Text: Anne Brockmann — Foto: Thomas Pirot
John, der in Wahrheit anders heißt, spricht ruhig, als er von der angsterfülltesten Zeit seines Lebens erzählt. Und er hält den Blickkontakt zu den Umsitzenden, die zuhören und Ähnliches erlebt haben. Fast scheint es so, als spreche er von jemand anderem, an dessen Schicksal er berührt Anteil nimmt, das er aber nicht teilt. Er schützt sich. Mit Distanz und Besonnenheit – vor seiner eigenen Geschichte. „Die Polizei hat mein Haus gestürmt“, erzählt der 36-jährige. „Aber ich konnte durch den Hinterausgang fliehen“, fährt er fort.
John ist homosexuell. Er liebt Männer, hatte in seinem Heimatland Nigeria einen Freund. Den hat die Polizei vermutlich erwischt, glaubt er. In Nigeria wird Homosexualität mit dem Tod oder mit langen Gefängnisaufenthalten bestraft. Von seinem Freund hat John seitdem nie wieder etwas gehört. Er selbst ist durch die Kanalisation gestapft, hat dabei die Bekanntschaft mit Ratten und anderem Getier machen müssen. Schließlich landete John in Deutschland. Und in Nigeria wurde mit Foto auf dem Titel der größten Tageszeitung des Landes nach ihm gesucht.
Ein gutes Jahr ist das jetzt her. Inzwischen lebt John in Schwäbisch Gmünd, einer kleinen Stadt, 50 Kilometer östlich von Stuttgart gelegen. Hier wohnt er bei den Rainbow Refugees, einem Projekt für homosexuelle Geflüchtete, das 2017 von der Aids-Hilfe im Ort ins Leben gerufen wurde. John kann hier mit anderen Betroffenen offen über seine Erlebnisse sprechen, findet Verständnis und Trost. Joschi Moser, Gründer und Vereinsvorsitzender, nennt die Wohngemeinschaft für schwule Geflüchtete das „Sahnehäubchen auf seinem Lebenswerk“.
In der WG sollen sich die Bewohnenden zu „selbstbewussten und lebensmutigen schwulen Männern“ entwickeln, sagt Moser, der sich seit mehr als vier Jahrzehnten für die Rechte von Homosexuellen engagiert. Wie alle Rainbow Refugees hat auch er eine Migrationsgeschichte. Im Grundschulalter ist er mit seinen Eltern aus Ungarn nach Deutschland gekommen. Das war in den Sechzigerjahren. „Nach meinem Coming-Out hatte ich den Rückhalt meiner Eltern, nicht aber den meiner Geschwister“, berichtet Joschi Moser. Schon als junger Erwachsener trat er für die Abschaffung des Paragrafen 175 im Strafgesetzbuch ein, der noch bis 1994 sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe stellte.
Nach der Schule begann Moser zunächst eine Berufsausbildung zum Logistiker. „In meinem Betrieb wurde ich nach gerade mal drei Wochen zwangsgeoutet. Eine vermeintlich freundliche Kollegin hatte mich über mein Privatleben ausgehorcht und mitbekommen, dass ich mit einem Mann liiert bin. Von da an war ich im Betrieb nicht mehr Herr Moser, sondern für alle nur noch ‚Fräulein Moser‘“, erinnert er sich an seine Jugend. Der Betrieb, in dem Joschi Moser lernte, war groß, fast riesig, zählte 8 000 Mitarbeitende. Doch egal in welche neue Abteilung er auch kam, die Reaktionen waren dieselben. „Ach, Sie sind das“, hieß es oft mit vielsagendem Blick.
