Unter Nazis — Jakob Palm

Als in seiner Kneipe ein Freund von Neonazis attackiert wird, gründet Jakob Palm einen Verein gegen rechts. Mit Gleichgesinnten streitet er für eine klare Haltung in einer Gemeinde, die als Pilgerort unter Ewiggestrigen und Hitler-Fans gilt.
28. Oktober 2024
7 Minuten Lesezeit
Text: Eva Goldschald — Fotos: Nadine Keilhofer

„Kommen drei Nazis in eine Bar.“ So beginnt Jakob Palm ein Video auf Instagram. Er würde auf diese Szene gerne witzig reagieren, doch das, was sich am 24. August 2023 vor seinem Laden abspielte, war Realität. Am Abend sitzt Palm mit seinen Freunden Joseph und Markus auf der Terrasse seiner Bar, dem „Kuckucksnest“. Bevor sie schließen wollen, marschieren drei Männer im Dunklen auf sie zu. Sie alle tragen T-Shirts mit demselben Aufdruck. „Division Deutschland“ steht darauf in altdeutscher Schrift geschrieben – Mode, wie Neonazis sie tragen. Ohne auch nur ein Wort zu sagen, stürmt einer auf Joseph zu und schlägt ihm ins Gesicht. Er geht sofort zu Boden, die angreifenden Männer flüchten. Jakob Palm und Markus bringen ihren Freund in Sicherheit, schließen sich in der Bar ein und rufen die Polizei. Zwei Täter werden gefasst. Sie stammen aus Norddeutschland und waren angereist, um Urlaub zu machen.

Jakob Palms Kneipe liegt inmitten von Berchtesgaden, einem der beliebtesten Urlaubsziele in Deutschland. Hier steht der zweithöchste Berg Deutschlands, hier gibt es den einzigen Alpen-Nationalpark und glasklare Bergseen. Doch die Postkartenidylle in Oberbayern zieht nicht nur Naturliebhabende und Wanderbegeisterte an – sie ist auch eine Hochburg für Nazi-Tourismus.

Gegenüber vom „Kuckucksnest“ – nur knapp fünf Kilometer Fahrtstrecke entfernt – liegt der Obersalzberg. Hier verbrachte Adolf Hitler seine Freizeit, ehe die Sommerresidenz schließlich zum zweiten Regierungssitz Hitlers wurde. Hier ließ er eine SS-Kaserne, Verwaltungsgebäude, Werkstätten und unterirdische Bunker erbauen. Die Einwohnenden des Berchtesgadener Ortsteils Obersalzberg wurden vertrieben und das Gelände zum „Führersperrgebiet“ ernannt.

Am früher nur spärlich bebauten Obersalzberg wurden nach der Machtübernahme Straßen, Häuser und Zweckbauten errichtet. In den späten Dreißigerjahren erhielten nur noch Partei- und Staatsgäste oder organisierte Gruppenbesuche Zutritt. Politiker, Staatschefs und Militärs aus der ganzen Welt gaben sich in Berchtesgaden die Klinke in die Hand. Hitler verbrachte ab 1933 hier ein Drittel seiner Zeit. Er nutzte den malerischen Ort als Fotomotiv, inszenierte sich vor der eindrucksvollen Bergwelt als naturliebender „Volkskanzler“, nah an der Bevölkerung.

Gespräche statt Ausgrenzung

In seinem Video schildert Palm den Nazi-Übergriff sichtlich geschockt. Von der Leichtigkeit, mit der der 34-Jährige sonst durchs Leben geht, ist nichts zu spüren. Stattdessen der starre Blick in die Kamera, Fassungslosigkeit über das, was passiert ist und dazwischen klare Worte für jene, die versuchen, Hass zu verbreiten: „Wir sind alarmiert und wir werden nicht klein.“ Palm vermutet, was die Männer provoziert haben könnte: der große rote, linke Stern, der seit Beginn Symbol der Bar ist. Für ihn bedeutet der Angriff auch gezielte Gewalt gegen Menschen mit Behinderung. Denn Freund Joseph ist seit einem Autounfall mit 17 geistig beeinträchtigt.

„Seit ich denken kann“, meint Palm, „gab es im ‚Kuckucksnest‘ nie wirklich körperliche oder verbale Auseinandersetzungen. Wenn doch mal jemand die Nerven verloren hat, haben wir über die Probleme gesprochen. Meistens gab es dann gar keine Lust mehr auf Krawall. Das ist der gute Geist vom ‚Kuckucksnest‘.“ In der kleinen, oberbayerischen Gemeinde ist die Kneipe seit fast 45 Jahren eine Institution – gerade auch für subkulturelles Leben. Im Namen seines Ziehvaters leitet Palm die Geschicke vor und hinter dem Tresen inzwischen seit 2014. Für ihn ist das „Nest“, wie er es nennt, über die Zeit zu einem zweiten Zuhause geworden. 

