Text: Anne Brockmann — Foto: Thomas Pirot
Kräftig streift Erim seine Handflächen zweimal an der Arbeitshose ab, um den gröbsten Staub loszuwerden. Dann erst greift er zur Kaffeetasse und nimmt vorsichtig einen Schluck. Eben noch stand er in der Schreinerei, hat sich mit einer Glastür beschäftigt, die in einen maßgefertigten Küchenblock eingesetzt werden soll. „Dass ich in den Knast gekommen bin, ist das Beste, was in meinem Leben passiert ist.“ Erim lauscht seinen eigenen Worten nach und fügt kurz darauf verbessernd hinzu: „Also nicht der Knast, aber das, was sich daraus ergeben hat. Dass ich jetzt hier bin.“
„Hier“, das ist das Seehaus im baden-württembergischen Leonberg – eine Einrichtung, die jungen, verurteilten Straftätern den Vollzug ihrer Haft in freien Formen ermöglicht. Kurzum: eine Alternative zum Gefängnis ohne Zellen, Gitter, Mauern. Seinem Namen entsprechend liegt das Seehaus umgeben von Wiesen und Wäldern unweit einer kleinen Seenkette vor den Toren Stuttgarts. Das große Fachwerkhaus gehörte früher zu einem Gestüt. Dort, wo Erim heute eine Ausbildung zum Schreiner absolviert, standen früher Pferde. „Unsere Schreinerei befindet sich auf dem Boden des ehemaligen Stalls“, erzählt Tobias Merckle.
Im Herbst 2001 hat Merckle den Trägerverein des Seehauses gegründet und damit die Basis dafür geschaffen, dass die Einrichtung vor wenigen Wochen ihr 20-jähriges Bestehen feiern konnte. Merckle ist seit Anfang an geschäftsführender Vorstand. Die Idee zur Gründung der Einrichtung kam ihm als junger Mann in den USA. Nach dem Abitur absolvierte er dort ein soziales Jahr. Merckle arbeitete mit drogenabhängigen Jugendlichen und erlebte, wie einer der Rehabilitanden einen Rückfall hatte. Als Konsequenz der Tat stand das Gefängnis.
Tobias Merckle wollte die Beziehung aufrechterhalten, besuchte ihn und war gleichzeitig schockiert von den Zuständen, die er im Gefängnis vorfand. „Neun Quadratmeter und ein Dreierstockbett, den ganzen Tag keine Arbeit, keine Ausbildung, nichts“, beschreibt er. „Der Einfluss der negativen Subkultur ist enorm. Viele kommen wahrscheinlich krimineller heraus. Das ist keine Lösung für die jungen Männer und keine Lösung für die Gesellschaft“, sagt er. Fortan bewegte ihn nur noch ein Gedanke: „Das muss auch anders gehen!“
Neun Quadratmeter
Die Frage, ob die Gründung einer solchen Einrichtung tatsächlich sein Weg werden soll, hat Merckle als überzeugter Christ damals im Gebet bewegt. „Ich habe das ‚Go‘ von ganz oben gespürt und daraufhin entschieden, Sozialpädagogik zu studieren“, erinnert er sich. Mit dem Studium allein war es aber nicht getan. Auf sein Vorhaben, dem Jugendstrafvollzug einen anderen Rahmen zu geben, hat sich Merckle akribisch vorbereitet. So hat er schon während des Studiums eine Vielzahl von Praktika im In- und Ausland absolviert und ist dabei nicht nur obdachlosen, drogenabhängigen und straffälligen Menschen begegnet, sondern hat auch unterschiedliche Konzepte im Umgang und der Betreuung kennengelernt.
