Text: Anna Klinge — Fotos: Timo Knorr
Broschüren stapeln sich auf dem Tisch, Bücher füllen die Regale, Fotografien der Fankurve des Erstligisten und traditionsreichen Fußballklubs Werder Bremen die Wände. Während Antje Grabenhorst inmitten dieser Erinnerungen von vergangenen Jahren und ihrer Begeisterung für eine feministische Fankultur erzählt, kommen immer wieder neue Pläne zur Sprache. Antje Grabenhorst strahlt Ruhelosigkeit aus. Sie könnte sich zurücklehnen, entspannt auf Erreichtes zurückblicken, wären da nicht noch all die Dinge, die getan werden müssen, damit ihre Vision endlich Wirklichkeit werden kann: Fußball und Fankultur für alle.
„Ich wollte immer schon ein Junge sein“. So beginnt Grabenhorsts Erzählung von ihrer ersten Begegnung mit Fußball. Schon die Jungs im Kindergarten hätten gemeinsam gefachsimpelt, zusammen gespielt und diskutiert, welches Team das Beste sei. Da wollte sie dabei sein. Zur Wahl hätten Bayern München, Borussia Dortmund und Werder Bremen gestanden. Für Antje Grabenhorst war klar: „Den Underdog, den will ich unterstützen“. Eine Entscheidung, die für die Bremerin – bewusst oder unbewusst – noch Jahre später von Bedeutung sein soll.
Schon als Kind sei sie mit ihrem Hobby zurückgewiesen worden. Ein Mädchen spielt keinen Fußball, ist kein Fußball-Fan, ein Mädchen ist nicht laut – so lauteten die Zuschreibungen von Mitspielenden, Gleichaltrigen und Lehrenden. „Ich hatte das Gefühl, nie richtig meinen Platz zu finden“, erinnert sich Antje Grabenhorst zurück. Trotz der fehlenden Akzeptanz beginnt sie, Kader auswendig zu lernen, Spielergebnisse zu verfolgen. Der Fußball wird zur Leidenschaft und schon im Grundschulalter ein Fluchtort, weil die Familiensituation für sie schwierig ist.
Mit elf Jahren beginnt sie in ihrem Heimatverein das Fußballspielen. Antje Grabenhorst und ihre Freundin sind die einzigen Mädchen im Team. Und die Kommentare begleiten sie ständig: „Obwohl meine Freundin die Beste im Team war, spielte sie immer bloß ‚gut für ein Mädchen‘“. Antje Grabenhorst verdreht die Augen. Das Gefühl, dass das so nicht sein sollte, hat sie auch damals schon. Ihr Sinn für Gerechtigkeit treibt sie schon im jungen Alter an – in der Schule bringt sie sich als Streitschlichterin und in der Gesamtschulvertretung ein. „Damals habe ich mir von Ghandi bis zur RAF alles durchgelesen“, erzählt sie und lacht. Irgendwo dazwischen habe sie die Werte und Themen gefunden, für die sie bis heute einsteht: Gleichberechtigung vor allem. Mit 16 vertritt sie ihre Interessen lautstark auf Demonstrationen, später im Stadion.
Der linke Aktivismus bringt sie schließlich auch in Kontakt mit den Ultras von Werder Bremen. Ihre laute, aneckende Persönlichkeit passt bestens in die Kurve. Zusammen springen, singen, für Spiele durch das ganze Land fahren und für politische Werte eintreten. Die Bremerin wird kurz still und stockt. „Die Gruppe war für mich ein Safe Space, eine Familie.“ Eine der damals bekanntesten weiblichen deutschen Ultras bringt Grabenhorst schnell mit nach ganz vorne – Anfang der 2000er sind Frauen in den Fankurven noch eine Seltenheit. Mit ihrer Fan-Freundin findet Antje Grabenhorst eine weibliche Repräsentation an dem Ort, an dem sie zuvor immer wieder auf Zurückweisung gestoßen war.
Übergriffigkeit ahnden
„Gerade der Blick raus aus meiner Gruppe hat gezeigt, dass Sexismus und sexistische Gewalt auch vor der Tribüne keinen Halt machen“, verdeutlicht Grabenhorst. Die männliche Dominanz im Stadion befördere oftmals sexistisches Verhalten, meint die Aktivistin. Die fremde Hand am Hintern, anzügliche Kommentare zum Aussehen, das Hinterherpfeifen. Sie wollte etwas daran ändern. Und ihr Studium in Gender-Studies bringt Antje Grabenhorst dazu, Vorträge über den Zusammenhang von Fußball und Geschlecht zu halten. Die Motivation: Missstände aufzeigen und mehr Gleichberechtigung im Umgang miteinander schaffen.
Grabenhorst führt diesen Kampf nicht nur für sich selbst und ihr jüngeres Ich, sondern auch für andere Minderheiten im Fußball. „Ich war immer schon sehr absolut und bedingungslos“. Ein Jahr lang gibt es nur diese Vorträge, fast jede Woche reist Antje Grabenhorst dafür durch die Republik. „Ich weiß ehrlich nicht mehr, wie ich das finanziell geschafft habe“, erzählt sie. Heute kann sie über diese prekären Verhältnisse lachen. Mittlerweile arbeitet Grabenhorst bei der Organisation „Football Supporters Europe“ und setzt sich für die Fan-Interessen ein.
