Text: Eva Weber — Fotos: Anne Wild
Wenn Sofija, 19, loszieht, um sich neue Straßenmalkreide zu kaufen – ein kleiner Eimer mit Plastikhenkel, 20 Stück bunte Kreide, 1,99 Euro –, dann ist es wieder Zeit für ihren Protest gegen den Sexismus im Alltag, in München, in ihrer Heimatstadt. Gemeinsam mit Ege, 21, und Julia, 16, schreibt sie die herablassenden Sprüche auf die Straße, mit denen Frauen in aller Öffentlichkeit belästigt wurden – und zwar nach Möglichkeit genau dort, wo die Worte gefallen sind. Das Trio kennt sich gut, die drei sind schon zusammen zur Schule gegangen.
„catcallsofmuc“ heißt ihr Projekt, das sie seit Mai 2019 gemeinsam bei Instagram und auf den Straßen der bayerischen Landeshauptstadt öffentlich machen. Warum? „Es geht Frauen – verglichen mit anderen Ländern – in Deutschland gut. Doch sie werden nach wie vor anders oder als Objekte behandelt und aufs Aussehen reduziert. München ist so eine schöne und auch scheinheilige Stadt, und sie hat damit ein Problem“, sagt Sofija.
Das weiß sie auch aus eigener Erfahrung: Sofija war 13, als sie mit ihren Freundinnen im Schwimmbad von einer Gruppe deutlich älterer Männer im Strömungskanal angefasst wurde. „Wir haben alle so getan, als wäre nichts passiert, weil es uns so peinlich war. Erst als wir aus dem Schwimmbad raus waren, hat die erste gefragt: ‚Ist dir das eigentlich auch gerade passiert?‘“ Dann, mit 14, spricht sie ein Fremder auf offener Straße an: „Du bist wahrscheinlich 20 und kannst jetzt mit zu mir kommen.“
Wenn Mädchen belästigt werden
Die Sprachlosigkeit von damals hat sie überwunden – und gibt jetzt all denen eine Stimme, die ihre Erfahrung bei Instagram als Nachricht an „catcallsofmuc“ senden. Innerhalb von vier Monaten sind auf diesem Weg 120 Geschichten bei den dreien angekommen. Von „Willst du einen Gangbang?“ über „Geile Titten, Alter!“ bis hin zu „Mit dir hab‘ ich eh nicht geredet, du hässliche Schlampe!“ ist alles dabei, auch Geschichten von versuchter Vergewaltigung und blauen Flecken.
Eine einzige Zuschrift kommt von einem Mann – er wurde als 13-Jähriger von einer älteren Frau gefragt: „Willst du mit mir bumsen?“
Alle Sprüche, die sie mit Kreide auf den Boden schreiben, halten sie in einem Foto fest und stellen sie zusammen mit einer anonymisierten Nachricht, in der die Opfer ihre Geschichten erzählen, bei Instagram ein. Knapp 3000 Menschen folgen dem Trio dort.
Am häufigsten liest das „catcallsofmuc“-Team Geschichten von 12- oder 13-Jährigen, die von Männern jenseits der 60 belästigt wurden. „Zeig mal, ob du unten auch so schöne rote Haare hast“ heißt es dann, oder „Wieviel kostet es denn bei dir?“ Die Mädchen reagieren in der Situation meist mit einem schweigenden Lächeln – ein Schutzmechanismus. „Ich will Frauen stärken. Ich will, dass sie das Problem sehen und auch erkennen, dass sie dieses Problem nicht alleine haben“, meint Sofija.
Und die Männer? „Männer möchte ich sensibilisieren. Ihr könnt flirten, ihr könnt Mädchen anmachen – aber macht es auf respektvolle Art und Weise. Menschen sind unterschiedlich, und sie sind auch unterschiedlich sensibel.“ Deshalb zensieren die drei beim Malen alle Begriffe unter der Gürtellinie und schreiben zu jedem Spruch #stopptbelästigung dazu.
Worte werden nur selten bestraft
„Catcall heißt es zum Beispiel, wenn hinterhergerufen oder gepfiffen wird“, bemerkt Sofija. Irritierten Menschen erklärt sie immer wieder ihr Anliegen und erntet dafür viel Lob, auf der Straße wie im Internet – und gerade auch von Männern. „Ich führe aber genauso Gespräche darüber, dass es wohl nur noch ‚Mäuschen‘ gebe und keine selbstbewussten Frauen mehr. Das ist Quatsch! Belästigung ist es immer dann, wenn sich die angesprochene Person belästigt fühlt – das hat rein gar nichts mit Selbstbewusstsein zu tun,“ findet Sofija.
