Text: Sara Grzybek — Illustration: Annika Keymer
Es läuft fast immer gleich ab. Ich lerne jemanden kennen – bei der Arbeit, über Social Media, irgendwo draußen. Und wir tauschen uns aus: über Job, Hobbys, Familie und so weiter. Wenn ich dann mein ganzes Pensum aufzähle – Vollzeitjob, Queermed, Schreiben, Sport, Hobbys – heißt es oft: „Krass! Du bist bestimmt bisschen autistisch, oder?“
Häufig halte ich kurz inne, lächle nervös und erkläre, dass ich das für eher unwahrscheinlich halte und dass es andere Gründe gibt, warum ich so ein durchgeplantes Leben führen kann oder eben auch muss. Nicht immer kommt es gut an, wenn ich (durchaus zynisch) antworte: „Nein, leider nur eine komplexe Posttraumatische Belastungsstörung. Es gibt mir ein Gefühl von Sicherheit, wenn ich meinen Alltag sehr genau plane.“ Die meisten sind dann irritiert, auch erschrocken. Manchmal folgt der eher aufgesetzte Satz: „Oooooh, das tut mir aber leid.“
Dann lieber nur lächeln …
Eine andere „Diagnose“, die ich ungefragt von anderen höre: ADHS. Ich habe viel dazu gelesen und auch mit Therapeut*innen gesprochen. Aber ich habe ich mich noch nicht darauf testen lassen. ADHS und Autismus sind Diagnosen, die gerade viel Sichtbarkeit erfahren und die fast schon eine Art Glamour umgeben – in den sozialen Netzwerken und genauso in der Popkultur: von Big Bang Theory bis The Good Doctor.
Mittlerweile gibt es Influencer*innen mit Hunderttausenden Follower*innen, die in Reels oder bei TikTok Symptome teilen oder eben darstellen. „POV: Wenn du ADHS hast und nach dem Weg gefragt wirst.“ Das ist unterhaltsam und witzig. Und irgendwie auch lehrreich. Oder?
Um es vorwegzunehmen: Es ist definitiv hilfreich, dass Lebensrealitäten sichtbarer werden und psychische Gesundheit ein Thema ist. Bei Frauen wird ADHS zum Beispiel deutlich seltener diagnostiziert als bei Männern. Der Diagnosetest war hauptsächlich auf Jungen und Männer ausgelegt und Frauen wurde so jahrzehntelang abgesprochen, dass sie ADHS haben könnten.
Deshalb ist es reizvoll, dass es nun einfache Erklärungen gibt: Warum bestimmte Gedanken im Kopf kreisen, warum die Konzentration schwerer fällt oder warum es unangenehm ist, in stark besuchten Innenstädten unterwegs zu sein. Manche Menschen brauchen Diagnosen, weil sie damit endlich eine Erklärung dafür bekommen, warum sie sich so verhalten, wie sie es tun und warum sie vermeintlich aus der gesellschaftlichen Norm fallen. Diagnosen können helfen, Medikamente verschrieben zu bekommen. Es kann aber durchaus problematisch sein, wenn bestimmte Diagnosen „trenden.“
Wie Social Media vereinfacht
Über komplexe Posttraumatische Belastungsstörungen, kurz: PTBS, wird dagegen weitaus weniger gesprochen. Es ist ein riesiges Tabufeld! Weil hier der Gewaltaspekt als auslösender Faktor gegeben sein kann, lösen solche Diagnosen ein stärkeres Unwohlsein aus – gerade bei Nicht-Betroffenen! Das Resultat: Schweigen. Eine weitere Ursache für die Stigmatisierung ist die mediale Darstellung von Betroffenen und der daraus resultierende Diskurs über sie.
Überlebende von Gewalt gelten häufig als gebrochen und schwach, weil sie in einer oder in mehreren Situationen machtlos gegenüber Täter*innen waren. Weil ihnen was Schreckliches angetan wurde, verdienen sie Mitleid. Und sie sollen auf ewig in ihrer Opferrolle verharren. Sonst wird ihre Erfahrung hinterfragt. „Ist es denn wirklich so passiert? War es denn wirklich so schlimm?“ Menschen verstehen oft nicht, dass auch Überlebende von Gewalt irgendwann glücklich sein dürfen und nicht tagtäglich an ihre Erlebnisse denken (müssen). Fehlendes Wissen führt zu fehlender Akzeptanz führt zu fehlender Benennung. Die Folge: Unsichtbarkeit.
ADHS, Autismus und eine komplexe PTBS können einen lebenslangen Leidensdruck auslösen – mit ganz ähnlichen Symptomen. Betroffene können Konzentrationsprobleme haben, weil sie gelernt haben, ständig wachsam gegenüber äußeren Bedrohungen zu sein. Oder weil sie mit einem dissoziativem Zustand rechnen müssen. Sie können emotional überreagieren, Wut oder anderweitige emotionale Ausbrüche haben, die durch Erinnerungen an ein Trauma getriggert werden. Auch Schwierigkeiten mit dem Gedächtnis, Schlafstörungen, innere Unruhe, starke Probleme in zwischenmenschlichen Beziehungen, Bindungsängste …
„Symptom overlap“ beschreibt, dass sich Symptome überlappen und die Diagnose erschwert wird. Noch komplizierter wird es bei gegenseitigen Wechselbeziehungen von Erkrankungen – der Fachbegriff dafür lautet Komorbidität. Dass sich bestimmte gesundheitliche Probleme gegenseitig begünstigen oder beeinflussen können, ist mittlerweile bekannt. So wie es ältere und neuere Studien für ADHS und PTBS vermuten. Echt kompliziert, oder?
Reels und TikToks kürzen solche Sachverhalte auf wenige Sekunden ein. Snackable und witzig. Natürlich verbreitet sich so auch schneller Wissen und Lachen kann der Bewältigung dienen. Gleichzeitig verharmlosen viele dieser Videos den Leidensdruck von Menschen oder geben Realitäten verzerrt wieder. Verstärkt wird das durch schlecht recherchierte oder schlichtweg falsche Inhalte. Und in allem wirkt der Algorithmus als unberechenbarer berechnender Entscheider, der beliebte Inhalte belohnt und intime Geschichten zur digitalen Ware macht.
Und das alles spüren wir am Ende auch in der analogen Welt: Indem wir Menschen ungefragt für ihre Verhaltensweisen outcallen, deklarieren wir sie als auffällig, anormal, anders. Dabei gibt es im vielfältigen Spektrum menschlicher Verhaltensweisen überhaupt kein „normal“. Mit (laienhaften) Zuschreibungen übertragen wir ein bestimmtes Bild auf Menschen. Sie müssen es annehmen oder den Konflikt suchen und sich erklären. Selbst dann, wenn sie es in dem Moment vielleicht gar nicht möchten. Warum lassen wir Menschen nicht selbst entscheiden, wer sie sind, welche Diagnosen ihnen wichtig sind und wie sie mit ihnen umgehen?
Sara Grzybek setzt sich für eine Sensibilisierung im Gesundheitswesen ein. Bei Veto schreibt Sara über Gender in der Medizin und die Notwendigkeit einer Behandlung auf Augenhöhe.