Seine erste Stelle trat er bei Prison Fellowship International an, einer weltweit tätigen NGO der christlichen freien Straffälligenhilfe. Dort sammelte er sein letztes Rüstzeug, bevor er nach 13 Jahren Vorbereitung den Verein gründete und mit der Hilfe einer Stiftung das alte Gestüt in Leonberg erwarb. Damit allerdings war es nicht getan. „Als die Anwohnenden hier mitbekamen, was wir vorhaben, sind sie Sturm gelaufen. Es gab Demonstrationen, Banner mit feindlichen Parolen, Unterschriftenlisten und Proteste“, erzählt Merckle. Die Menschen hätten große Angst gehabt. „Bald werden unsere Kinder hier bedroht und abgezogen oder es werden Drogen an sie vertickt. Solche Gedanken trieben die Menschen damals um.“
Erim hört aufmerksam zu, nickt verständig und ergänzt, dass er das nachvollziehen könne. „Klar wollen die Leute uns nicht. Wir sind halt nur Häftlinge“, sagt er. Es ist kein Selbstmitleid dabei, kein Bedauern, keine Anklage. Eher nüchterner Ernst. „Genau das ist das Problem“, sagt Merckle in dem Moment. „Früher oder später passen wir Menschen uns unserer Umgebung an. Und was bedeutet das in der Umgebung Gefängnis?“
Damit kann auch Erim etwas anfangen. Er hat erfahren: „Im Gefängnis herrscht eine krasse Hierarchie. Und aus Angst, ganz unten zu landen, verliert jeder den Respekt vorm anderen. Im Knast zählen nur Tabak, Drogen, Klamotten und Muckis.“
Das Prinzip „Familie“
In der Umgebung des Seehauses können sich die jungen Männer ganz anders verhalten. „Hier begegnen alle Mitarbeitenden – egal, ob sie in der Hauswirtschaft, in der Verwaltung oder in der Leitung tätig sind – den Jungs ohne Vorbehalte und mit echter Wertschätzung, einfach, weil sie Menschen sind. Und wenn die Jungs das wahrnehmen können, dann passiert auch etwas mit ihnen“, weiß Tobias Merckle. „Ja“, stimmt Erim zu. „Auf einmal kannst du laufen, ohne alle zwei Sekunden auf den Boden zu spucken und kannst sprechen, ohne ständig ,Spast‘ zu sagen. Du nimmst hier was mit – ob du willst oder nicht.“
Die Tage im Seehaus beginnen zeitig – um 5:45 Uhr steht Frühsport auf dem Programm. Dann macht Erim sich draußen in der Seehaus-Arena mit Lockerungsübungen fürs Laufen oder Radfahren bereit. Tobias Merckle ist so früh noch nicht auf den Beinen. Dafür ist er abends oft der Letzte im Büro, wenn Erim bei sich im Zimmer schon das Licht ausknipst. Das imponiert dem Jungen. „Tobias hat oft noch längere Tage als wir“, sagte der 18-Jährige.
Für die Jungs ist um 22 Uhr Feierabend. Davor folgen sie einem eng getakteten Tagesplan: Schule, Ausbildung, Kochen, Putzen, Sport und Gruppengespräche zur Aufarbeitung der eigenen Lebensgeschichte und ihrer Taten. Den Rahmen für all das schafft im Seehaus das „Prinzip Familie“. Bis zu sieben junge Männer leben in einer der drei Wohngemeinschaften mit Hauseltern und deren Kindern zusammen. Jeweils ein Elternteil hat eine pädagogische Ausbildung, die andere Person ist als Minijobber beim Seehaus angestellt. Auf diese Weise werden die Jungs Teil eines funktionierenden Familienlebens mit Liebe und Geborgenheit.
Erims Hausvater ist Dominik. „Wenn er mal nicht da ist, ist zu spüren, dass was fehlt, denn Dominik sieht sofort, wenn es mir nicht gut geht oder irgendwas mit mir nicht stimmt“ sagt er. Dominik und seine Frau haben zwei leibliche Kinder, die fünf und anderthalb Jahre alt sind. Erim gefällt es, dass auch die Kleinen Teil seines Alltags sind: „Die sind schon sehr süß. Ich kann Quatsch mit ihnen machen, aber vor allem kann ich auch sehen, wie Dominik und Tabea damit umgehen, wenn sie mal weinen. Ich habe hier gelernt, dass es auch andere Reaktionen gibt, als ihnen gleich eine reinzuhauen.“
Vertrauen aufbauen
Wegen seiner eigenen Erfahrungen als Kind dachte er lange Zeit, das sei normal. Er hatte keine Erklärung dafür, woher die Wut kam, mit der er durchs Leben ging. Aber er war voll davon. Mit 16 stach Erim mehrfach mit einem Messer auf einen anderen Jugendlichen ein. Auslöser für den Streit sei ein Mädchen gewesen. Erims Opfer hat acht Tage auf einer Intensivstation verbracht. Die Strafe: fünf Jahre und sechs Monate Haft.
Für Erim ist das heute gefühlt „sehr lange her“. In jedem Fall aber möchte er noch einen Täter-Opfer-Ausgleich machen. „Denn heute weiß ich, was ich meinem Opfer angetan habe. Hier habe ich mich damit auseinandergesetzt“, sagt er. Bevor Erim ins Seehaus kam, war er zunächst neun Monate lang in Untersuchungshaft in Stuttgart-Stammheim, dann für zehn Monate in der JVA Adelsheim, dem zweitgrößten Jugendgefängnis in Deutschland. Für das Seehaus hat er sich noch aus der U-Haft heraus beworben. „Wir bieten eine Freizeitgruppe in Stammheim an, spielen mit den Jungs Billiard, Tischkicker, haben ein offenes Ohr und erzählen von unserem Konzept. Wer möchte, kann sich bei uns bewerben“, sagt Merckle.
