Text: Tom Waurig — Fotos: Benjamin Jenak
Mulla Çetin ist gehetzt, die S-Bahn ist ausgefallen. Und er ist übermüdet – geschlafen hat er die letzte Nacht so gut wie gar nicht. Eine wichtige Seminararbeit musste endlich fertigwerden, Jura, achtes Semester. Zeit nimmt er sich trotzdem, um sein Anliegen vorzutragen. Çetin, geboren in Berlin, 24, ist Mitglied der Jungen Islam Konferenz, eine Plattform, die sich als Reaktion auf Thilo Sarrazins gedrucktes Untergangsszenario gründete. „Deutschland schafft sich ab“ stand auf dem Cover seines 2010 erschienenen Buches. Darin ging es auch um die Migration von Menschen aus muslimischen Ländern. Doch Çetin und andere wollen lieber nach vorne blicken und sich einmischen in die gesellschaftliche Debatte über das Bild, das Deutsche vom Islam haben.
20 Millionen muslimische Gläubige leben in Deutschland, so zumindest lauten die Zahlen an den Stammtischen der Republik. Tatsächlich aber sind es weniger als fünf Millionen, wie eine Studie des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in einer Studie verdeutlicht. Anders ausgedrückt: In einem der bevölkerungsstärksten Staaten Europas gibt es etwa so viele muslimische Gläubige wie Menschen in Berlin und Köln zusammen. Doch „der Islam“ taucht immer wieder in Debatten rund um Themen wie Zuwanderung und Integration auf – meistens negativ.
Die Grenze zwischen dem, was noch Islamkritik ist, und dem, was man als Rassismus bezeichnen kann, sind dabei fließend. Die jahrelange antimuslimische Stimmungsmache jedenfalls trägt bereits Früchte.
Wenn aus Worten Taten werden
Das Problem der Islamfeindlichkeit ist groß und es wächst immer weiter, das machen die Zahlen deutlich. 813 Übergriffe gegen muslimische Gläubige und Moscheen in Deutschland hat es allein im vergangenen Jahr gegeben. Das geht aus einer Antwort des Bundesinnenministeriums hervor. Registriert wurden vor allem Schmierereien, Drohbriefe, Beleidigungen, Sachbeschädigung und Volksverhetzung.
Und obwohl die Straftaten im Vergleich zum Vorjahr sanken, stieg die Zahl der Verletzten deutlich von 32 auf 54. Die Dunkelziffer soll um das Achtfache höher sein, schätzt beispielsweise die Berliner Organisation Claim. Doch die Empörung hält sich oft in Grenzen. Mulla Çetin kennt die Berichte von Betroffenen und hat auch selber schon Anfeindungen erleben müssen.
Die Islamfeindlichkeit im Land hält Çetin für ein ernstes Problem, „das lange unterschätzt wurde“. Für viele ist die Religion zum Feindbild geworden, weil mit dem Glauben oft Negatives assoziiert wird – die Angst vor Terrorismus zum Beispiel. Und andere scheinen jede Moschee als Angriff auf die eigene Freiheit zu begreifen, ohne zu wissen, was der Islam eigentlich genau ist, geschweige denn bedeutet.
Pegida, die AfD und der wachsende Rechtspopulismus erschweren die Debatte und haben sie weiter verkompliziert. „Durch die Art, wie argumentiert wird“, sagt Çetin, „sinkt die Hemmschwelle immer weiter. Doch für den Schutz der Minderheiten zu sorgen“, fährt er fort, „ist nicht Aufgabe der Minderheiten selbst, sondern die der Mehrheitsgesellschaft.
Und dennoch wollte der junge Berliner nicht mehr „tatenlos zusehen“ und verfasste eine Petition. „Zeit für einen Beauftragten gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit“, heißt sein Aufruf. Ein Vorbild existiert schon, denn im Mai des vergangenen Jahres setzte die schwarz-rote Bundesregierung zum ersten Mal in der Geschichte des Landes einen Sonderbeauftragten für die Beziehungen zu jüdischen Organisationen und Antisemitismusfragen ein.
