Text: Andreas Thamm — Fotos: Johanna Lohr
Jörg Alt eignet sich für Schlagzeilen wie diese: „Pater verschenkt Diebesgut aus Supermarkt-Müllcontainern, um gegen die Kriminalisierung des Containerns zu protestieren“. Oder diese: „Pater klebt sich auf die Straße vor dem Nürnberger Hauptbahnhof, um gegen die Untätigkeit der Bundesregierung im Kampf gegen den Klimawandel zu protestieren“. Oder, oder, oder …
Gibt’s doch gar nicht: Dass ein Kirchenmann – noch dazu ein katholischer – zum Aktivisten wird. Dass sich ein Gläubiger im politischen Kampf um die Schöpfung befindet und bereit ist, das Gesetz zu brechen, erscheint unwirklich. Das wiederum sagt viel über die Amtskirchen in Deutschland aus, die ihren miserablen Ruf wesentlich selbst zu verantworten haben. Es sagt aber noch viel mehr über den Jesuitenpater, Autor und Aktivisten Jörg Alt aus.
Der Pfarrer empfängt im Jesuitenhaus unweit der Nürnberger Kaiserburg. Außen Gründerzeit-Chic, innen Jugendherbergsflair: Ein schmuckloser Raum, ein zweckmäßiger Tisch, Alt reicht Tee. Seinen Mund umspielt ein Lächeln. Milde wie das eines Gottesdieners. Oder ironisch wie das eines Aktivisten. Seine Augen funkeln angriffslustig. Dass ihn die Doppelrolle interessant macht, weiß er. Vor 41 Jahren ist Alt in den Jesuitenordnen eingetreten. Zuvor die klassische katholische Karriereleiter: Erstkommunion, Firmung, Pfadfinder, Messdiener, Gemeinderat. „In meiner Klasse war ich damit ein Exot“, erinnert er sich. „Aber mir war das wurscht.“
Der junge Jörg Alt aus Saarbrücken will Professor werden, studiert in München und London Theologie und Philosophie. Einschneidender sind die Erfahrungen, die er zwischen 1986 und 1988 als Mitarbeiter der Beratungsstelle für Asylsuchende in Würzburg macht. Dort sei er mit Lebensumständen in Berührung gekommen, die er für sich selbst nicht zumutbar fände: „Und was für mich nicht zumutbar ist, kann ich auch anderen nicht zumuten.“
Vertrauen gegen Zynismus
Alt gründet einen bis heute aktiven Freundeskreis, der sich für einen menschenwürdigen Umgang mit Geflüchteten einsetzt. Danach verschlägt es ihn nach Leipzig, wo er als Kaplan und Ausländerbeauftragter des Dekanats arbeitet. Auch hier kommt er mit einem Thema in Berührung, das seinen spezifischen Einsatz verlangt: Jesuiten in Kambodscha klagen über die verheerenden Auswirkungen von Antipersonenminen. Die politische Arbeit für ein Verbot von Landminen nennt Jörg Alt seine „erste richtige Kampagne“. Er initiiert den Bundesdeutschen Initiativkreis für das Verbot von Landminen, der – wie viele andere Organisationen zu dieser Zeit in aller Welt – Überzeugungsarbeit zum Thema leistet.
Er habe selbst schon nicht mehr an den Erfolg der Kampagne geglaubt, erinnert sich Alt, als er 1997 die Nachricht über die generelle Ächtung von Antipersonenminen erhielt. Mehr als 160 Länder haben die Ottawa-Resolution bis heute unterzeichnet. „Ich habe damals etwas verstanden: Ich weiß oft nicht, was ich mit dem, was ich mache, bewirke und anstoße – und was dadurch hinter den Kulissen ins Laufen kommt.“ Damit hat er vielleicht einen Vorteil auf seiner Seite. Denn Jörg Alt steht in Ungeduld und Ärger beim Klimaschutz seinen jungen Mitstreitenden in nichts nach: „Die Zahlen müssen runter. Wir haben nur noch drei Jahre Zeit, wenn das mit den zwei Grad noch klappen soll“, sagt er und haut dabei gerne mal auf den Tisch. Und ist im nächsten Moment wieder ganz besonnen: „Mach wovon du überzeugt bist“, sagt er dann. „Mach es so gut wie möglich. Und vertraue auf den lieben Gott, dass er‘s zum Guten lenkt.“ Das Gottvertrauen – es hilft wahrscheinlich dabei, nicht zynisch zu werden.
