Text: Jasper von Römer — Fotos: Basti Winterscheid
Der Himmel schimmert dunkelblau, während Reklamen, Fahrplanmonitore und Laternenlicht den Postplatz in Dresdens Innenstadt erhellen. Unter dem rot leuchtenden Schriftzug eines großen Lebensmittelmarktes sammelt sich eine kleine Gruppe. 20 junge Menschen hantieren mit einem Transparent in ihrer Mitte. Kurz darauf setzen sie sich in Bewegung und blockieren beide Fahrspuren und die Schienen der Straßenbahnen. Der etwa 15 Meter lange Schriftzug fordert: „Am 13.02. Nazis stoppen“ und „Naziaufmarsch stoppen DD-WiEdersetzen 13. & 15.02.“ Ein betrunken anmutender Mann schaut missmutig auf die Botschaft, die ihm da vor die Nase gehalten wird und beginnt zu pöbeln: „Ihr F*****, geht doch arbeiten!“
Die Demo findet wenige Tage vor dem 13. Februar statt, dem wohl am stärksten umkämpften Gedenktag im Land. Für das folgende Wochenende haben Neonazis in ganz Europa mobilisiert, um – wie seit Jahren schon – einen sogenannten Trauermarsch für die Opfer der Luftangriffe 1945 abzuhalten. Doch dagegen regt sich Widerstand, selbst Tage vorher. Am Postplatz wollen die Menschen hinter dem Transparent den Verkehr für zehn Minuten zum Stehen bringen, um darüber zu informieren, dass seit 80 Jahren ein undifferenzierter Opfermythos reproduziert wird: die sächsische Barockstadt als einzigartiges Opfer im Zweiten Weltkrieg. Eine Erzählung, die vor allem Rechtsextremen in die Hände spiele, heißt es oft.

Obwohl die Protestaktion an diesem Tag nur wenige Minuten dauert und eine überschaubare Anzahl von Menschen involviert ist, hat sie das Potenzial zu provozieren. Das zeigt sich, als die Dresdner Piraten-Stadträtin Anne Herpertz zum Mikrofon greift und den umstehenden Pulk um Geduld bittet. Sie will gerade erklären, warum das ritualisierte Gedenken rund um den 13. Februar problematisch ist, als der pöbelnde Mann auf sie losgeht. Eine Frau stellt sich dem Störer in den Weg und kassiert dafür einen Schlag auf den Arm. Schnell sind weitere Leute zur Stelle – und auch die Polizei greift ein.
Aufgerufen zu diesem Protest hat das Bündnis „Dresden WiEdersetzen“ – Anmelderin ist Rita Kunert. Für ihr Engagement gegen rechts ist sie stadtbekannt. Und wie so oft schon in ihrem Leben fordert sie nach dem versuchten Übergriff die Uniformierten auf, Strafanzeige gegen den Mann aufzunehmen, der gerade handgreiflich wurde. Warum sie heute hier ist? Um mit anderen wieder einmal daran zu erinnern, dass die ermordete Dresdner Zivilbevölkerung in der Nacht vom 13. zum 14. Februar 1945 aktiver Teil des nationalsozialistischen Regimes war.
Mythos der Unschuld
Seit gut zehn Jahren arbeitet Kunert mit dem Bündnis „Dresden Nazifrei“ und der Bewegung „Dresden WiEdersetzen“ daran, ein differenziertes Bild von der Bombardierung der Stadt zu zeichnen. Dabei habe sie vergleichsweise spät zum Aktivismus gefunden. Drei Kinder zog sie in den letzten Jahren groß, arbeitete parallel rund um die Uhr. „Da hatte ich gar keinen Nerv für ehrenamtliche politische Arbeit“, fasst sie zusammen.
Als die Kinder schließlich aus dem Haus waren, fand sie Zeit, sich einzubringen. Und auch eine Protest-Erfahrung habe sie zusätzlich wachgerüttelt, erinnert sich Rita Kunert: „Das war eine kleine Demo von jungen Leuten und die waren eigentlich schon fertig. In dem Moment ist die Polizei mit so viel Gewalt da reingegangen. Und ich stand daneben und dachte, das könnten meine Kinder sein. Irgendwas läuft schräg.“ Also entschied sie, nicht mehr zuzusehen. Kunert suchte Kontakt zur Linkspartei und lernte Menschen in antifaschistischen Gruppen kennen.