Asylgrund Homosexualität
Joschi Mosers Weg von der Arbeit nach Hause führte entlang einer Bahnstrecke. Und er stand mehrmals auf den Gleisen: „Soll ich oder soll ich nicht? Wenn der nächste Zug kommt, könnte alles vorbei sein und ich müsste nicht mehr die spitzen Bemerkungen des Kollegiums ertragen. So eine Zeit war das damals“, erinnert sich Moser. Dann aber habe er gemerkt: „Die, die am weitesten das Maul aufreißen, sind nicht selten Väter und Großväter mit einer Schar Kindern zuhause. Die treiben sich aber heimlich in der schwulen Subkultur rum.“
Moser stand nicht nur immer mehr zu sich selbst, sondern auch anderen schwulen Männern in schweren Lebenslagen zur Seite. Er leistete etwa Unterstützung bei Behördengängen und Praxisbesuchen, betreute Inhaftierte, begleitete Kranke bis zum Tod – alles im Ehrenamt. Um für all das genügend Zeit zu haben, sei er damals nur noch in Teilzeit arbeiten gegangen.
Heute ist Moser 65 Jahre alt. Die Lebenswelt von Homosexuellen in Deutschland findet er nicht perfekt, aber gut genug, um sich Betroffenen in anderen Ländern zuzuwenden und für ihren Schutz und ihre Sicherheit einzustehen. Joschi Moser fordert: „Homosexualität muss ein Asylgrund sein. Dass die Maghreb-Staaten sichere Herkunftsländer sind, ist nicht wahr.“
Das belegt zum Beispiel die Geschichte von Ali aus Tunesien, einem weiteren WG-Bewohner. Auch er trägt eigentlich einen anderen Namen, den er zum Schutz für sich behält. In seinem Heimatland arbeitete er als Industrietechniker für ein großes Unternehmen, erzählt er. Seine sexuelle Orientierung habe er über die Jahre immer geheim halten müssen – aus Angst vor Repressionen. Denn Homosexualität ist in Tunesien noch immer ein Straftabestand. Sich zu verstecken, das habe Ali viel Kraft gekostet, erzählt er. Auch WG-Gründer Joschi Moser weiß um die Situation, dass „Ehrenmorde an schwulen Söhnen durch die eigene Familie in Tunesien auch heute noch an der Tagesordnung sind“.
In Schwäbisch Gmünd unterrichtet Ali mittlerweile Kinder an einer Kunstschule in Fotografie, Theaterspiel und Zeichnen. In Tunesien habe er schon viel Erfahrung in der Ausbildung von Kindern sammeln können. Nun wolle er sich beruflich in diese Richtung entwickeln. Vielleicht. „Gedanken an die Zukunft brauchen Zeit“, hat Joschi Moser gelernt. Es gäbe Geflüchtete, die seien so schwer traumatisiert, dass sie anfangs monatelang ihr Zimmer nicht verließen. Anders als in gewöhnlichen Geflüchtetenunterkünften steht bei den Rainbow Refugees jedem ein Einzelzimmer zur Verfügung. Auch die Ausstattung ist hier eine andere. Allemal spärlich, doch üppiger als üblich. Jeder hat einen eigenen Kühlschrank, eine Mikrowelle und Möbel.
Nicht-homosexuelle Geflüchtete leben vis-a-vis. Die Rainbow Refugees haben ihr Domizil in einer städtischen Einrichtung bezogen, von der sie einen Gebäudeteil separat nutzen können und unter sich sind. Insgesamt zwölf Plätze gibt es in der Wohngemeinschaft. „Die Vorteile sprechen sich natürlich rum und manchmal versuchen auch Männer bei uns zu landen, die sich nur als schwul ausgeben, es aber gar nicht sind“, verdeutlicht Moser. Beim Kennenlernen verlasse er sich da auf seine Erfahrung und sein Bauchgefühl.
Zu den anderen Geflüchteten, mit denen sich die Rainbow Refugees den Hof teilen, haben sie allerdings kaum Kontakt. „Unsere sexuelle Identität hängen wir hier nicht groß an die Glocke. Dass geflüchtete Landsleute in puncto Homosexualität leider häufig genauso ticken wie die Machthabenden in den Herkunftsländern ist ja der Grund, weshalb eine separate Unterkunft notwendig ist“, erklärt Joschi Moser. Viktor, ein WG-Neuankömmling, hätte neulich aber mal ein bisschen Basketball mit den anderen gespielt.
