Text: Micha Steinwachs — Fotos: Benjamin Jenak
„Es macht mich demütig, dabei zuschauen zu können, wie wir eine ganze Gesellschaft impfen“, sagt Franzi von Kempis. Es ist ein Satz, der ohne die Gefahr eines weltweit grassierenden Virus ein wenig seltsam klingen würde. Wenn ihr vor Ausbruch der Pandemie jemand erzählt hätte, dass sie einmal so starke Gefühle mit dem Impfen verbinden würde, hätte die Mittdreißigerin wahrscheinlich ihre markante Augenbraue hochgezogen oder gelacht, um die Skurrilität zu unterstreichen.
Dieser schmale, haarige Streifen über ihren eisblauen Augen – er ist zu ihrem Markenzeichen geworden, nachdem sie vor ein paar Jahren den YouTube-Kanal „Besorgte Bürgerin“ ins Leben rief. In Eigenregie und mit hochgezogener Braue drehte sie Erklärvideos über Quellenchecks im Internet oder klärte über Fake News auf. Von Kempis wollte anderen Fakten und Wissen gegen den ausufernden Hass im Netz liefern. Beruflich realisierte sie damals Bildungsangebote im Webvideo-Format. „Unsere Videos konnten noch so gut recherchiert sein und trotzdem ergoss sich darunter der Wahnsinn des Internets“, resümiert sie. Manchmal machte sie das sprachlos.
Um selbst besser zu verstehen, wie sie auf Falschinformationen und verbale Angriffe in den Kommentarspalten reagieren könne, startete sie 2013 den Kanal – und die Videos stehen heute bei fünfstelligen Zugriffszahlen. Aufgrund ihrer Erfahrungen als YouTuberin schrieb die Journalistin das Buch „Anleitung zum Widerspruch“. Seitdem lautet ihr Credo: „Widersprechen!“ Egal ob im echten Leben oder im Internet. „Es bringt unglaublich viel, wenn du etwas sagst. Denn es kann immer eine Person geben, die mitliest oder zuhört, für die es die Welt bedeutet, dass jemand Einspruch erhebt.“
Ungewöhnlicher Karriereschritt
Im letzten Jahr dann wurde es ruhiger um die „Besorgte Bürgerin“ und deren Netzinterventionen. Von Kempis trat einen Job bei einem großen Autokonzern an – als Managerin eines Mobility Labs und des Bereichs Gesellschaftspolitischer Dialog. Für sie ein Karriereschritt. Doch bald darauf kam Corona. Zu Beginn der Pandemie erkrankte sie an dem Virus. Eine „verstörende“ Erfahrung, wie sie damals auf Twitter mitteilte. „Ich bin 35, gesund und sportlich, aber war fünf Wochen in Quarantäne, von denen ich vier auf dem Sofa lag. Dass mich eine Krankheit so aus dem Leben kegelt, kannte ich einfach nicht“, sagt von Kempis, die auch nach ihrer Genesung kaum die Treppenstufen in den zweiten Stock ihrer Wohnung hochgehen konnte.
Einen Teil ihrer Lungenkapazität hatte sie zeitweilig durch das Virus eingebüßt. „Ich hatte Corona in einer Phase, als wir so gut wie gar nichts über die Krankheit wussten.“ In Eigenrecherche hat sie Informationen gesammelt und sich mit Symptomen wie Long Covid – also den langwierigen Folgen einer Corona-Infektion – auseinandergesetzt. Nach heutigen Maßstäben würde der Verlauf ihrer Erkrankung wahrscheinlich als mittelschwer bezeichnet werden können: keine Intensivstation und keine Beatmung durch ein künstliches Beatmungsgerät.
Viele Menschen, mit denen Franzi von Kempis über ihre Krankheit sprach, gingen deshalb auch wie selbstverständlich davon aus, dass es für sie nicht so schlimm gewesen sein könne. Ganz so, als würde die Gefahr um das Virus nur herbeigeredet. Ihre negative Erfahrung mit der Krankheit stand zudem ab dem Sommer des vergangenen Jahres im starken Kontrast dazu, dass Menschen sich deutschlandweit zusammenfanden, um gegen die politischen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie auf die Straße zu gehen – weil sie nicht an das Virus oder die Gefahren glaubten.
