Text: Sara Grzybek — Illustration: Karla Schröder
40 Zentimeter beträgt die persönliche Intimdistanz eines jedes Menschen. Wer näher kommt, überschreitet Grenzen. Das wird schnell als unangenehm empfunden: im Club, in öffentlichen Verkehrsmitteln, an der Supermarktkasse. Doch gerade in ärztlichen Praxen lässt sich dieses Unwohlsein nur schwer kommunizieren. Während Psychotherapeut*innen meist eine gewisse physische Distanz wahren, ist es in anderen Fachbereichen schwer möglich, auf Abstand zu gehen. In der hausärztlichen, zahnärztlichen, gynäkologischen Praxis beispielsweise gehört Körperkontakt fest zur Diagnostik – und Konsens wird da stillschweigend vorausgesetzt.
Schon als Kinder lernen wir, dieses Angefasstwerden durch uns eigentlich fremde Menschen widerspruchslos hinzunehmen – Oberteil ausziehen, Mund aufmachen, Arm hinhalten. Angst, innere Widerstände und Unwohlsein sollen wir still erdulden. „Zähne zusammenbeißen“ und „tapfer sein“ . Aber geht das auch anders?
Körperliche Untersuchungen dienen dazu, den physischen Zustand des Körpers zu prüfen: abhören, abtasten, abklopfen, begutachten der Schleimhäute, Überprüfung von Reaktionen und Bewegungsfähigkeit. Je nach Fachrichtung kann der Fokus auf einem anderen Bereich des Körpers liegen, es werden Geräte wie Stethoskope, medizinische Hämmer oder kleine Lampen verwendet. Warum es diese Untersuchungen braucht, ist logisch. Die Frage jedoch ist: Wie werden diese eingeleitet? Werden wir gefragt? Über das Prozedere informiert?
Das Patientenrechtegesetz legt fest, worauf wir uns in der Praxis berufen können. Es sichert das Recht auf Selbstbestimmung und schreibt gesetzlich vor, dass Patient*innen ausführlich über Diagnosen oder Behandlungen informiert werden müssen – bestenfalls verständlich – damit wir die für die Behandlung nötigen Schritte kennen und vor allem einschätzen können. Natürlich ist das in Notsituationen und bei Bewusstlosigkeit schwer möglich. Umso wichtiger ist das Vertrauen in eine respektvolle und angemessene Versorgung.
Praktizierende stehen theoretisch in der Nachweispflicht, dass wir als Patient*innen unsere Zustimmung zu einer Behandlung gegeben haben. Das bloße Sitzen im Behandlungszimmer reicht dafür aber nicht aus. Werden bei einer Zahn-OP Narkosemittel eingesetzt, geben wir die dafür nötige Informationen in einem Anamnesebogen an. Oder wenn bei einer Untersuchung im MRT Kontrastmittel gespritzt werden sollen. Warum also wird nicht auch bei Berührungen ein Einverständnis erfragt? Vor allem dann, wenn sie „sein müssen“. Es schafft Vertrauen, die Situation zu benennen und die Möglichkeit zu eröffnen, das eigene Befinden zu äußern: „Ich werde jetzt Folgendes tun.“ Oder: „Sagen Sie bitte, wenn es (zu) unangenehm ist.“
Je besser Patient*innen über den Vorgang und seine Zweckmäßigkeit informiert sind, desto mehr haben sie auch das Gefühl von Mitsprache und Kontrolle. Das ist besonders in sensiblen Situationen entscheidend: zum Beispiel auf dem Gynäkologie- oder Zahnarztstuhl. Wenn also Patient*innen Unbehagen äußern oder Schmerzen haben, müssen diese respektiert werden. Und es muss die Möglichkeit geben, eine Behandlung auf eigenen Wunsch hin zu beenden. Überhaupt können Worte viel bewegen, im Guten wie im Schlechten.
Sexuelle Übergriffe in Praxen
Gerade weil Menschen im Gesundheitswesen zum Wohlergehen anderer darauf angewiesen sind, Grenzen der Intimsphäre zu überschreiten, müssen sie sich damit auseinandersetzen, wie das respektvoll und im Einverständnis geschehen kann – und welche Alternativen es zum aktuellen Vorgehen gibt, die mehr Raum für Dialog schaffen würden. Ein gutes Beispiel ist die Anleitung zur selbstständigen Brustkrebsvorsorge, bei der Patient*innen selbst die Brüste untersuchen und Ärzt*innen erst bei Auffälligkeiten tasten.
Dasselbe wäre bei Vorsorgeuntersuchungen von Hodenkrebs möglich. Verständlicherweise dauert es länger, als wenn Praktizierende selbst die Diagnostik durchführen. Doch Ärzt*innen stehen in ihrer Arbeit unter immensem Zeitdruck. Das verknappt auch die Zeit für Nachfragen und Dialog – Faktoren, die aber für eine erfolgreiche Behandlung entscheidend wären.
Dass Feedback erfragt wird, ist in der Lohnarbeit selbstverständlich, um Zufriedenheit zu garantieren und Verbesserungen anzustreben. Natürlich auch aus kapitalistischen Gründen der Effizienzsteigerung. Dass dies auch bei Ärzt*innen und Therapeut*innen geschieht, ist dagegen eine Seltenheit. Im Gegenteil: Wenn Patient*innen nicht wiederkehren, kann das aufgrund des hohen Patient*innenaufkommens sogar als entlastend empfunden werden. Oder es geht schlicht unter, dass eine Situation ungünstig verlaufen ist. Sollte es aber nicht! Denn genau dieser Rückzug, dieses Schweigen wegen einer Verletzung, ist Normalität und stützt ein Klima, in dem auch beabsichtigte Übergriffe im Dunkeln bleiben.
