Text: Ulrike Polster — Fotos: Amac Garbe
Kinobesuche sind für Abhishek Nilamber oft frustrierend: „Wenn ich mir das Programm ansehe, scheint den Verantwortlichen die Bedeutung, die das Kino als Kultureinrichtung hat, häufig nicht bewusst zu sein. Kino ist ein Ort, der Menschen prägt. Hier bilden sich Meinungen zu gesellschaftlichen Themen, hier werden Werte vermittelt. Das Verständnis von Moral und Ästhetik wird durch Kino genauso geformt wie unser Bild von der Welt.“
Filme beeinflussen also das Denken, auch das Zusammenleben – und die Politik. Es sei darum eine gesellschaftliche Aufgabe, zu entscheiden, welche Filme über die Leinwände laufen und welche Realitäten vermittelt werden. Davon ist Abhishek Nilamber überzeugt. „Die großen, bekannten Filme werden von und für Menschen auf der Nordhalbkugel gemacht.“ Demnach würden Themen, Werte und Lebenssituationen gespiegelt, mit denen sich vor allem Menschen im Globalen Norden identifizieren.
„Geschichten von Menschen aus Afrika, Asien oder dem indischen Subkontinent spielen kaum eine Rolle. Und wenn doch, wird selten aus deren Perspektive erzählt, sondern oft nur über sie gesprochen. Das, was diese Communities selbst zu sagen hätten, ist nicht-existent“, erklärt Nilamber. Postkoloniale Machtverhältnisse würden so weiter verstärkt und die Einseitigkeit von Narrativen erhalten bleiben.
Woran liegt es aber, dass es in deutschen Kinosälen wenig Bemühungen gibt, diese Schieflage aufzulösen? „Es fehlt das Bewusstsein für die Problematik“, so Nilamber. „Kino müsste als Ganzes reorganisiert werden, um nachhaltig Gleichberechtigung zu schaffen. Es braucht eine neue kinematische Infrastruktur.“ Gerade im Austausch mit anderen Kuratierenden hat der 34-Jährige festgestellt, dass diese in der Praxis häufig mit denselben Problemen konfrontiert werden: Archivierung von Filmmaterial, fehlende Förderungen, Zensur, unterschiedliche ästhetische Vorstellungen.
Diese Herausforderungen ließen sich nur im Kollektiv lösen – und mit Hilfe moderner Technik. Es fehle eine Plattform mit Filmen, die nicht dem kapitalistischen Markt oder der Willkür einzelner Staaten unterliegen. „Die Digitalisierung eröffnet Möglichkeiten, Kino- und Videokunst zu verbreiten – auch unabhängige Produktionen, die den Blick auf sonst marginalisierte Gruppen öffnen.“
Vermittler zwischen den Welten
Für den Einfluss von Filmen und Musik auf Menschen habe sich Nilamber schon immer interessiert. Filmfestivals hat der gebürtige Inder schon viele organisiert und früh für sich die Verantwortung begriffen, die er als Kurator in der Zusammenstellung des Programms trägt. 2016 begann er daher als künstlerischer Produzent für United Screens zu arbeiten.
Das Berliner Projekt setzt auf ein völlig neues Kino-Ökosystem, das nicht dominiert wird von der gängigen Perspektive im Globalen Norden. Auf diese könnten Kuratierende und andere frei zugreifen, um Kinoprogramme vielfältiger und authentischer zu gestalten. „Wir wollen Stimmen laut machen, die sonst nicht gehört werden“, fasst er zusammen.
In seiner Rolle sieht er sich als Kulturschaffender, als Künstler und Forschender. Und er versteht seine Arbeit durchaus als politischen Akt. Abhishek Nilamber ist Schnittstelle und vermittelt zwischen zwei immer noch sehr ungleichen Welten – hier der Globale Norden, der seit der Kolonialzeit und mit der Industrialisierung gesellschaftlich, politisch und ökonomisch eine privilegierte, vom Wohlstand geprägte Position einnimmt; dort der Globale Süden, der aufgrund kolonialer Strukturen in vielerlei Hinsicht benachteiligt ist. Seine Perspektive auf die Weltgeschichte wird nicht erzählt. Nilamber sieht das als Ungleichgewicht – und auch als „globale Lüge“.
Denn sind die Menschen in den sogenannten entwickelten Ländern des Globalen Nordens denn wirklich so fortschrittlich, wenn ihre Handlungen und Werte Klima und Menschenleben zerstören? Könnten die, die dem Rhythmus des Kapitalismus verfallen sind und sich selbst in den Burn-out treiben, sich nicht vom Globalen Süden etwas abschauen? Lernen, dass Bodenständigkeit, die Beschränkung des Konsums auf das Notwendige, die Verbindung mit sich selbst und zur Natur Menschen heilen kann?
„Definitiv“, sagt Nilamber. „Bevor Menschen in einen Austausch gehen und voneinander lernen können, müssen wir Ungleichverhältnisse überwinden.“ Und: „Die Communities müssen ihre Geschichten in Filmen selber erzählen, nur so entsteht Wahrheit.“
Ein Prozess der Selbstreflexion
Um diese auch tatsächlich zu erreichen, bräuchte es ein Netzwerk filmaffiner Menschen, das sich in die Länder des Globalen Südens verzweigt, die in Kinoprogrammen so häufig unterrepräsentiert sind. Abhishek Nilamber und United Screens leben diese Idee vor: Im Team kommen Menschen aus zwölf Ländern und fünf Kontinenten zusammen. Zudem hätten sie ganz unterschiedliche berufliche Hintergründe. „Durch die Verknüpfung verschiedener Disziplinen und Kulturen erkennen wir in der Zusammenarbeit die Grenzen unseres eigenen Horizontes an“, meint Nilamber.
Die eigenen Vorstellungen und Werte müssten so ständig hinterfragt werden. Wissen sei für ihn nichts, das von Autoritäten vorgegeben werden könne. „Wissen ist vielfältig“, sagt er. Und in der Anerkennung dieser Pluralität sieht er einen erster Schritt auf dem Weg zur Dekolonisierung der Gesellschaft. Beim Filmpublikum wünsche er sich darüber hinaus ein Bewusstsein für die existierenden globalen Ungerechtigkeiten, die durch Filme momentan nur noch weiter manifestiert würden.
„Es braucht einen ständigen Prozess der Selbstreflexion, einen ständigen Dialog“, sagt Nilamber. Das kann anstrengend sein, ist er sich sicher – insbesondere für jene, die im bisherigen Konstrukt der Welt immer gut weggekommen seien. Er hofft nichtsdestotrotz auf die Bereitschaft des Publikums, ein auf Ungleichheiten beruhendes System verändern zu wollen. Dies hieße jedoch keinesfalls, dass Kinobesuchende gänzlich auf „westliche Produktionen“ verzichten müssten. Doch, ergänzt Nilamber, müsse den Menschen klar werden, dass ihre Entscheidung für oder gegen einen Film durchaus politisch sei. Denn auch hier regelt die Nachfrage eben das Angebot.
„Nur wenn ich mich frei von Erwartungen einem Film hingebe, kann er mich wirklich überraschen“, ist Nilamber überzeugt. „Es ist wichtig, den Film das tun zu lassen, was er tun will: ein wichtiges politisches Werkzeug zu sein, das Realität neu formen kann.“
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