Im Schatten — Caspar Tate

Prekäre Arbeitsbedingungen, Anfeindungen und Gewalt gehören für viele Sexarbeitende in Deutschland zum Alltag. Trans Personen sind davon besonders betroffen. Und Aussicht auf Veränderung gibt es kaum.
10. August 2023
5 Minuten Lesezeit
Text: Ulrike Polster — Fotos: Benjamin Jenak

2. Januar 2022, spätabends in Berlin. Im Dunkeln wirkt das Café Berio recht unscheinbar. Es geht fast unter inmitten all der grellen Leuchtreklamen und bunten Regenbogenflaggen, die die Straßen zieren. Und dennoch muss sich das Berio keine Sorgen machen, übersehen zu werden. Schließlich hat es Kultstatus und gilt als einer der ältesten Treffs für die LGBTQIA*-Community im Stadtteil Schöneberg. Auch Caspar Tate ist oft zu Gast. Entspannt sitzt er auf einem roten Samtsofa im Obergeschoss des Cafés – und bestellt einen Latte Macchiato. Im Gespräch mit dem Kellner verfällt der Deutsch-Amerikaner immer mal wieder ins Englische.

Seit inzwischen fast vier Jahren engagiert er sich bei trans*sexworks, einem Berliner Projekt für trans und nicht-binäre Sexarbeitende. Caspar Tate will Sexarbeit entstigmatisieren und trans Personen stärken, vor allem Frauen, die mit sexuellen Dienstleistungen – sei es Porno, Bordell oder Escort – ihr Geld verdienen. Das Projekt gibt es aber schon länger. Gegründet wurde es von Emy Fem und KAy Garnellen vor mehr als acht Jahren. „Damals gab es in ganz Deutschland kein vergleichbares Projekt, dabei ist Sexarbeit in der trans Community durchaus verbreitet“, beschreibt Caspar Tate, der mit 15 sein Coming-Out hatte.

Städtische Angebote und Beratungsstellen für Sexarbeitende gebe es zwar schon, trans oder nicht-binäre Personen seien aber oft nicht mitgemeint – und würden so unsichtbar gemacht. Wiederholt sei bei Hilfesuchenden der Eindruck entstanden, die Einrichtungen hätten wenig Ahnung von queeren Themen. „Eine Sozialberatung, die sich speziell an trans und nicht-binäre Sexarbeitende richtet, gibt es nicht. Diese Menschen fallen einfach durchs System.“

In einigen Beratungsstellen hätten trans Personen zudem Diskriminierung erfahren. Caspar Tate und das Projekt wollen genau für diese Menschen da sein. „Wir stehen in Kontakt mit den Sexarbeitenden im Kiez. Denn nur so sehen wir, wie es ihnen geht. Und nur so können wir ein Vertrauensverhältnis aufbauen.“ Die persönliche Nähe unterscheide das Projekt von anderen Hilfsangeboten. „Andere Stellen sind meist nur tagsüber erreichbar, nicht aber am Abend oder nachts. Auch intervenieren sie nur, wenn die Sexarbeitenden sie direkt aufsuchen.“

Beratungsstellen seien oft nicht sensibilisiert für die Arbeit mit mehrfach marginalisierten Gruppen, weiß Caspar Tate. „Wir arbeiten mit Frauen, die ihren Lebensunterhalt auf dem Straßenstrich verdienen, die wegen ihrer sexuellen Identität angefeindet werden und Gewalt erfahren. Sie kommen oft aus Bulgarien, Ungarn oder Rumänien, sprechen deshalb wenig Deutsch. Viele haben deshalb keine Meldeadresse.“

Kondome und Masken

Mehrmals in der Woche sind die Engagierten von trans*sexworks auf den Straßen Berlins unterwegs. Caspar Tate schaut auf die Uhr und trinkt den letzten Schluck Kaffee. Fünf bis sechs Menschen arbeiten ehrenamtlich und in unterschiedlicher Besetzung beim Projekt. Für die aufsuchende Arbeit gibt es ein zusätzliches Team mit über 20 Engagierten. In einer Nacht im Januar 2022 ist Chandler mit auf „Nachtschicht“. Unterwegs sind sie per Lastenrad, dem der Berliner Künstler Rory Midhani einen ganz individuellen Charakter gegeben hat. Geladen haben sie Kondome, Gleitgel, Taschentücher, Parfum, Shampoo, sterile Nadeln und Spritzen, während der Pandemie auch Masken und Desinfektionsmittel. Alles auf Spendenbasis.

Zwei bis drei Stunden planen sie für die nächtliche Tour ein. Der Gehweg ist dreckig, es riecht nach Urin. „Berlin halt“, meinen sie achselzuckend. Schnell voran kommen sie nicht. Immer wieder müssen sie schieben und mit dem schweren Rad Männern ausweichen: Freier, Drogendealer, Zuhälter. Drei Sexarbeiterinnen sind auf der Straße gegenüber unterwegs. „Gesundes neues Jahr“, wünschen sie in gebrochenem Deutsch und drängen sich aufgeregt um das Lastenrad. Chandler öffnet die Transportboxen, beleuchtet sie mit dem Handy. Die Frauen stecken Schokoriegel, Kondome und OP-Masken in ihre mit Nieten versetzten Handtaschen. Und sie erzählen vom Geschäft: „Nicht viel los.“ Sie lächeln trotzdem.

