Text: Jannis Große — Fotos: Sitara Thalia Ambrosio
Dass der Kohleausstieg kommt, ist inzwischen beschlossen. Im Oktober des vergangenen Jahres einigten sich das Land NRW, die Bundesregierung und der Energiekonzern RWE darauf, dass der Braunkohleabbau im Rheinischen Revier statt 2038 schon 2030 enden soll. Gleichzeitig werden Kraftwerksblöcke, die im Dezember schon vom Netz gehen sollten, länger laufen. Als Ergebnis steht, dass die Ortschaften Keyenberg, Kuckum, Ober- und Unterwestrich und Berverath bleiben. Lützerath allerdings soll im Tagebau Garzweiler II verschwinden. Gestritten wird seit der viel kritisierten Einigung darüber, ob die Kohle unter dem Dorf tatsächlich gebraucht wird. Die schwarz-grüne Regierung in NRW meint ja, nein sagen hingegen Bündnisse wie Fridays for Future. Gefallen ist die Entscheidung trotz allem.
Derweil fressen sich die riesigen Schaufelräder der Abraumbagger durch die Erdmassen. Täglich rückt die Abbruchkante näher an die ehemalige L277, die einst durch Lützerath führte und den heute abgebaggerten Ort Immerath mit Keyenberg verband. Anfang Oktober 2022 übergab der letzte Bewohner Lützeraths seine Schlüssel an RWE. In dem Dorf, das südlich von Mönchengladbach liegt, begann die Umsiedlung 2006 und sollte ursprünglich schon im September 2021 abgeschlossen sein. Der Konzern RWE, dem rund um das Kohleabbaugebiet fast alles gehört, treibt Enteignungen von Flächen und Höfen weiter voran.
Anfang Januar 2023 schließlich belagerten Polizeikräfte die Besetzung und begannen mit der Räumung des Dorfes – und die ging um die Welt: brennende Barrikaden, fliegende Steine, Tunnelsysteme bestimmten die Schlagzeilen. Das Klima blieb eher ein Randthema. Aber steht der Protest in Lützerath nicht genau dafür: die Klimakrise und ihre gravierenden Folgen?
Folgen der Klimakatastrophe
Lakshmi Thevasagayam ist in den Tagen der Räumung kaum zu erreichen. Im Kollektiv koordiniert sie die Medienarbeit des Bündnisses „Lützerath lebt“: Social Media, Presse, Demo-Orga. „Es geht hier nicht nur um ein kleines Dorf, in dem niemand mehr wohnt – wie das so oft dargestellt wird. Lützerath war und ist zuallererst ein Ort des Widerstands gegen den fossilen Kapitalismus und gegen den größten CO2-Produzenten Europas.“ Der Protest knüpft am Widerstand im Hambacher Forst an und erweitert ihn um einen antikolonialen Aspekt. „Unsere Hauptaufgabe ist, dass wir hier Konzerne wie RWE bekämpfen, die auch im Globalen Süden Zerstörung anrichten”, sagt Lakshmi Thevasagayam.
Gegen die Kohleverstromung durch RWE und seine landschaftsfressenden Tagebaue gibt es im rheinischen Revier seit Jahren Widerstand. Der Protest aber sei nicht erst mit Fridays for Future entstanden, erklärt Lakshmi Thevasagayam. „Der Kampf gegen die Ausbeutung der Natur wird seit über 500 Jahren vor allem von Indigenen sowie Menschen im Globalen Süden geführt – und wir schließen uns dem an.“ Wer Klimagerechtigkeit ernst nehme, kämpfe auch gegen Rassismus, gegen Kolonialismus, gegen Queer- und Transfeindlichkeit und gegen Ableismus. Die Klimakrise treffe vor allem die Menschen, die in unserer Gesellschaft sowieso schon marginalisiert sind, bemerkt Lakshmi Thevasagayam. „Mit jedem Meter, den die Bagger hier näher kommen, sterben Menschen und brechen Ökosysteme zusammen.“
Schwere Überschwemmungen in Pakistan oder lang andauernde Dürren am Horn von Afrika: Extremwetter und Naturkatastrophen treffen den Globalen Süden laut Weltorganisation für Meteorologie (WMO) besonders schwer. Die Folgen der Klimakrise sind spürbar. 2022 lag die globale Durchschnittstemperatur nach Angaben der WMO bei rund 1,15 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau. Mit jeder Erwärmung werden die Auswirkungen dramatischer. Die resultierenden Wetterextreme gefährden die Ernährungs-, Energie- und Wassersicherheit der ganzen Welt. Auch die Gesundheit der Menschen ist durch die Klimakrise gefährdet.
