Text: Tom Waurig — Fotos: Benjamin Jenak
Freitagfrüh um kurz vor 7 Uhr rollt der Zug am Bahnhof in Gera ein. Schnell leeren sich die Abteile des Großraumwagens. Mit zügigen Schritten verlassen die Reisenden den Bahnsteig. Unter ihnen ein Künstler – unscheinbar gekleidet mit Blaumann und Basecap. Mit angewinkeltem Arm stützt er einen großen Packen zusammengerollter Plakate. Eine Folienhülle schützt die handgeschriebenen Lettern.
Auf dem Bahnhofsvorplatz holt er ein gefaltetes Blatt Papier aus seiner Hosentasche – ein Schwarz-Weiß-Ausdruck einer Straßenkarte. Seine Route hat er schon im Voraus eingezeichnet und das Ziel mit einer Stecknadel markiert: die Johannisstraße, nahe dem Justizzentrum der Stadt. Nicht mehr als zehn Minuten zu Fuß sind es bis dorthin. Es geht quer durch einen begrünten Park, vorbei an Geras größter Kirche und alten, grauen Plattenbauten, die aus DDR-Zeiten geblieben sind.
In den Straßen rund um das Landgericht sind zu dieser frühen Stunde nur wenige Menschen unterwegs. Die meisten haben es eilig, Geschäfte sind noch geschlossen. Nur die Bäckereien und Cafés in der Innenstadt bedienen schon ihre Kundschaft. Das überschaubare Publikum ist für den Künstler mehr Segen denn Fluch.
Sein Name: Dies Irae, lateinisch für „Tag des Zorns“. Er selbst sieht sich als politischer Interventionskünstler und ist Teil eines Kollektivs, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, öffentliche Plakatflächen zu kapern. „Adbusting“ heißt dieses Konzept, bei dem die Aussagen der Werbeindustrie verändert oder überklebt werden.
Bekannt geworden ist Dies Irae spätestens mit seinem Gastspiel im sächsischen Freital. Im Juli 2015 tauschte er die Werbung in Bushaltestellen gegen schwarz-weiße Poster mit provokanten Sprüchen gegen rechts.
Lustig und doch ernst
Doch angefangen hat alles schon sehr viel früher, vor ungefähr sechs Jahren. Dies Irae störte sich damals schon an den Massen von Werbeplakaten in seiner Stadt. Er war genervt von den platten Botschaften und wollte etwas dagegensetzen. Sein größter Kritikpunkt ist, dass finanzstarke Konzerne den öffentlichen Raum in Besitz nehmen würden, ohne dass es darüber eine Diskussion gebe.
Er spricht vom Verlust an demokratischer Kontrolle: „Wer am meisten Geld auf den Tisch legt, entscheidet darüber, was wir den ganzen Tag sehen müssen. Wir sind zum Zuschauen verdammt und ich finde es wirklich bemerkenswert, dass wir das einfach so hinnehmen.“ Fast-Food-Ketten, Mobilfunkanbieter, Bekleidungsunternehmen oder Autokonzerne werben so gut wie überall mit bunten Bildern und knappen Schlagzeilen. Eine „Horror-Bildershow“, findet Dies Irae .
„Adbusting“ hält der Künstler deshalb für eine legitime Form des Protestes. „Obwohl alle wissen, dass Werbung fast immer übertreibt, nehmen wir es trotzdem hin, dass solche Botschaften im öffentlichen Raum aufgehängt werden.“ Dies Irae geht es aber um mehr als das Verfremden. Er will vielmehr eigene Themen setzen.
Hintergrund seiner Aktion in Gera sind die 16-monatigen Ermittlungen von Staatsanwalt Martin Zschächner gegen das „Zentrum für Politische Schönheit“. Der Vorwurf: Bildung einer kriminellen Vereinigung. Im November 2017 hatte die Gruppe eine Nachbildung des Berliner Holocaust-Mahnmals in unmittelbarer Nachbarschaft zum Wohnhaus von AfD-Politiker Björn Höcke in Bornhagen aufgestellt und damit für viel Aufsehen gesorgt. Die Ermittlungen wurden jedoch ergebnislos eingestellt, nachdem sie öffentlich wurden.
