mit großem persönlichen Einsatz – das ist sein Konzept. Gerade hat Nejkow auf dem Facebook-Auftritt der Jugendkochschule eine Wette angeboten: Für jeweils 100 neue Fans will er auf eigene Kosten zehn Liter sächsische Kartoffelsuppe kochen und die auch noch an einem öffentlichen Platz verteilen.
Um die Jugendkochschule bekannter zu machen, nutzt er gnadenlos seine Kontakte in der Neißestadt und macht es zum Beispiel möglich, dass die Kinder und Jugendlichen immer wieder die Chance bekommen, wie die Profis zu arbeiten – etwa im „Jakobs Söhne“, einem hochklassigen Restaurant in der Görlitzer Innenstadt.
„Ich bin in der Stadt sehr gut vernetzt“, gibt Nejkow zu, „da wäre es doch gradezu sträflich, diese Kontakte nicht auszunutzen und all die spannenden Menschen hier nicht zusammen zu bringen.“ In Görlitz habe er gelernt, wie gewinnbringend es sei, Menschen zu verbinden – und wie leicht.
All das kostet Kraft – bringt aber auch welche. Denn eine Woche später leuchtet Nejkow immer noch vor Freude: Der Abend, der die Kochschule in Görlitz bekannter machen sollte, war ein voller Erfolg. „Wir haben ganz verschiedene Leute zusammengebracht, an unseren Tischen sind unglaublich spannende Gespräche entstanden.“
Inzwischen haben Nejkow und das Team Kooperationen mit Görlitzer Schulen vereinbart, er hat Kontakte in die Wissenschaft geknüpft, die das Projekt begleiten wollen. Und Nejkow wäre nicht Nejkow, wenn er nicht längst auch schon weiterträumen würde: Bis Ende dieses Jahres will er ein Kochbuch mit den besten Rezepten und Geschichten der Jugendkochschule fertiggestellt haben, das dann zugunsten des Projekts verkauft werden soll. Geht es nach ihm, gibt es demnächst auch einen Wettbewerb „Jugend kocht“, angelehnt an die Idee der Bundesjugendspiele. Das ist ambitioniert. Für Julian Nejkow aber das Mindeste.
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