Ihre Rolle beschreibt sie als Bindeglied zum Bildungsbürgertum – und lächelt: „Ich bin einfach älter, erreiche andere Menschen. Ich bin bei uns unter anderem zuständig für die Vernetzung mit den Parteien, den Gewerkschaften oder auch den ‚Omas gegen rechts‘.“ Außerdem meldet sie immer wieder Kundgebungen oder Demos an. So auch jedes Jahr im Februar in Dresden.

Für die Stadtgesellschaft ist der 13. Februar einer der umstrittensten Gedenktage überhaupt. An diesem Tag jähren sich die Luftangriffe der Alliierten kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs. Rund 25 000 Menschen starben, vor allem die Altstadt, aber auch andere Viertel wurden in der Nacht zerstört. Das Reichspropagandaministerium begann wenig später, die Ereignisse zu instrumentalisieren. Dresden wurde etwa als friedliebende Kulturmetropole dargestellt. Und die nationalsozialistische Tageszeitung „Der Freiheitskampf“ bezeichnete die Alliierten als „kulturlose Barbaren“, die sich „am Kulturbesitz der Welt versündigt“ hätten. Zudem wurden gefälschte Opferzahlen von bis zu 250 000 Toten verbreitet.
Die DDR-Führung übernahm entstandene Narrative – und erklärte: „Die Mörder Dresdens sind die Kriegstreiber von heute.“ In den folgenden Jahrzehnten festigte sich so ein Gedenken, das geprägt war von ritualisierten Kranzniederlegungen, Glockengeläut und brennenden Kerzen vor der damals noch zerstörten Frauenkirche in Sachsens Landeshauptstadt.
Ende der Neunzigerjahre nutzten Neonazis den aufrechterhaltenen Mythos von Dresden als unschuldige Kunst- und Kulturstadt für ihre eigenen Zwecke. Kamen in den ersten Jahren um die Hundert Teilnehmenden zu den angemeldeten Demonstrationen, mobilisierte die extreme Rechte später knapp 1 000 Ewiggestrige. Zwischen 2005 und 2009 fand rund um den 13. Februar in Dresden Europas größter Neonaziaufmarsch mit bis zu 7 000 Teilnehmenden statt.
Bündnis stoppt Nazis
Die Stadtgesellschaft suchte seitdem Antworten, um mit diesem ungewollten Nazi-Tourismus umzugehen. 2010 wurde zum ersten Mal eine Menschenkette organisiert. Als symbolische Schutzmauer vor Rechtsextremen hielten Tausende Menschen einander an den Händen und stellten sich für wenige Minuten um das gesamte Stadtzentrum herum. Gleichzeitig formierte sich das zivilgesellschaftliche Bündnis „Dresden Nazifrei“, dem es im selben Jahr gelang, den rechtsextremen „Trauermarsch“ durch Sitzblockaden zu verhindern. Es folgten Debatten über die Legitimität von Mitteln im Kampf gegen rechts. Die Neonazis jedenfalls wurden weniger.
Aus der über Jahre erfolgreichen Bündnisarbeit ist später die Gruppe „Dresden WiEdersetzen“ hervorgegangen – und einige Aktive finden sich 2025 am Postplatz mitten in der Stadt wieder, um auf den geplanten rechtsextremen Aufmarsch hinzuweisen und für den Gegenprotest zu mobilisieren. 17 Versammlungen haben die Engagierten für den 15. Februar angemeldet.
Auf die Frage, was an städtischen Gedenkveranstaltungen wie der Menschenkette um das Dresdner Stadtzentrum zu kritisieren sei, bemerkt Rita Kunert: „Weil die meisten, wenn du sie fragst, warum sie da stehen, antworten: ‚Weil Dresden zerstört wurde.‘“ Diese Argumentation, ergänzt sie, bestärke den Opfermythos, der sich weiterhin hält. Ein Blick in die Vergangenheit bestätigt das: So wurde erst im letzten Jahr ein Foto verbreitet, das Ex-Oberbürgermeisterin Helma Orosz (CDU) Arm in Arm mit einem Rechtsextremisten in der Menschenkette zeigen soll. Ein ähnliches Bild entstand vor ein paar Jahren, als Dresdens amtierender Stadtchef Dirk Hilbert (FDP) zufällig neben einem Nazi posierte.