Die Ernennung des Diplomaten Felix Klein wurde auch als ein Zeichen nach außen gewertet, allen voran aber als deutliches Signal, dass die Politik die sich verschärfende Situation durchaus wahr- und auch ernst nimmt. Denn in Deutschland ist es wieder Alltag, dass Menschen beschimpft oder sogar angegriffen werden.
Nicht nur Gläubige betroffen
Fürspruch bekommt Çetin aus der Wissenschaft, von Bündnissen und Betroffenen. Mehr als 2400 Menschen haben die Petition inzwischen unterschrieben. Er hat sich auch an Abgeordnete gewandt. Doch die Rückmeldungen fielen sehr verhalten aus. Religion und Staat müssten getrennt werden, hieß es in den Antworten.
Für Çetin aber ist diese Argumentation nicht wirklich nachvollziehbar, weil es ihm nicht um ein religiöses Amt gehe. Auch seien vom antimuslimischen Rassismus nicht nur Gläubige betroffen, sondern alle, denen aufgrund bestimmter Merkmale, eine Religionszugehörigkeit unterstellt wird. „Schwarze Haare und Bart, heißt für viele sofort Türke oder Araber, also Muslim.“
Bei der Einsetzung solcher Sonderämter ist die Bundesregierung allerdings sparsam geworden. 38 gibt es nämlich schon, unter anderem für Schienenverkehr, Tourismus, Kindesmissbrauch, Abrüstung, Energie, Russland, Drogen. Am prominentesten ist wohl die Beauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration. Die steht in der Auflistung der Bundesregierung auch an erster Stelle.
Doch nach Aydan Özoğuz (SPD) bekleidet dieses Amt mit Annette Widmann-Mauz (CDU) seit Anfang 2018 nun wieder jemand ohne Migrationsgeschichte. Bei Çetin sorgt das für Unverständnis. „Im Merkel-Kabinett gibt es ein einziges Mitglied mit einer Migrationsgeschichte in der Familie – das ist Katarina Barley mit ihrem englischen Vater.“ Fehlende Repräsentanz und Diversität seien auch hier der Knackpunkt.
Feindseligkeiten im Parlament
Die muslimischen Gläubigen bilden zwar die größte religiöse Minderheit in Deutschland, trotzdem sind sie in der Politik kaum vertreten. Auch im Bundestag sitzen gerade einmal zwei Abgeordnete, die sich zum Islam bekennen.
„Die Fußballnationalmannschaft mit Özil, Khedira, Boateng und Co. bildete unsere Gesellschaft besser ab als es der Bundestag tut.“ Wie aber lässt sich Ressentiments begegnen? Es würde helfen, meint Çetin, jeden Menschen einzeln zu betrachten.
„Die beste Art, um Vorurteile abzubauen, ist der persönliche Kontakt. Wir müssen miteinander reden, weil wir miteinander leben. Und wir müssen Probleme benennen, dürfen aber auch nicht pauschalisieren.“ Wer eine Minderheit en bloc zum Sündenbock erkläre, der sei primitiv und demagogisch.
Doch der antimuslimische Rassismus hält mittlerweile auch Einzug in den Deutschen Bundestag, wenn die AfD-Vorsitzende Alice Weidel in einer Rede propagiert: „Burkas, Kopftuchmädchen und alimentierte Messermänner und sonstige Taugenichtse“ würden „unseren Wohlstand nicht sichern.“
Was Thilo Sarrazin angefangen hat, habe die AfD weitergeführt. Der Partei sei das gelungen, was die NPD nie geschafft habe, meint Çetin – Rassismus salonfähig machen. „Für einige Menschen ist ihre eigene Feindseligkeit heute ganz normal.“ Und auch CSU-Innenminister Horst Seehofer wird mit seinem Ausspruch „Der Islam gehört nicht zu Deutschland“ zum Gehilfen. Çetin erwidert: „Solche Aussagen interessieren mich nicht. Denn ich bin der Meinung, dass der Islam dazugehört.“
Düstere Bilder in den Medien
Auch die Sprache in den Medien sorgt nicht gerade für mehr Gelassenheit, sondern führe nur zu noch mehr Polarisierung. Benachteiligung der Frau, religiöser Fanatismus und Gewaltbereitschaft, das sind die drei Assoziationen, die mehr als 60 Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung beim Stichwort „Islam“ haben. Doch woher kommen denn diese stereotypen Vorstellungen? Meistens tatsächlich aus den Medienberichten.