Die deutsche Fachanwältin für Familien- und Strafrecht Christina Clemm klärt über Fälle auf, bei denen es in Praxen zu sexuellen Übergriffen gekommen ist. Oft passieren diese plötzlich und unscheinbar. Beispielsweise, wenn Körperstellen angefasst werden, die gar nicht zu den schmerzbetroffenen Bereichen gehören – oder eine Berührung länger erfolgt, als es für die Diagnostik nötig wäre.
Betroffene befinden sich dann häufig in einem Schockzustand und erstarren. Sie können das Geschehene nicht einordnen – oder stellen es im Nachhinein infrage. Viele schämen sich und suchen die Schuld bei sich oder schweigen aus Angst, dass ihnen nicht geglaubt wird. Woher sollen wir auch wissen, was noch in Ordnung ist – und was nicht?
Für eine Studie der Cambridge University befragten Forschende im Frühjahr 2020 insgesamt 2503 Patient*innen aus Deutschland im Alter von durchschnittlich 49 Jahren. Das Ergebnis der Erhebung: 4,5 Prozent der Frauen und 1,4 Prozent der Männer bestätigten sexuelle Übergriffe durch medizinisches Personal. Darüber hinaus gaben 3,2 Prozent der Frauen und 0,6 Prozent der Männer an, unnötig körperlich untersucht worden zu sein.
Über das Recht auf Konsens
Übertragen auf die gesamte Bevölkerung in Deutschland hieße das, dass knapp 1,8 Millionen Frauen sexuelle Übergriffe im Gesundheitswesen erfahren. Die Dunkelziffer liegt vermutlich weitaus höher. Das Thema wird weiter tabuisiert, deswegen nicht ausreichend erhoben und untersucht. In Deutschland gibt es deshalb keine aktuellen Zahlen, sondern nur Vermutungen, die auf Erhebungen aus anderen Ländern basieren. Zwar tauchen immer wieder Berichte über Einzelfälle auf, ein Gesamtbild lässt sich davon aber schwer ableiten.
Dabei existiert in Deutschland für diese Art von Vergehen tatsächlich ein eigener Paragraph im Strafgesetzbuch: 174c. Dort heißt es: „Wer sexuelle Handlungen an einer Person, die ihm wegen einer geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung einschließlich einer Suchtkrankheit oder wegen einer körperlichen Krankheit oder Behinderung zur Beratung, Behandlung oder Betreuung anvertraut ist, unter Missbrauch des Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses vornimmt oder an sich von ihr vornehmen lässt oder diese Person zur Vornahme oder Duldung sexueller Handlungen an oder von einer dritten Person bestimmt, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.“
Die juristische Ahndung ist für viele Betroffene aber noch immer eine Hürde. Ohnmacht oder Angst hindern viele daran, Anzeige zu erstatten und den oft langwierigen und aufreibenden Prozess in Kauf zu nehmen. Gerichte fordern Beweise, die in den allermeisten Fällen schwer zu erbringen sind. Es steht Aussage gegen Aussage – im Zweifel für die Angeklagten. Es braucht mentale Kapazitäten, ein unterstützendes soziales Umfeld und natürlich Geld, um sich Recht einzufordern. Darauf können nicht alle zurückgreifen, gerade in einer belastenden Situation.
Die Suche nach Hilfsangeboten bei Erfahrungen sexueller Übergriffe im Gesundheitswesen bringt erschreckend wenige Treffer. Viele Angebote beziehen sich auf das Ereignis selbst. Die spezielle Situation in einem medizinisch-therapeutischen Zusammenhang wird hingegen oft nicht berücksichtigt. Die Sorge, eine Anzeige oder Meldung des Falls könne Rückschlüsse auf die eigene Identität und damit Nachteile mit sich bringen, hält viele Betroffene davon ab.
Wenn es normal wird, dass Behandlungen rückfragend und kommentiert ablaufen, bietet das weniger Spielraum für unangemessene Berührungen und schafft ein größeres Bewusstsein. Ärzt*innen können sehr simpel mit guter Kommunikation mehr Sicherheit schaffen. Es macht schließlich einen großen Unterschied, ob ich eine Behandlung an mir selbst unsicher und von Fragen geplagt mitverfolge oder ob ich einbezogen und als Subjekt wahrgenommen werde.
Abschließend noch eine Botschaft an alle Patient*innen: Ihr seid nicht alleine! Sprecht in der Praxis oder Klinik darüber, wenn es euch zu weit geht. Entzieht euch der Situation, wenn ihr es nicht mehr aushaltet. Fordert Informationen ein, pocht auf eure Rechte. Sprecht mit anderen darüber und holt euch Unterstützung. Die Notwendigkeit einer Untersuchung sollte nicht mit dem Gefühl des Ausgeliefertseins und einem Kontrollverlust verbunden sein.
Sara Grzybek setzt sich für eine Sensibilisierung im Gesundheitswesen ein. Bei Veto schreibt Sara über Gender in der Medizin und die Notwendigkeit einer Behandlung auf Augenhöhe.