Text: Jakob Springfeld — Foto: Karla Schröder
Nach einem langen Tag sitze ich im Zug nach Halle (Saale). Ich bin noch in Sachsen, kurz vor Leipzig, als ich meinen Augen nicht traue und eine Sprachnachricht aufnehme. Es ist 20:13 Uhr als das Handy meines Kumpels vibriert und ich ihm Folgendes erzähle:
„Moin Tommy, sitze gerade in der Regionalbahn, zwei Kinder, so zwölf oder dreizehn Jahre, stehen neben dem Zug, grinsen und machen Hitlergrüße. Ich war kurz davor ein Foto zu machen aber genau dann ist der Zug weiter gefahren. Naja, das nur eine Alltagsanekdote, könnte ich jetzt wahrscheinlich twittern, aber ich weiß nicht…“
Die Szene am Bahnsteig spielt ein paar Tage vor der EU- und den Kommunalwahlen. Vor ein paar Jahren noch wäre ich schockiert gewesen, hätte unbedingt darauf aufmerksam machen wollen und sofort einen Tweet abgesetzt. Doch in diesem Moment hatte ich keinen Bock diese ständige Social-Media-Empörungslogik zu füttern. Schließlich ist genau das der Grund, warum ich seit mehreren fucking Tagen den plärrenden Ohrwurm von Gigi D’Agostinos „Lamour Toujours“ in rassistischer Umdichtung noch immer nicht aus dem Kopf bekomme.
Und auch heute geht es mir kaum anders: Die nicht wirklich überraschenden und trotzdem erschreckenden AfD-Zugewinne und auch die Ergebnisse für die extrem-rechte Kleinstpartei „Freie Sachsen“ liegen mir im Magen. Doch ich will keine schockierten Worte zum Osten auf 280-Zeichen-Länge teilen. Was ich natürlich denke, ist: Scheiße!
Die AfD hat die Europawahl in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen gewonnen; auch aus den Kommunalwahlen geht sie im Osten mit als stärkste Kraft hervor. Das alles fühlt sich ernüchternd an und trotzdem ist da ein Aber. Denn die letzten Tage vor der Wahl haben mir auch klar gemacht: Die sächsische Zivilgesellschaft ist auf dem Weg, sie erringt Erfolge gegen antidemokratische Kräfte, sie vernetzt sich und baut Strukturen auf, die nachhaltig wirken können.
Wenige Stunden vor den grinsenden Hitlergruß-Kids am Bahnsteig war ich zum Beispiel in Annaberg-Buchholz. Die erzgebirgische Traditionsstadt, in der etwa 22 000 Menschen leben, ist neben Folklore, Bergbau und dem Renaissance-Schloss Augustusburg außerdem für religiös-fundamentalistische Anti-Abtreibungsdemos bekannt, für eine breit aufgestellte rechte Szene und Nazi-Schwibbögen mit SS-Rune und Reichsadler.
Doch bei meinem Besuch überwog diesmal ein anderes Bild – und auch ein anderes Gefühl: Es war die Freude, so kurz vor den Kommunal- und Europawahlen etliche Engagierte zu treffen. Eingeladen hatte die Initiative „Zukunftsmusik Sachsen“, gegründet von vier Studierenden aus Dresden. Das Kollektiv tourt aktuell mit Musik durchs Land, um möglichst niederschwellig mit Menschen über Ängste, Politik aber vor allem über Zukunftsvorstellungen zu sprechen.
Deshalb sind an diesem Tag in der kleinen, ehrenamtlich betriebenen Kneipe ungefähr 30 Menschen aus Annaberg zusammengekommen. Der Nachmittag beginnt musikalisch. Die „Demokratiekapelle“ singt über die Wahlen, Zukunftsträume und von der Liebe zu Sachsen. Als ich das höre, muss ich schlucken. Denn das mit der Sachsenliebe fällt mir oft gar nicht so leicht. Und schon stellt mich die Moderatorin vor und bin ich dran, um aus meinem Buch zu lesen. Dabei fehlen mir gerade die Worte.
Ich versuche deutlich zu machen, was die Liebe zu Sachsen für mich nur bedeuten kann: Ich möchte die unangenehmen Seiten nicht ausblenden. Ich möchte Orten wie Annaberg oder meiner Heimatstadt Zwickau nicht ihre traditionsreiche Automobil- oder Bergbaugeschichte absprechen oder diese geringschätzen. Aber: Wenn extrem-rechte und antidemokratische Strömungen sich hier weiter hartnäckig ihren Weg bahnen, wenn die Landtagswahlen im Herbst dem Osttrend der Europa- und Kommunalwahlen folgen, werden sie genau dieses Erbe überschatten und überstrahlen.