Innerer Drang zum Widerspruch
Für ihr Buch hat von Kempis viel Literatur über Verschwörungserzählungen gelesen. Deswegen weiß sie, dass Menschen in einer Zeit, in der sie vermeintlich die Kontrolle verlieren, nach einfachen Erklärungen suchen, um wieder ein Gefühl von Sicherheit zu bekommen. „Ich verstehe rational, warum manche Menschen nicht an die Krankheit glauben, denn es ist vielleicht einfacher, nicht an etwas zu glauben, das potentiell lebensbedrohlich ist – kann aber nicht verstehen, dass in Kauf genommen wird, mit seinem Verhalten andere zu gefährden“, meint sie.
Um aufzuklären, hat sie in persönlichen Gesprächen und auch im Internet immer wieder auf den Zusammenhang von Verschwörungsmythen und Corona aufmerksam gemacht. Auch Workshops gab die studierte Historikerin dazu. Klarheit zu schaffen ist ihr ein Herzensanliegen. „Fact-Checking“ und „Debunking“ – also falsche Quellen und Falschmeldungen aufzeigen – nennt von Kempis das. Diese Einstellung und auch ihr „Drang zum Widerspruch“ waren die Gründe, warum sie immer wieder die Gefahr einer Infektion ansprach, als es in ihrem Umfeld noch heruntergespielt wurde.
Bekannte vermittelten einen Kontakt zu den Maltesern, die eine stellvertretende Leitung für ihr Impfzentrum suchten. Innerhalb nur einer Woche im letzten Dezember meldete von Kempis ein Sabbatical bei ihrer damaligen Arbeitsstelle an und übernahm wenig später ihre neue Aufgabe im Zentrum an den Berliner Messehallen – es ist das zweitgrößte in der Stadt. Von Kempis behält den Überblick über die vielen Menschen, die täglich dort arbeiten oder ihren Impftermin wahrnehmen wollen.
Überzeugt vom Sinn ihres Tuns
„Unser Job ist es, den Menschen den bestmöglichen Impfprozess zu ermöglichen, den sie haben können.“ Widerspruch erlebe sie kaum. Die meisten Menschen, die sich in dem Zentrum impfen ließen, seien auch glücklich darüber. „Für viele ist es ein emotionaler Tag“, erklärt sie und erzählt von einer älteren Frau, die in ihrem Kalender die Tage bis zum Impftermin rot abstrich, um danach wieder ihr Enkelkind sehen zu können.
Negative Vorfälle hat es bislang nicht gegeben. Doch dass Impfzentren angegriffen werden und auf Kundgebungen gegen diese Einrichtungen gehetzt wird, entgehe ihr nicht. „Gerade in einer schizophrenen Zeit, in der wir täglich tausende Menschen impfen und gleichzeitig andere dagegen auf die Straße gehen, um das zu verhindern, hilft es mir schon, dass ich geistig davon abstrahieren kann.“
Ein bisschen pathetisch klingt es, wenn Franzi von Kempis erzählt, dass es für sie „ein riesiges Geschenk“ sei, täglich Menschen dabei zuzuschauen, wie sie immunisiert würden. Aber es klingt auch überzeugend. Und sie findet schön, dass so viele verschiedene Menschen im Impfzentrum arbeiten, die wegen der Pandemie ihre eigentlichen Jobs nicht ausüben können – Menschen aus der Veranstaltungsbranche zum Beispiel. Es ist eine Erzählung von Menschen, die in einer ungekannten Krisensituation zusammenhalten. Ihre Zeit bei den Maltesern sollte eigentlich schon vorbei sein.
Zurück in ihren Managerinnenjob möchte sie jedoch vorerst nicht. Sie will bleiben, bis die Impfzentren irgendwann nicht mehr gebraucht werden. „Das fühlt sich für mich gerade nach dem richtigen Weg an.“
Dieser Text erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe des Veto Magazins: www.veto-mag.de/gedruckt. Unsere Botschaft an alle Gleichgesinnten: Ihr seid nicht allein!