Der Weg des Ankommens
Joschi Moser organisiert aber nicht nur Wohnraum, sondern schafft auch Zugänge. „Durch mein jahrzehntelanges Engagement bin ich gut vernetzt. Daran sollen auch andere teilhaben, ohne in Abhängigkeit zu geraten.“ Bei John habe das gut funktioniert. Er gehe regelmäßig in die Messe der katholischen Kirche und fühle sich wohl in der Gemeinde. In Nigeria wollte John Priester werden und hat deshalb fünf Jahre lang ein entsprechendes Seminar besucht.
Der Augenblick, in dem John bewusst wurde, dass er als schwuler Mann vollkommen okay ist, stellte sich während einer Meditation ein: „Ich war total ruhig, bei mir und auf einmal kam mir die Gewissheit: ,Es ist nichts falsch an mir. Ich liebe Männer! So bin ich, so möchte ich Gott dienen.’“ Vorher war er auf Drängen seiner Familie von Ort zu Ort getingelt, von Behandlung zu Behandlung, um „irgendwie besser“ zu werden. Das ist jetzt vorbei und Johns Mutter hält nach wie vor zu ihm. Sie halten übers Telefon Kontakt. Priester wird John zumindest vorerst auch in Deutschland nicht werden können. Aber Ministrant, das wäre auch schon was. „Dann würde selbst ich mal in die Messe gehen“, meint Joschi Moser.
Eine Beziehung hat aktuell keiner der drei WG-Mitglieder. „Das mag komisch klingen, aber in die Schwulen-Szene, da möchte ich die Jungs nicht unbedingt reinbringen. Ich habe leider keine guten Erfahrungen gemacht“, berichtet Joschi Moser. Zu sich kommen, wachsen, eine eigene Perspektive entwickeln, ein kulturelles Verständnis für die neue Heimat schaffen und Angebote der sexuellen Bildung wahrnehmen – diese Themen seien für ihn die Grundlage für eine Partnerschaft auf Augenhöhe. Mit den Rainbow Refugees arbeitet er an all dem und gibt ihnen mit: „Du musst dich wehren. Niemals den Kopf einziehen und einfach den Mund halten!“
Die größte Hürde allerdings ist zunächst immer das Aufenthaltsrecht. „Ich habe schon erlebt, wie Geflüchtete im Polizeifahrzeug auf dem Weg zum Flughafen waren, um abgeschoben zu werden. Schlussendlich konnten wir allen dabei helfen, hier zu bleiben“, erklärt Joschi Moser stolz. Für die Gründung und den Aufbau der Aids-Hilfe in Schwäbisch Gmünd und sein damit verbundenes Engagement wurde er 2017 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
Baden-Württembergs Sozial- und Integrationsminister Manne Lucha (Grüne) würdigte Moser in seiner Laudatio bei der Übergabe mit folgenden Worten: „Sie gehören zu den Menschen, die sich einmischen, um für sich und andere Veränderungen und Verbesserungen anzustoßen und elementare Rechte einzufordern. Sie haben gezeigt, was alles möglich und zu erreichen ist, wenn man sich in außerordentlicher Art und Weise für das Gemeinwohl engagiert.“
Im Arbeitsleben erreicht Joschi Moser in den nächsten Jahren das Rentenalter. Bei der Aids-Hilfe aber denkt er noch lange nicht ans Aufhören. Für die nächste Zeit hat er außerdem einen innigen Wunsch: „Ich fände es super, wenn schon bald einer von unseren Rainbow Refugees mit im Vorstand des Vereins sitzt.“ Denn im Kollektiv lasse sich so einiges bewegen.
Mit Veto geben wir dem Aktivismus im Land eine mediale Bühne. Warum? Weil es Zeit ist, all jene zu zeigen, die sich einmischen. Unser Selbstverständnis: Journalismus mit Haltung. Du kannst uns mit einer Spende unterstützen: DE50 4306 0967 1305 6302 00 oder via PayPal.