Deshalb heißt Liebe für mich, offen und ehrlich Kritik an meiner Heimat zu üben. Gerade weil sie mir etwas wert ist. Weil Entwicklungen nicht umkommentiert stehengelassen oder aus vermeintlicher Ahnungslosigkeit toleriert werden dürfen. Denn der Fakt, dass es mir und vielen anderen eben nicht egal ist, was vor Ort passiert, bedeutet einen Akt der Liebe. Und das obwohl mir Rückwärtsgewandte immer wieder vorwerfen, ich sei ein Nestbeschmutzer.
Was für mich in Annaberg erneut deutlich wird, ist, wie viele diesen Zwiespalt in sich tragen. Dieses Gefühl zwischen Hass und Liebe, das Wissen darum, dass wir zivilgesellschaftliche Arbeit nur leisten, weil uns die Region am Herzen liegt. Und ja, die Region hat ein verdammt hartes Nazi-Problem, aber es gibt genauso schöne, subkulturelle und demokratische Seiten, die wir stärker zum Vorschein bringen müssen. Es gibt viel, was wir schaffen können. Und viel, was wir verteidigen müssen.
In den letzten Wochen war „Zukunftsmusik Sachsen“ in verschiedenen Orten unterwegs. In Zwickau, Meißen, Torgau, Bautzen – und überall gab es viel Zuspruch für das Programm. Was mich daran besonders beeindruckt? Wie es die Initiative schafft, Menschen zum Mitmachen zu animieren, diverse Gruppen zusammenzubringen und hoffentlich viel Mut und auch viel Rückenstärkung zu hinterlassen. Denn vielleicht ist es genau das, was den Protest nach den Correctiv-Recherchen so auszeichnet: Wir sind kreativer geworden, wir demonstrieren weiter und lassen uns gerade jetzt nicht unterkriegen.
Denn wenn wir als aktive Zivilgesellschaft eines feststellen können, dann, dass es durchaus auch Erfolge zu verzeichnen gibt. Natürlich geht es uns nach den Wahlergebnissen scheiße und das ist auch okay. Aber wir haben immer noch uns und das, was wir seit Anfang dieses Jahres aufgebaut haben – und das kann uns keiner nehmen:
Erstens: Im sächsischen Döbeln gründete sich innerhalb weniger Wochen eine „Omas gegen Rechts“-Gruppe mit mittlerweile dutzenden Aktiven! Und auch in Orten, in denen jahrelang nicht demonstriert wurde, haben sich neue Organisationen, Bündnisse, Allianzen gefunden, die eine wehrhafte Demokratie erarbeiten wollen.
Zweitens: Viele Menschen haben inzwischen verstanden, dass blindes Institutionen- oder Parteienvertrauen allein das Problem mit dem Rechtsextremismus in unserer Gesellschaft nicht lösen wird – und das ist ein gutes Zeichen! Reden gegen AfD und Neonazis sind ein guter Anfang. Langfristig braucht es aber mehr, um Menschen zusammenzuhalten und nicht denen, die spalten wollen, die Bühne zu überlassen. Zum Beispiel, dass Perspektiven für ländliche Räume im Osten entwickelt und wirksam werden. Dass gerechter Klimaschutz konsequent verfolgt wird. Dass wir im Zweifel versuchen, es selbst in die Hand zu nehmen.
Und drittens: In den bundesweiten Ergebnissen zur Europawahl erreichte die AfD nicht die Werte, die ihr zu Beginn des Jahres noch prognostiziert wurden! Das ist kein Selbstläufer und keine Entwarnung, aber das ist auch unser Verdienst. Wir sind wirksam und müssen jetzt alles dafür tun, das auch zu bleiben. Indem wir unsere Geschichten erzählen. Ich spreche und schreibe über Ängste im Alltag, über Hass und rechte Strukturen. Aber auch über das, was mir Auftrieb gibt und mich bei meiner Arbeit inspiriert: Tolle Initiativen, unermüdliches Engagement und standhafte Menschen.
Jakob Springfeld wurde 2002 im sächsischen Zwickau geboren, ist Klima- und Antifa-Aktivist, Student und Autor des Buches „Unter Nazis. Jung, ostdeutsch, gegen rechts“.