Für einen geschlechtergerechten Fußball – auf dem Feld und auf den Rängen – war Antje Grabenhorst eine der wenigen Stimmen in Deutschland. „Ich war schon immer der Mensch, der gesagt hat: Wenn es noch nicht gemacht wird, dann mache ich es halt selbst“. Klarheit liegt in ihrer Stimme. Zusammen mit anderen Frauen im Fußball schaffte sie verschiedene Netzwerke für den Austausch. 2018 rückt das Thema sexualisierte Gewalt und übergriffiges Verhalten in den Fokus der Vereine. Auslöser war eine angeklagte Vergewaltigung während einer Sonderzugfahrt von Fußballfans. Auch wenn Übergriffe auf der Tribüne vorher nicht unbekannt waren, entwickelte sich erst dadurch eine größere Nachfrage für Hilfsstrukturen.
Gemeinsam mit anderen Frauen gründet Antje Grabenhorst das Netzwerk gegen Sexismus und sexualisierte Gewalt im Fußball. Sie entwickeln Handlungskonzepte zum Umgang und zur Eindämmung von übergriffigem Verhalten in den Stadien. Hilfsstrukturen kannte Grabenhorst schon, die Problematik genauso. „Irgendwann haben mal zwei Typen darum gewettet, wer mich zuerst ins Bett bekommt. Der Einsatz war ein Kilo Proteinpulver“, sagt sie rückblickend. Geschichten, die für sie keine Einzelfälle seien. „Irgendwie bin ich mit der Zeit abgestumpft“.
Schon vor der Gründung des Netzwerks ist Grabenhorst innerhalb ihrer Gruppe Anlaufstelle für Vorfälle dieser Art. „Auch wenn das Problem nicht nur im Stadion stattfindet, kann die Fangruppe ein wichtiger Ort sein, es anzusprechen und gegenzusteuern“. Die Fanvertreterin fordert immer wieder ein, nicht wegzuschauen, sensibel zu sein, diskriminierendes Verhalten nicht hinzunehmen. „Es ist so bitter, wie viele Frauen so etwas erleben – und die selbst in der Beziehung, dem eigenen Zuhause, nicht geschützt sind“. Oft haben Betroffene nicht die Kraft, darüber zu sprechen, dann steht Grabenhorst stellvertretend in der ersten Reihe. „Es macht keinen Spaß, immer ‚die Meckertante‘ zu sein, aber es muss jemand den Finger in die Wunde legen“. Auf diese Wunde ist die Bremerin an vielen Orten und in vielen Netzwerken gestoßen.
Inneren Frieden finden
Während Antje Grabenhorst für andere Orientierung und eine Stütze ist, fühle sie sich selbst manchmal einsam. Eine Frau, die viel zerdenkt, unsicher ist, gleichzeitig aber stellvertretend für andere in der Öffentlichkeit steht: „Klar ist das manchmal überfordernd. Aber wenn es die Menschen, die vorne sprechen, nicht geben würde, dann wären die Betroffenen ganz allein.“ Ihre Arbeit bleibe so oft nach Feierabend Thema. Mit ihrem Freund tausche sie sich abends auf dem Sofa aus, mit anderen Frauen hilft sie Betroffenen und reflektiert das Erlebte.
Trotz dieser psychischen Belastungen, stecke in ihrer Arbeit genug Stärkendes: „Ich bin mit mir im Reinen, habe immer nach meinen Werten gehandelt und auch im Nachhinein nicht das Gefühl, irgendwas falsch gemacht zu haben“. Grabenhorst habe dabei zusehen können, wie sich durch ihre Arbeit die Situation für Frauen auf der Tribüne verbesserte. „In meiner Kindheit haben familiärer Halt und Struktur gefehlt. Ich habe versucht, das durch meine aktivistische Arbeit auszugleichen“, erzählt sie nachdenklich. Angstgedanken und Depressionen begleiten sie noch heute. Verschiedene Formen der Therapie haben bereits geholfen, aber die innere Arbeit sei noch nicht vorbei. Ruhe finden, das fällt ihr weiterhin schwer.
Hund Lotti brachte vor einigen Jahren ein bisschen mehr Gelassenheit in Grabenhorsts Leben. „Der Wunsch nach Entschleunigung und Regeneration wird immer präsenter“ Ihr Umzug, ihre Beziehung und das feste Arbeitsverhältnis geben ihr Struktur und ermöglichen, den Fußball mal zu vergessen. „Es gibt heute viele andere Menschen, die in dem Feld aktiv sind, denen ich manchmal mit meiner präsenten Art sogar den Platz weggenommen habe.“ Grabenhorst blickt aus dem Fenster, während der Dackel mit geschlossenen Augen auf ihrem runden Bauch liegt.
Die Schwangerschaft wirkte wie ein Pause-Knopf für die ständige Bewegung. „Was bleibt, ist die Motivation, weiterzukämpfen, auch wenn sich meine Grenzen natürlich weiter verschieben und ich weiß, dass ich Dinge zukünftig auch abgeben muss.“ Den Wunsch nach einer noch offeneren, kommunikativen, sicheren Fanszene verliere sie nicht aus dem Blick. „Fangesänge, das Springen und Grölen waren schon immer Teil des Fanszenen und sollen es auch weiterhin bleiben.“ Frauen und Menschen anderer Geschlechter sollen aber genauso ihren Platz haben.
Heute ist der Besuch von Heimspielen für Antje Grabenhorst ein Tagesausflug. Mit dem Kind haben sich Prioritäten erstmal noch weiter zu sich selbst und hin zu ihrer Familie verschoben. Wohin es sie im Fußball-Aktivismus noch führt, ist gerade ungewiss. Komplett loslassen wird die Bremerin ihre große Leidenschaft aber wohl nie. Dafür ist die emotionale Verbundenheit zu intensiv, bemerkt Grabenhorst. „Der Fußball hat auch ein bisschen mein Leben gerettet.“
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