Auch der Platz rund um die Apostelkirche, sonst ein beliebter Treffpunkt und Hochburg der Prostitution und Sexarbeit, ist wie ausgestorben. „Corona hat die ohnehin oft beschissene Situation für die Frauen nochmal um einiges verschlechtert“, so Caspar Tate. „Sexarbeitende werden in der Gesellschaft ja schon länger als Krankheitsübertragende stigmatisiert“, erzählt er. Mit der Ausbreitung des Virus stieg außerdem die Angst bei anderen, sich zu infizieren. Doch sind es die Sexarbeitenden selbst, die sich der Gefahr einer Infektion aussetzten.

Um sie besser zu schützen, organisierte das Team von trans*sexworks Impfaktionen am Straßenstrich – und das mit Erfolg. Der finanzielle Druck jedoch blieb, ein Nein konnten sich viele nicht leisten. „20 Euro sind besser als nichts“, kennt Caspar Tate die Verzweiflung der Frauen. Viele sammelten nebenbei Pfandflaschen, um sich so über Wasser zu halten. Andere hätten ihre Dienste auf Escort-Seiten angeboten, „aber das ist nur denen möglich, die auch das technische Equipment dafür haben und dieses bedienen können“.

Fehlende Arbeitsplätze

Mit den im März 2020 verabschiedeten Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie wurde Sexarbeit so gut wie überall in Deutschland verboten: Prostitutionsstätten, Bordelle und ähnliche Einrichtungen mussten schließen. „Vielen Frauen wurde die Existenzgrundlage genommen, sie können ihre Miete nicht mehr zahlen und landen auf der Straße.“ Staatliche Hilfen griffen damals zudem kaum: „Sexarbeitende mit Wohnsitz in Deutschland gelten als Solo-Selbstständige“, erklärt Caspar Tate. Sie hätten also theoretisch Anspruch auf finanzielle Hilfen. Was ihnen aber oft fehlt, ist eine gültige Meldeadresse.

Rund um die Berliner Kurfürstenstraße seien mit Ausbruch der Pandemie zudem verstärkt Polizeistreifen unterwegs gewesen. Das verschreckte die Kundschaft. Sicherer sei es für die Frauen trotzdem nicht geworden – im Gegenteil. „Hält doch mal jemand, muss es schnell gehen: Statt wie früher die Konditionen ordentlich zu verhandeln – Verhütung, Preise, No-Gos – steigen die Frauen einfach ins Auto der Männer. Dabei sind die ersten Minuten wichtig, um abschätzen zu können, ob jemand zum Beispiel alkoholisiert ist.“ Dementsprechend wurden die Sexarbeitenden in Situationen gezwungen, die durchaus gefährlich werden können.

Auch an anderer Stelle hakt es. Seit Jahren schon fordern Sexarbeitende Verrichtungsboxen ein. Als Antwort darauf ließ die Stadt Berlin vier mobile Toilettenhäuschen aufstellen. Eines davon an der Apostelkirche. Für einige Frauen ist es ihr Arbeitsplatz. Auf dem Bretterboden liegt ein benutztes Kondom, die Wände sind mit Graffiti beschmiert. „Die Arbeitsbedingungen werden so widrig wie möglich gestaltet. Die Existenz der Frauen hier im Kiez wird bekämpft, anstatt dafür zu sorgen, dass sie ihren Beruf sicher und auch menschenwürdig durchführen können.“ Ohnehin gehöre die Sexarbeit zur Geschichte des Viertels.

Der Straßenstrich um die Kurfürstenstraße existiere schon seit 1885. Im Kiez allerdings entstünden immer mehr Neubauwohnungen, die an junge, wohlhabende Familien vermietet würden. „Und die wollen keine Sexarbeitenden vor der Haustür haben.“ Ein paar hundert Meter von ihm entfernt knallen Autotüren, Caspar Tate zuckt zusammen, schaut sich um. „Sicher ist es hier nicht.“ Er erzählt von gezielten Angriffen aus der Nachbarschaft: rohe Eier oder Glasflaschen, die aus den Fenstern fliegen, kaltes Wasser, mit dem die Sexarbeitenden im Winter übergossen werden. „Wenn wir die Polizei rufen, kommt hier niemand.“

Trans Frauen treffen er und Chandler aber an diesem Abend kaum. Sie zu erreichen, werde immer schwerer. Sie sind nicht gewollt, erfahren außerdem deutlich mehr Gewalt als ihre cis Kolleginnen. Also suchen sie in anderen Vierteln ihr Glück. „Viele Menschen außerhalb unserer Blase meinen, den Frauen helfen zu müssen. Sie vermuten Zwang und Ausbeutung hinter jeder Form von Sexarbeit. Und sicher, das gibt es auch. Aber dass sich Menschen frei dazu entscheiden, können sich viele nicht vorstellen“, meint Caspar Tate. „Aber hier wartet niemand auf Rettung. Wir warten nur auf Gleichberechtigung und faire Arbeitsbedingungen.“

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