Die aktuelle Gesetzeslage in Deutschland definiert das allerdings anders. Vor drei Jahren erst wurde das Sexualstrafrecht noch einmal verschärft. Im November 2016 trat das Gesetz zur Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung in Kraft. Mit dieser neuen Regelung fällt auch die sexuelle Belästigung unter Strafe – das „Begrapschen“ also, wie es die Bundesregierung in ihrer Erklärung formulierte.
Unterschrieben haben dieses Gesetz der frühere Bundespräsident Joachim Gauck, Bundeskanzlerin Angela Merkel, Ex-Innenminister Thomas de Maizière (beide CDU), der damalige Justizminister und Neu-Außenminister Heiko Maas und Manuela Schwesig (beide SPD), die bis 2017 das Familienministerin führte.
Worte können nach wie vor nur dann zu einer Verurteilung führen, wenn sie eine Beleidigung beinhalten. Sich diese Kluft bewusst zu machen und auch noch selbst aktiv zu werden, das war für die drei hinter „catcallsofmuc“ ein Prozess. „Die #metoo-Debatte hat viele zum Nachdenken gebracht“, sagt Sofija, „auch mich.“
Als die Vorfälle öffentlich werden
Ausgelöst wurde diese Debatte von Schauspielerinnen, die ab Oktober 2017 ihre Erfahrungen mit dem US-amerikanischen Produzenten Harvey Weinstein – sexuelle Belästigung, Vergewaltigung, Drohungen – in den sozialen Netzwerken teilen.
Auch in Deutschland gehen Frauen mit ihren Geschichten aus der Filmbranche an die Öffentlichkeit. Schauspielerin Nina Brandhoff zum Beispiel sagt in einem Gespräch mit Spiegel Online, dass ein Kollege ihr während einer Drehpause das T-Shirt hoch gezogen habe, um darunter zu schauen. Von einem Regisseur, der ihr eine Rolle in Aussicht stellte, habe sie außerdem den Satz zu hören bekommen: „Ich würde jetzt gern deine Brüste aus deinem Ausschnitt holen und daran herumspielen.“
Doch nicht nur Prominente melden sich seit der Weinstein-Affäre zu Wort. Unter dem Hashtag #metoo schließen sich Frauen weltweit an und machen ihre Erfahrungen öffentlich. Auch Sofija verfolgt das aufmerksam. „Die Bewegung hat das notwendige Bewusstsein geschaffen und gezeigt: Alle sind betroffen – genauso verheiratete, erfolgreiche Frauen mit Kindern.“ Zu dieser Zeit ergibt eine Umfrage des Instituts YouGov, dass in Deutschland 43 Prozent aller Frauen schon Erfahrungen mit sexueller Belästigung gemacht haben.
Gerade die Filmbranche, durch die vieles überhaupt erst an die Öffentlichkeit kam, tut sich schwer mit der Auseinandersetzung. Nur wenige männliche Schauspieler nehmen Stellung, viele schieben das Problem weg, relativieren oder versuchen es kleinzureden.
Eine Idee, die aus New York kam
Ege und Sofija haben den künstlerischen Protest von einer USA-Reise mitgebracht. Als sie im Frühjahr 2019 mit dem Münchner Jugendprogramm „Youthbridge“ nach New York reisten und dort mit den Verantwortlichen von „catcallsofny“ins Gespräch kamen, war Sofija sofort Feuer und Flamme für die Idee, den alltäglichen Sexismus auf den Straßen sichtbar zu machen. Ege war es auch, obwohl der junge Mann noch keinerlei Erfahrung mit sexueller Belästigung gemacht habe. „Er war völlig schockiert und wollte schon deshalb unbedingt dabei sein“, erinnert sich Sofija an die Begegnung im April.
Wie es mit ihrem Projekt weitergeht, wissen die drei noch nicht – nur, dass es in jedem Fall fortgeführt werden soll. Ege steht am Beginn seines Studiums, Julia geht noch zur Schule und Sofija will ihre freie Zeit zwischen Abitur und Studium verlängern und weiterhin mit der Kreide in der Hand losziehen. Inzwischen hat der Straßenprotest sogar das Interesse des bayerischen Sozialministeriums geweckt. „Mal sehen, was sich da noch entwickelt“, meint Sofija „vielleicht ein Verein für Prävention und Beratung oder vielleicht auch eine inhaltliche Erweiterung der Aktionen. Wir sind offen für alle und alles, für Männer, Frauen, Homophobie, Rassismus, Antisemitismus.“
Wichtig ist Sofija vor allem eines: „Ich wünsche mir sehr, dass die Nachrichten an uns nicht mehr beginnen mit ‚Ich hatte XY an, als es passierte‘.“ Solange werden noch viele Eimer voll Kreide auf Münchens Straßen zu einem bunten Mahnmal – zumindest bis zum nächsten Regen.
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