Während er das erzählt, sitzt er auf einer Eckbank aus Holz an der großen Fensterfront. In der Hand hält er eine Zigarette. Der Rauch zieht Schleier in den dunklen Raum mit tiefen Decken. Noch stehen die Stühle umgedreht auf dem Tresen, die Tische sind zur Seite geräumt. Erst am frühen Abend öffnen sich hier die Türen. Schon immer, erklärt Jakob Palm, gelte hier: Mensch vor Meinung. Und Dialog vor Canceln.

Ihm sei wichtig, dass Menschen miteinander reden, im Gespräch bleiben. Dass sie sich dafür öffnen, hinter die Fassade ihres Gegenübers zu sehen. Er würde beispielsweise niemanden wegen der politischen Gesinnung sofort abschreiben: „Wenn ein kunstschaffender Mensch seine Bilder bei mir ausstellen möchte und ich gleichzeitig weiß, dass er AfD wählt, würde ich trotzdem seine Kunst ausstellen. Vorausgesetzt, die Kunst ist nicht politisch.“ 

Übergriffe auf Gedenkstätten

Dass gegen Hass und Gewalt allein der gute Geist nicht immer reicht, habe ihm der Angriff im letzten Jahr jedoch klar vor Augen geführt. Und um gar nicht erst ein Gefühl der Ohnmacht aufkommen zu lassen, ist Palm in die Offensive gegangen. Zwei Tage nach der Gewaltattacke organisierte er ein „Treffen wegen rechts“. Etwa 40 Leute der gut 8 000-Seelen-Gemeinde sind damals gekommen. Kurz darauf formierte sich die Initiative „Berchtesgaden gegen Rechts“ um die Vorsitzenden Michael Gruber und Anna Stangassinger. Die Engagierten stehen dabei eng im Austausch mit dem Erinnerungs- und Lernort Dokumentation Obersalzberg. Dieser wurde 1999 ins Leben gerufen, um an die NS-Verbrechen auf dem Obersalzberg zu erinnern.

Vereinnahmungsversuche rechter Kräfte gehören seitdem zum Alltag. Das ist nicht nur hier so, vielmehr ist es ein allgemeiner Trend, der viele Erinnerungsorte im Land beschäftigt. Eine Analyse des Deutschlandfunk hat dieses Problem erstmals in Zahlen erfasst. So gab es seit 2019 über 1 000 rechte Übergriffe im Kontext von Erinnerungskultur. Doch eine empirisch einwandfreie Studie gibt es bisher nicht. Eher sind es Zahlensammlungen und Chroniken von Verbänden und Gedenkstätten, die solche Ereignisse vereinzelt dokumentieren. 

Auch die Mitarbeitenden des Erinnerungsortes würden in Berchtesgaden beinahe täglich Nazis und Menschen mit rechtsextremer Ideologie begegnen. Daher war auch die Verbindung zum neuen Bündnis von Beginn an gegeben. „Die sollen sich schleichen“, so positionierte sich Bildungsreferent Mathias Irlinger auf der ersten Demonstration mit einem Redebeitrag gegen rechts. Inzwischen organisiert das Netzwerk mehrmals im Jahr den Protest auf der Straße – um aufzuklären und für ein Problem zu sensibilisieren, das zwar schon lange präsent ist, aber bislang wenig Widerspruch seitens der Zivilgesellschaft erfahren hat. 

An Tagen wie dem Geburtstag von Adolf Hitler am 20. April oder dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar sind für Mitarbeitende des Erinnerungsortes hingegen längst besondere Visiten rund um das Gelände auf dem Obersalzberg mitsamt dem Repräsentationsgebäude Kehlsteinhaus selbstverständlich. Manchmal finden sie brennende Grabkerzen, Kränze oder Blumen. Darüber hinaus organisieren sie auch Veranstaltungsreihen wie „Rechtsextremismus unter der Lupe“. Und parallel dazu erhalten sie jetzt Unterstützung.

Langsam regt sich der Protest

Jakob Palm und die insgesamt elf Mitglieder von „Berchtesgaden gegen Rechts“ veranstalten unter anderem Lesungen im „Kuckucksnest“. Zum Beispiel mit dem Zwickauer Aktivisten Jakob Springfeld. In seinem Buch beschreibt er Erfahrungen mit Beleidigungen, offenem Hass und Gewaltandrohungen von Neonazis. Das verbindet und sensibilisiert.