Kritik an der Justiz
Für Dies Irae steht die Aktion in Gera daher unter dem Motto Solidarität. Er will auf eine „absurde Strafverfolgung“ aufmerksam machen. Nicht ohne Grund platziert er die Plakate also in unmittelbarer Nähe zum Landgericht. Fünf Tage hat der Künstler allein mit der Vorbereitung verbracht – denn seine Motive entstehen alle in Handarbeit.
Auch die Städte besucht er immer schon vorher, um nicht planlos umherzuirren. Nervenkitzel sei bei jeder Aktion dabei, verrät er. Doch selbst wenn er erwischt würde, drohen kaum strafrechtliche Konsequenzen. „Adbusting“ ist nämlich eine Grauzone. Sachbeschädigung jedenfalls ist es keine. Das passende Werkzeug hat sich Dies Irae im Baumarkt besorgt – kein Brecheisen etwa, nur ein gewöhnlicher Inbusschlüssel.
Bevor es richtig losgeht, zieht der Künstler noch eine orangefarbene Warnweste über. Die Aktion erregt gerade deshalb so wenig Aufsehen, weil sie täuschend echt aussieht – ganz so, als sei er von einer Firma beauftragt worden, die Plakate in den Werbekästen auszutauschen. Der Ablauf ist zigmal geprobt und schon fast Routine. Alles wirkt erstaunlich unaufgeregt. Im Handumdrehen öffnet er die gläsernen Werbekästen.
Die großformatigen Plakate im Innern hängen an einer langen, metallenen Schiene. Dies Irae tauscht sie nicht aus, sondern hängt seine eigenen künstlerischen Werke einfach darüber. Das ist manchmal schon ein bisschen Friemelei. Neun Plakate mit gleich vier unterschiedlichen Motiven hat er in Gera dabei. „Staatsanwaltschaft Gera will Rechts-vor-Links-Schilder im Gerichtssaal“ ist unter anderem darauf zu lesen.
Plakate mit Nachhall
Die Kosten für das Material und die vielen Fahrten quer durchs Land trägt er allein. „Das ist mein ganz persönlicher Aktivismus“, sagt er. Menschen, die klettern, müssten genauso ihre Ausrüstung bezahlen. Zustimmung, Diskussionen und Nachahmung sind der Lohn des Einsatzes, der in Gera nicht länger als eine halbe Stunde dauert. „Als Kunstschaffende müssen wir zusammenhalten und dürfen uns nicht die Butter vom Brot nehmen lassen“, sagt er.
Dies Irae stand selbst schon im Fokus der thüringischen Justiz. Nachdem er 2016 Plakate in Erfurt aufgehängt hatte, die AfD-Politiker Björn Höcke als „nationalistischen Rattenfänger“ zeigten, erstattete der Anzeige wegen Beleidigung. Die Polizei in Erfurt nahm daraufhin Fingerabdrücke von den Plakaten und ließ sogar DNA-Spuren auswerten, wie der Künstler erzählt. Die Staatsanwaltschaft allerdings kam zu dem Ergebnis, dass die Aktion in Erfurt von der Meinungs- und Kunstfreiheit gedeckt ist.
Diesem Vorwurf wird sich Dies Irae auch in Gera erwehren müssen. Denn auch hier waren seine Plakate nur für wenige Stunden in den Werbekästen in der Innenstadt zu sehen – so lange, bis die Polizei die Großformate nach knapp zwei Stunden sicherstellte. Sowohl die betroffene Werbefirma als auch der Staatsanwalt Martin Zschächner erstatteten Anzeige. Ein Gericht in Gera muss nun klären, ob es sich bei den Plakaten des Künstlers tatsächlich um eine Straftat handelt.
Doch all das passiert, als der Künstler schon längst wieder im Zug nach Hause sitzt und die Fotos seiner Aktion in den sozialen Netzwerken verbreitet. In aller Stille verfolgt er die Reaktionen vor Ort und die Aufregung im Netz. Eines wird ihm dabei wieder einmal deutlich: Seine Kritik kommt an, egal wie lange die Plakate auch hängen bleiben – denn im Netz wird sie niemand so schnell los.
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