Spätestens mit dem Erfolg der Landminen-Kampagne Ende der Neunziger wird aus Alt „der Aktivistenpater“. In der Folge setzt er sich für globale Steuergerechtigkeit, für Menschen in der Illegalität und für eine Finanztransaktionssteuer ein. Immer renintent, immer widerständig. Am Anfang, als er sich gegen die CSU und für Geflüchtete engagierte, hätten die frommen Rechtskatholiken versucht, ihn aus dem Jesuitenorden zu drängen: „Die haben gehofft, ich würde selbst merken, dass ich da nicht hineinpasse. Aber den Gefallen habe ich ihnen nie getan.“ Und dann lächelt er selbstbewusst: „Heute bin ich eines unserer Aushängeschilder.“
In all dieser Zeit des Engagements habe ihn das Thema Klima immer begleitet. Was es zu lesen gab, habe er gelesen und gedacht: „Ja, genau, das ist ein Problem, das müssen wir lösen. Und trotzdem bin ich genauso ein Idiot wie alle anderen meiner Generation. Erst als die Fridays anfingen, auf die Straße zu gehen, habe ich verstanden: Scheiße, wir haben keine Zeit mehr.“ Der heute 60-Jährige sucht bald den Kontakt zu den Demonstrierenden von Fridays for Future, später auch zur Bewegung Letzte Generation. Und Jörg Alt ist nicht überrascht, dass er aufgrund seines Amts dort zunächst einmal auf Skepsis stößt: „Durch das persönliche Gespräch hat sich das ganz schnell relativiert, wobei es nie ganz verschwunden ist. Der Ruf unserer Institution bei der jungen Generation ist so beschissen, da kommst du nicht raus.“
Zuspruch von allen Seiten
Alt ist ohnehin nicht da, um zu missionieren. Die jungen Leute, die sich für Klimagerechtigkeit einsetzen, sagt er, seien doch ohnehin jesuitischer als die meisten Jesuiten. „Klimaaktivistisch könnten die nicht sein, wenn sie nicht eine gehörige Dosis Schöpfungsspiritualität in sich trügen. Das Gefühl, dass wir als Menschen nicht etwas Leblosem gegenüberstehen, das wir einfach ausbeuten können.“ Er hört zu, diskutiert, demonstriert und schreibt: drei Bücher sind in einem katholischen Verlag erschienen: „Handelt!“, „Einfach anfangen!“ und „Widerstand“ heißen sie. Es sind Appelle, aktiv zu werden, Streitschriften für den sozialen Ungehorsam.
Jörg Alt macht heute nicht mehr primär Kampagnen- und Informationsarbeit, er übt sich in neuen Protestformen. Am 21. Dezember 2021 steht er vor einem Nürnberger Supermarkt und verteilt dort Lebensmittel, die er in der vorangegangenen Nacht aus Müllcontainern hinterm Haus gefischt hat. Das sogenannte Containern, also das Retten weggeworfener Waren aus dem Abfall der Händler, ist vor deutschen Gerichten noch immer strafbar.
Bilder der Aktion gehen in den kommenden Tagen durch die Medien: Alt mit Winterjacke, Helm, Stirnlampe und jeder Menge Salat im Fahrradanhänger. Stolz blickt er in der Kamera, vielleicht sogar ein bisschen überrascht. Er habe es absichtlich so aussehen lassen wie einen schweren Diebstahl, räumt er ein. Zwei Nächte lang habe er gesammelt, um ganz bestimmt über die Geringwertigkeitsschwelle von 30 Euro zu kommen. „Ich wollte sicher gehen, dass ich mein Verfahren bekomme.“ Jetzt steht er vor dem Supermarkt, dessen Geschäftsführer er soeben schriftlich gegeben hat, beklaut worden zu sein, und verschenkt das Diebesgut.