Und auch Tage wie der 20. April bleiben nicht mehr umkommentiert. So initiierte das Bündnis erstmals den Tag der Toleranz. Neben einer Kundgebung und Konzerten am Abend bildeten Teilnehmende eine Menschenkette durch den Ort – als Symbol für Zusammenhalt. Angesichts rechtsextremer Übergriffe und zunehmender Gewalt beziehen die Engagierten genauso bei monatlichen Stammtischen, Protestaktionen und Infoveranstaltungen Stellung. Auf diesem Weg suchen sie den Kontakt zur Bevölkerung, um lokale Probleme oder auch die Gründe für eine politische Radikalisierung und mögliche Lösungen zu diskutieren.

Palm bietet für all das seine Räume an. Ein Amt als Vorstand hat er aber abgelehnt: „Ich sehe mich eher als Vorbereiter für Dinge, die noch nicht da sind und als Aktivist, wenn es darum geht, Dinge anzustoßen.“ Umgesetzt werden die gesammelten Ideen vor allem von Michael Gruber und Anna Stangassinger, die auch die Gründung maßgeblich vorangetrieben haben. In den nächsten Monaten will die Initiative nun verstärkt Bildungsarbeit betreiben und so auch benachteiligten Menschen eine Stimme geben.

An exponierten Gedenktagen wird der Nazi-Tourismus im Ort weithin sichtbar, aber auch im Kleinen wird rechte Meinungsmache deutlich – und Berchtesgaden regelrecht markiert. Im Sommer gab es beispielsweise eine Welle rechtsextremer Aufkleber mit Hass-Botschaften an Mülleimern und Geländern entlang hoch frequentierter Spazierwege. Die meisten stammten aus dem Onlineshop „Druck18“, der von Neonazi Tommy Frenk betrieben wird. Die Engagierten des Vereins haben alles dokumentiert und an die Gemeinde weitergeleitet, einzelne Aufkleber wurden umgehend entfernt. Auch keine Seltenheit: Hakenkreuze, die in die Rinde von Bäumen oder in die Wände der Toiletten der Erinnerungsstätte am Obersalzberg geritzt sind. Immer wieder stehen dort auch Grabkerzen mit Hakenkreuzen. 

Wachsamkeit gegen Neonazis

Der Erinnerungsort ist dafür gewappnet. So erklärte Bildungsreferent Mathias Irlinger, dass Mitarbeitende verstärkt auf Symbole auf Kleidungsstücken, Anhänger oder Tätowierungen achten würden. Und: auffälliges Verhalten. Wenn sich manche Besuchende gar nicht für die Ausstellung interessierten, sondern im Areal herumlungerten oder gezielt zu bestimmten Exponaten oder den Bunkern gingen, sei das ein Warnzeichen. Darauf reagiere das Team mit aktiver Störung und intensiver Beobachtung. Das verhindere unangebrachtes Verhalten.

Doch meist kämen diese Personen nachts auf das Areal und den umliegenden Wald, was dann nicht verhindert werden könne. Etwa 200 Menschen mit rechter Gesinnung, schätzt Irlinger, pilgern jährlich zum Obersalzberg. Bekannt sei die rechte Aneignung seit den Siebzigerjahren. Das belegen Zeitungsartikel, die schon damals von Schmierereien berichteten. Das Problem aber sei lange verkannt worden. Viele Menschen in Berchtesgaden interessierte die Realität vor der eigenen Haustür nicht wirklich, weiß Palm. Genau deshalb brauche es einerseits die Aufklärungsarbeit der Dokumentation und andererseits den Widerstand der Zivilgesellschaft.

Palm hat dabei auch konkrete Vorstellungen für künftige Aktionen: „Eine Idee wäre, an Tagen wie dem 20. April alle Einnahmen aus den Busfahrten auf das Kehlsteinhaus an gemeinnützige Zwecke zu spenden. Das würde den Nazis am meisten wehtun.“ Bis solche Überlegungen zu Tatsachen reifen, hilft das Bündnis vorerst anders: Aufkleber entfernen, Hakenkreuze in den Gastbüchern an der Dokumentation ausradieren und weiter Demos organisieren. Von seiner Mutter habe Palm gelernt, Aggression mit Liebe zu begegnen.

Seine Heimat Berchtesgaden verbindet der Aktivist mit dem Auenland aus Herr der Ringe. „Es ist abartig schön hier und die Einwohnenden sind etwas speziell, schimpfen gerne. Wer sich aber mit ihnen beschäftigt, stellt fest: Fast alle sind offen und nett. Irgendwie wie Hobbits.“ Seine Kneipe sei in diesem Szenario immer ein Zufluchtsort für „verrückte Vögel“ gewesen. Ein sicheres Nest. Und diese Sicherheit will er bewahren. „Es findet ein Wandel in der Gesellschaft und auch bei uns im Kleinen statt. Langsam, aber kontinuierlich. Auch wenn es Rückschläge gibt, die wesentliche Frage ist doch: Wohin wollen wir? Und da sollte Platz für alle sein.“

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