„Ich wundere mich immer wieder darüber, wie über meine Religion gesprochen wird – in einer Art und Weise, mit der ich mich nicht identifizieren kann“, sagt Çetin. Und auf den Titelseiten immer wieder der Griff in die Klischeekiste; reißerische Schlagzeilen und eine düstere Bildsprache: langbärtige Männer, vollverschleierte Frauen mit Sehschlitz.
Presse, Fernsehen und Rundfunk nehmen sich dabei wenig. Talkshowtitel heißen „Allahs Krieger im Westen“ (Anne Will), „Mord im Namen Allahs“ (Maybrit Illner), „Vor welchem Islam müssen wir Angst haben?“ (Hart aber fair). Nichts anderes sagen die Titelseiten großer Nachrichtenmagazine.„Die dunkle Seite des Islam – Acht unbequeme Wahrheiten über die muslimische Religion“, hieß es beim Focus. Der Cicero fragte: „Ist der Islam böse? – Isis, Hamas, Hisbollah: Gewalt im Namen des Propheten“. Und Der Spiegel schrieb „Mekka Deutschland“, mit dem Brandenburger Tor vor pechschwarzem Hintergrund. Alles lange, bevor Pegida existierte. Alles schön dramatisch, alles schön alarmierend. Das hinterlässt Eindruck beim Publikum – allerdings einen negativen.
Çetin weiß auch, dass sich das komplexe Thema Islam nicht in 45 Minuten behandeln lässt. In den Medien brauche es deshalb andere Bilder, positive Geschichten und mehr Ausgewogenheit, erklärt er und bemüht einen bedeutungsschweren Satz, den er so wahrscheinlich nicht das erste Mal gebraucht, der aber gleichzeitig Hilflosigkeit ausdrückt – und auch ein wenig Traurigkeit über das dauernde sich rechtfertigen müssen und genauso das wenige Angenommen-Sein als Muslim in Deutschland: „Am Ende verbinden uns Gemeinsamkeiten mehr, als uns Unterschiede trennen.“
Es ist dieses Gefühl, nicht dazu zu gehören, wenig teilhaben zu können, schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu haben trotz identischer Qualifikationen und auch bei der Wohnungssuche benachteiligt zu werden.
Forderung mit neuem Schwung
Vor gut einem Monat bekam Çetins Forderung immerhin neuen Schwung – durch Aiman Mazyek, den Chef des Zentralrats der Muslime. Auch er hatte die Petition unterstützt, ein solches Amt nun als „notwendiger denn je“ bezeichnet, weil es eine „latent antimuslimische Stimmung in Deutschland“ gebe.
Linke, SPD und Grüne zeigten sich offen für die Idee. Die Unionsfraktion hingegen reagierte zögerlich. „Beharrliche Werbung für die Werte unserer Verfassungsordnung ist jetzt wichtiger als die Schaffung eines neuen Amtes“, so der Beauftragte für Religionsgemeinschaften, Hermann Gröhe. Auch die Gläubigen sind sich nicht einig. Die Forderung diene vor allem dazu, muslimische Gläubige als eine bedrohte Minderheit zu stilisieren, so Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi.
Çetin will dennoch an seiner Forderung festhalten. Von den Aufgaben eines solchen Amtes hat er auch schon genaue Vorstellungen: Prävention, Forschung und politische Bildung. Und Vermittlung zwischen den verschiedenen muslimischen Gemeinden und der Regierung. Nur auf einen Namen, eine passende Person will sich der junge Mann nicht festlegen, auch wenn ihm diese Frage schon mehrfach gestellt wurde. Doch bevor es um Personalien geht, bemerkt er, müsse das große Ganze geklärt sein.
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