Und eigentlich müsste jetzt die Polizei kommen, die – da ist Jörg Alt sicher – längst da wäre, wäre er kein Ordensmann, sondern ein Student. Die Polizei allerdings kommt nicht. Und die Belegschaft des Supermarkts steht hinter der Scheibe und reckt die Daumen nach oben. Alle finden es super. So wird das nichts mit der Anzeige, dem Verfahren, dem öffentlichen Druck. Die Nummer der Polizei habe schließlich er entnervt wählen müssen, wie er sagt. Er zeigt den Diebstahl selbst an. Die erste Reaktion der Beamten vor Ort: „Das ist ja eine coole Aktion! Aber wir wurden gerufen, weil hier jemand einen Diebstahl begangen hat, wo denn?“
Im Mai dieses Jahres stellt die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth das Verfahren gegen Jörg Alt wegen besonders schweren Diebstahls ein. Es habe nicht geklärt werden können, welche konkreten Waren von welchen Supermärkten stammten. Zu einem Prozess vor Gericht, wie Alt ihn sich wünscht, kommt es nicht. Der Pater hält die Einstellung für politisch motiviert: „Meine Akte ist wasserdicht. Jeder andere wäre verknackt worden.“ Ihm gehe es nach wie vor darum, die Absurdität der Kriminalisierung darzulegen. „Und ich will die Bühne des Rechts!“
Es dürften in der juristischen Historie nicht viele vergleichbare Fälle bekannt sein: Noch im Juni wehrt sich Alt auf höchst offiziellem Weg gegen die Einstellung des Verfahrens. Er liefert eine lückenlose Dokumentation der Taten nach, die die offenen Fragen der Staatsanwaltschaft beantworten sollten. Und verweist erneut auf sein umfassendes Geständnis. Zumindest ein Teilerfolg: Seit Anfang Juli laufen die Ermittlungen wieder.
Vor Gericht um jeden Preis
Es gebe immer wieder diese Momente, beschreibt Jörg Alt, im Jesuitenhaus, in denen er die Lenkung seines Gottes spürt. Der 25. September 2021 sei so ein Tag gewesen, der 27. Tag des Hungerstreiks von Aktivist Henning Jeschke von der Letzten Generation mit dem Ziel, ein Gespräch mit den drei Kandidierenden um die Kanzlerschaft zu erzwingen. „Es war die siebte Stunde, in der Henning nichts getrunken hat. Wir haben telefoniert und er ist an meinem Ohr gestorben. Ich habe ihn angeschrien: Ich komme nach Berlin und stecke dir die Infusionsnadel eigenhändig in den Arm! Und dann kam der Anruf von Scholz. Und er lebt.“
Fast ein Jahr später, am 16. August, sitzt Jörg Alt Seite an Seite mit Henning Jeschke auf der Straße vor dem Nürnberger Hauptbahnhof. Er trägt Baseballcap gegen die Sonne und das Kollar, den Stehkragen der Pfarrer. Auf seiner linken Hand, die auf dem Asphalt aufliegt, steht das Wort „Klebt“. Der Schulstreik, das sagt Alt bereits bei unserem Besuch im Mai, habe sich abgenutzt. „Die politisch Verantwortlichen reden zwar wie die Fridays, aber sie handeln nicht. Wenn ich Politik und Gesellschaft irritieren will, muss ich drastischere Mittel anwenden.“
An diesem Tag klebt er selbst auf der Hauptverkehrsader der fränkischen Großstadt. Der Verkehr steht, die Demonstrierenden genießen den Applaus, halten die Beleidigungen aus. Meist spricht der junge Henning Jeschke, immer wieder unterbrochen vom Pfarrer: „Dieses Jahr sind schon 10 000 Menschen in Deutschland wegen der Hitze verstorben. Dieses Jahr wird ein milder Sommer sein, wenn wir zurückblicken“, ruft Alt der Menge zu, im Hintergrund baut sich bereits die Ordnungsmacht auf, Frauen und Männer in dunkelblauen Uniformen, die ihn und die anderen in wenigen Minuten in einen Streifenwagen tragen werden.
„Jeder einzelne Mensch, der so etwas tut“, verdeutlicht Jörg Alt, „ist bereit, dafür auch ins Gefängnis zu gehen.“ Er selbst mitgemeint. Ob er denn keine Angst davor habe. „Angst? Wir leben in Deutschland. Was soll da passieren? Im Gegenteil, endlich hätte ich einen geregelten Tagesablauf, drei Mahlzeiten am Tag und könnte ein Buch schreiben. Das einzige ist: Ich möchte schon so gute Haftbedingungen wie Uli Hoeneß haben.“
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