Ende der Unterdrückung — Emilia Roig

Emilia Roig will diskriminierende Strukturen aufbrechen und das System ändern. Ihren Fokus legt sie auf die Intersektionalität. Dass sie dafür immer wieder die eigene Familiengeschichte bemühen muss, nimmt sie in Kauf.
26. Juli 2021
3 Minuten Lesezeit
Text: Susanne Kailitz — Fotos: Marcel Maffei

Rund 300 Quellen umfasst das Anmerkungsverzeichnis von Emilia Roigs Buch. Die promovierte Politikwissenschaftlerin hat dafür tief in der Wissenschaftsliteratur gegraben, hat nachgelesen bei Martin Luther King, Friedrich Nietzsche und in den Publikationen des European Center for Constitutional and Human Rights. Dennoch wird „Why we matter“ allzu oft als Familiengeschichte wahrgenommen – und die Autorin des Buchs häufiger als Betroffene denn als Expertin.

Ein Paradox, mit dem Roig sich arrangiert hat, auch wenn sie sich gelegentlich darüber ärgert: „Alle in dieser Gesellschaft können von heute auf morgen Diversity Officer sein, alle können sich über diese Themen äußern ohne je ein Buch darüber gelesen zu haben. Wir sehen das nicht als relevantes gesellschaftliches Feld oder Teil der Soziologie.“

Um das zu ändern, spricht Roig wieder und wieder öffentlich über diese Themen. Und eben auch über ihre eigene Familie: Roig wuchs in einem Vorort von Paris als Tochter eines jüdisch-algerischen Vaters und einer aus Martinique stammenden Mutter auf und wurde schon als Schwarzes Mädchen mit dem tief verwurzelten Rassismus ihres Großvaters konfrontiert. In ihrem Buch schildert sie beklemmende Szenen, in denen Großeltern liebevoll mit ihren Schwarzen Enkelinnen umgingen und gleichzeitig rassistische Dinge über Schwarze und arabische Menschen sagten.

Das sind Dinge, die in Talkshows für Aufmerksamkeit und Erstaunen sorgen. Roig sagt, sie bereue es nicht, so offen mit ihrem privaten Hintergrund umgegangen zu sein. „Ich musste darüber sprechen. Aber ich merke an der Art und Weise, wie so sehr darauf fokussiert wird in den meisten Interviews der gängigen Medien, dass wir an der eigentlichen Thematik vorbeigehen.“ Sie führe das Beispiel ihres Großvaters an, „um zu zeigen, dass diese Systeme über den Menschen hinaus gehen. Das heißt: Auch wenn es bei der AfD viele liebe Opas gibt, bleibt die AfD eine sehr gefährliche Partei.

Veränderung der Verhältnisse

Der Kern ihrer beruflichen Arbeit ist es, den Blick darauf zu lenken, wie sich Unterdrückung in allen Sphären des gesellschaftlichen Lebens manifestiert. Das Instrument, um diesen Zustand zu ändern, ist Intersektionalität – also eine Perspektive auf die Wechselbeziehungen sozialer Ungleichheit und Unterdrückung und die Beschreibung ihres Zusammenspiels. In ihrem Buch schreibt Roig dazu, ihr familiärer Background, ihre Lebenserfahrungen und ihre Arbeit hätten sie dazu gebracht, „das engmaschige Gefüge des kapitalistischen, patriarchalen, auf der weißen Vorherrschaft basierenden Systems zu dekonstruieren“ und „ein anderes Narrativ zu artikulieren“.

Dieses andere Narrativ, das Roig beschreibt, ist eines, dass unserer so tief gespaltenen Gesellschaft vermutlich sehr gut tun würde. Denn Roig spricht deutlich über das System von Rassismus und Unterdrückung und die gesellschaftlichen Muster, die dazu führen, dass viele marginalisierte Menschen ausgeschlossen und diskriminiert werden. Sie sagt klar, dass es mit Einschränkungen für weiße Menschen, die der Dominanzgesellschaft angehören, einhergehen muss, dieses System zu verändern: „Ja, sie werden nicht mehr die gleiche Freiheit haben, sich ohne Konsequenz rassistisch und sexistisch zu äußern. Das ist eine Einschränkung ihrer bisherigen Freiheit, aber diese Freiheit geht einher mit der Freiheit der anderen, die bisher mit Füßen getreten wurde.“

Emilia Roig im Portrait.

Gleichzeitig betont Roig aber auch das Konstruktive, das aus einer Veränderung der Verhältnisse hervorgehen könnte. „Klar, sie verlieren etwas, wir gewinnen etwas. Aber es gibt dabei auch eine immaterielle Ebene, die eine große Rolle spielt. Ich glaube nicht, dass Männer in unserer Gesellschaft glücklicher sind als Frauen, weil das Patriarchat einfach der Seele schadet. Wenn sich das ändert, gewinnen sie auch: Freiheit, emotionale Verbundenheit.“

Kampf gegen Unterdrückung

Das Ende der Unterdrückung sei kein Nullsummenspiel, „das Ende der Unterdrückung kann auch eine Win-win-Situation sein. Aber viele Menschen sind sich dessen nicht bewusst und halten so stark fest an ihrer Macht, weil sie Angst haben, sonst keinen Platz in unserer Gesellschaft zu haben.“ Emilia Roig möchte diese Sicht aufbrechen. Mit ihren Büchern, Talkshow-Auftritten und vor allem ihrer Arbeit für das „Center for Intersectional Justice“, das von ihr in Berlin gegründet wurde und das sich als gemeinnütziger Verein darum bemüht, Gleichstellungs- und Anti-Diskriminierungsarbeit in Deutschland und Europa um eine intersektionale Perspektive zu erweitern, indem es Lobbyarbeit betreibt, Trainings und Workshops anbietet und forscht und publiziert.

Die Enddreißigerin sieht, dass diese aktivistische Arbeit Früchte trägt, auch wenn ihr das alles noch zu langsam geht. „Dass wir mehr über Themen von Unterdrückung und Rassismus sprechen und eine größere Anzahl von Menschen sagt, sie könne es nicht mehr hören: Das läuft nicht parallel, das ist eine Reaktion. In unserer Gesellschaft kommen jetzt Menschen zu Wort, die bisher nicht zu Wort kamen und damit sind auch mehr Menschen mit diesem Thema konfrontiert. Und dann gibt es als Trotzreaktion eine Empörung. Das ist eine gute Nachricht, weil es zeigt, dass wir vorankommen. Sonst hätten sie keinen Grund, sich zu beschweren.“

Emilia Roig sagt, es sei das Ziel ihrer Arbeit, eine Lücke in der politischen Landschaft und auch in der Zivilgesellschaft zu schließen – und so Diskriminierung effektiver zu bekämpfen und den Diskurs zu verändern. Sie strebe einen Paradigmenwechsel an, „der uns erlaubt, in einer Art und Weise über Diskriminierung zu sprechen, die sich nicht mehr nur auf die individuelle Seite von Diskriminierung fokussiert, sondern wirklich eine systemische Perspektive auf das Problem wirft“. So könne auf lange Sicht etwas entstehen, das gut für alle Menschen ist: eine gerechte Gesellschaft.

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