Für die Bewerbung müssen die Jungs ein Motivationsschreiben verfassen. Wie sind sie zu dem Entschluss gekommen, ihr Leben umkrempeln zu wollen? Was möchten sie in ihrer Zeit im Seehaus erreichen? Erim hat über ein Jahr auf seinen Platz gewartet. Das letzte Wort hat immer die Anstaltsleitung. „Der Kontakt zur JVA musste genauso erst wachsen wie der zur Nachbarschaft. Auch dort waren sie anfangs skeptisch. Inzwischen arbeiten wir ganz gut zusammen“, so Merckle. Lässt sich einer der Jungs im Seehaus etwas zuschulden kommen, nimmt Drogen, versucht zu fliehen oder wendet Gewalt an, müssen die Mitarbeitenden das sofort an die JVA melden und der Jugendliche geht zurück hinter Gittern.
Manche aber gehen auch freiwillig zurück. „Der Alltag hier bietet zwar viel mehr Freiheiten, verlangt den Jugendlichen aber auch mehr ab. Manchen ist das zu anstrengend. Trotzdem sind Fluchtversuche und Abbrüche eher die Ausnahme“, bemerkt Merckle, der selbst auch auf dem Gelände des Seehauses lebt. Eine Beziehung oder eine eigene Familie hat er nicht. „Meine Familie ist das Seehaus mit all den Menschen hier.“ Erim weiß: „Tobias lebt hier in einer kleinen Wohnung, im Dachspitz. Er hat auch kein Auto und trägt nie irgendwelche Markenklamotten. Ich glaube, er ist der bescheidenste Mensch, den ich kenne.“
Zurück in den Alltag
Dabei stammt Tobias Merckle aus sehr wohlhabenden Verhältnissen. Sein Großvater ist der Gründer eines großen und namenhaften Pharmaunternehmens. Obwohl Merckle im Seehaus eine leitende Position hat, ist es ihm wichtig, nah an den Jungs zu sein. Zu den Mahlzeiten geht er abwechselnd in eine der Wohngemeinschaften. „Tobias spielt auch Schach mit uns oder ist bei Gruppenangeboten dabei“, erzählt Erim.
Die gute Beziehung trägt oft noch nach der Entlassung aus dem Seehaus. Merckles Kollegin Antje Becker erzählt von einem nächtlichen Anruf eines ehemaligen Seehaus-Bewohners, der kurz davor war, wieder eine Straftat zu begehen. „Tobias hat gefragt, wo er gerade ist, hat sich in ein Fahrzeug des Vereins gesetzt und ist zu ihm gefahren. Dann haben die beiden stundenlang im Auto gehockt und geredet. Der Junge hat die Straftat nicht begangen.“
Wenn alles gut geht, kann Erim die Einrichtung in neun Monaten verlassen. Bis dahin suchen Hausvater Dominik und die anderen Mitarbeitenden nach einem Ausbildungsplatz und einer Wohnung. Außerdem erarbeiten sie für Erim einen realistischen Plan, wie er die 50 000 Euro Schulden abbauen kann, die er durch seine Tat angehäuft hat. Genauso soll es auch schon ein soziales Netzwerk geben, das ihm bestenfalls Halt und Orientierung gibt.
Erim ahnt, dass es trotz allem nicht einfach werden wird. „Ich glaube, es ist so: Ob dir das Seehaus etwas bringt oder nicht, hängt vor allem von dir ab. Einen Esel, der nicht trinken will, kannst du an hundert Wasserstellen führen. Er wird verdursten. Einem Esel, der trinken will, reicht eine einzige Wasserstelle, auch wenn sie nicht mal ganz sauber ist. Aber er wird es schaffen.“ Klar ist für Erim aber auch, dass junge Straftäter Konsequenzen brauchen, aber eben keine Gefängnisse. Er könne sich einfach nicht vorstellen, dass irgendjemand auf die Welt kommt und denkt: „Ich werd‘ Gangster.“ Jeder habe eine zweite Chance verdient.
Weil Tobias Merckle das genauso sieht, hofft er, sein Konzept künftig auch für Erwachsene anbieten zu können. In Sachsen ist das nach einer Gesetzesänderung bereits möglich. Auch Berlin und Nordrhein-Westfalen befassen sich mit der Idee des freien Jugendstrafvollzugs. „In beiden Ländern steht das als Ziel im Koalitionsvertrag. Deshalb sind wir zuversichtlich“, meint Tobias Merckle, „da wirklich was auf die Beine stellen zu können.“
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