Kunert stört sich auch daran, „weil es so ein Alibi-Ding ist. Manche Leute kommen einmal im Jahr für zehn Minuten raus und denken, jetzt haben sie die Nazis bekämpft. Dabei kommt die AfD viel später, um ihre Kränze niederzulegen und der Naziaufmarsch findet an einem ganz anderen Tag statt.“ Und selbst progressiv eingestellte Menschen hätten die Erzählungen zum Opfermythos verinnerlicht, auch wenn sie es nicht wahrhaben wollen, bemerkt Kunert. Eine Freundin von ihr habe das, was wohl viel denken, einmal sehr treffend formuliert: „Sie haben uns hier unser barockes Schmuckkästchen kaputt gemacht.“
Eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem 13. Februar, betont die Initiative „Dresden WiEdersetzen“, sei nur möglich, wenn auch die Täterschaft der Stadt berücksichtigt werde. Deshalb organisiert die Gruppe jedes Jahr diverse Veranstaltungen, die informieren sollen, inwieweit die Stadt in die nationalsozialistische Vernichtungsmaschinerie eingebunden war.
Ein Beispiel dafür ist der Mahngang Täterspuren. 2011 noch von der Versammlungsbehörde verboten, hat sich dieser Stadtrundgang längst als feste Institution etabliert. An mehreren Orten machen die Teilnehmenden Halt, um nationalsozialistische Verbrechen einzuordnen. Doch auch klassischere Formate organisiert das Bündnis: Podiumsdiskussionen, Vorträge, Workshops oder eine antifaschistische Stadtrundfahrt zu Gedenkorten im Dresdner Umland.
Gedenken verändern
Rita Kunert ist überzeugt: Fehlendes Wissen nutzt der Instrumentalisierung rechtsextremer Kräfte. Wenn Menschen hingegen erfahren, dass durch die Luftangriffe auf Dresden 1945 einige der verbliebenen jüdischen Menschen der Deportation und damit dem sicheren Tod entkommen konnten, differenziere sich ihr Bild automatisch.
Was meinen Kunert und ihre Gruppe also, wenn sie fordern: Gedenken abschaffen! „Erinnern muss sein. Sonst vergessen es alle und dann ist auch keine Verantwortung mehr da“, sagt sie. Und doch existiere es eine klare Grenze: „Es geht gar nicht darum, dass ich Oma Marta nicht auf dem Friedhof gedenken soll.“ Ein Problem gäbe es dann, wenn beispielsweise die AfD am 9. November im Gedenken an die Ermordeten der Reichspogromnacht mit an der Synagoge steht. „Was haben die da verloren? Städtische Mitarbeitende sind der Meinung, dass wir das aushalten müssen. Da sage ich entschieden: Nein, das müssen wir nicht.“
Auf die Frage, ob sie ans Aufhören denkt, antwortet Kunert vorausschauend: „Also ich muss mindestens durchhalten, bis die Menschenkette nicht mehr ist und bis der Alte Leipziger Bahnhof steht. Dann kann ich darüber nachdenken.“ Im besagten Gebäude soll eine Gedenk- und Begegnungsstätte entstehen. Die Nutzungskonzepte dafür werden gerade erarbeitet. Bis es soweit ist, hält sie mit ihren Aktionen im öffentlichen Raum dagegen und klärt weiter auf.

Auf der sonst so viel befahrenen Straße rund um den Postplatz herrscht derweil eine andere Unruhe. Dass eine Blockade den Verkehr stoppen soll, wurde vorab der Polizei mitgeteilt. Dazu sagt Kunert später: „Zehn Minuten dazustehen, ist echt überraschend lang. Irgendwann habe ich auf die Uhr geschaut und gedacht, scheiße, es sind gerade mal drei um.“ Doch während des Protests entstehen immer neue Gespräche. Eine alte Frau mit Rollator bleibt kurz stehen und wendet sich an die jungen Menschen hinter dem Transparent: „Ihr seid aber mutig. Die Polizei wird euch schon schützen, bei den Deppen von Dynamo tut sie das ja auch.“
Andere bleiben neugierig, aber ein wenig abseits stehen, fotografieren den Schriftzug oder diskutieren darüber. Am Ende löst Rita Kunert nach nur neun Minuten die Blockade auf, um weitere Wutausbrüche zu verhindern. Die Aktion mit all den ablehnenden und begrüßenden Reaktionen ist vor allem eines: ein Vorgeschmack auf den 13. und 15. Februar in Dresden.
Mit Veto geben wir dem Aktivismus im Land eine mediale Bühne. Warum? Weil es Zeit ist, all jene zu zeigen, die sich einmischen. Unser Selbstverständnis: Journalismus mit Haltung. Du kannst uns mit einer Spende unterstützen: DE50 4306 0967 1305 6302 00 oder via PayPal.