Schlagzeilen und Prominenz
Freitag, 13. Januar 2023, ein Tag vor der Großdemonstration: Während Polizeikräfte mit einer improvisierten Stabsäge an Traversen hantieren, an denen sich Protestierende sichern, und Spezialkräfte von gleich mehreren Seiten damit beginnen, das sogenannte Wäldchen zu räumen, drängen sich die Kameras um Luisa Neubauer und Greta Thunberg. Dabei sind beide an diesem Tag keineswegs Teil der Besetzung. Sie sind vor allem für die Medien hier. Knapp 900 Medienschaffende haben sich bei der Polizei akkreditiert. Die Räumung füllt Titelseiten, Fernsehsendungen, Liveticker und die sozialen Netzwerke.
Lakshmi Thevasagayam, Florian Özcan und die anderen Sprechenden von „Lützerath lebt“ werden im Getümmel um das beste Bild fast zu Beiwerk. Vom Wäldchen geht es zum Wall, der Lützerath vom Tagebau trennt. Ein Journalist fragt, wie er Thevasagayam erreichen könne. „Ruf am besten einfach auf dem Pressetelefon an“, antwortet sie hastig, bevor sie dem Pulk nacheilt. Medien titeln später: „Greta Thunberg besucht Lützerath“ oder „Greta Thunberg prangert in Lützerath ‚Polizeigewalt‘ an“. Nicht immer sind auch Thevasagayam und ihre Mitstreitenden auf den Fotos zu sehen. Ob sie das Gefühl habe, dass die Themen, die sie in die Öffentlichkeit tragen will, dort auch ankommen? „Auf keinen Fall. Das ist Sisyphusarbeit.“
Medienschaffende seien in der Regel weiß und männlich gelesen, berichtet die Aktivistin. Das würden die Berichte spiegeln. Schon die nicht-binären Pronomen einiger Pressesprechenden der Initiative „Lützerath lebt“, stelle Berichterstattende immer wieder vor Herausforderungen. „Wenn wir BIPoC-Specher*innen über Antirassismus in der Klimabewegung oder auch die koloniale Perspektiven der Klimakatastrophe sprechen, wird uns gar nicht zugehört”, erklärt Lakshmi Thevasagayam. Es fehle ihr im Journalismus am Verständnis, was diese Themen miteinander verbindet. „Diese Brücke zu schaffen, ist unsere große Herausforderung.“
Die Besetzung von Lützerath
Lützerath ist für viele Menschen längst sehr viel mehr als nur einer von über 300 Orten, die in Deutschland für Braunkohle umgesiedelt worden. Das Dorf ist wie der Hambacher Forst zum Symbol geworden, das am 14. Januar 2023 Zehntausende nach Keyenberg lockte. Tausende brachen aus der Demonstration aus und zogen über die weiten Felder in Richtung Lützerath. Trotz des harten und teils überzogenen Vorgehens einiger Polizeikräfte schafften es die Demonstrierenden bis zum doppelten Zaun, der die Räumung des Ortes absichern sollte.
Mit dem Widerstand zur Rettung von Lützerath sei versucht worden, eine Utopie zu schaffen und auch zu leben, sagt Lakshmi Thevasagayam, „in dem, wie wir uns organisieren, wie wir arbeiten, dass wir Diskriminierungserfahrung ins Zentrum setzen und darauf achten, wie wir antirassistisch und antikolonial arbeiten können“. Utopie neben Dystopie nennen sie das hier. Lützerath als Utopia, ein „Nicht-Ort“, ein Ideal, das im krassen Kontrast zur Wirklichkeit steht.
In direkter Nähe zur Abbruchkante des riesigen Tagebaus Garzweiler II, der mit dem Abriss von Lützerath noch weiter wachsen soll, haben sie eineinhalb Jahre lang gelebt – in einem großen Camp, in Baumhäusern, Hütten und besetzten Häusern. Es gab Antirassismus-Inputs und zahlreiche Besuche von Aktiven aus Pakistan, Uganda, Kolumbien und Mexiko. „Lützerath war so eine krasse Schule für viele Menschen – inklusive mir“, sagt Thevasagayam. Mit den Bildern von zwei winkenden Besetzern, die als Letzte aus ihrem Tunnel kamen, ist die „zone à défendre“, übersetzt etwa „zu verteidigendes Gebiet“, nach fünf Tagen Räumung Geschichte.
Aufarbeitung dauert noch an
Während RWE nun die verbliebenen Gebäude einreißen und die letzten Bäume fällen lässt, bleibt die Kritik an der Polizei und die Debatte um überzogene Gewalt. Gleichzeitig fluten Bilder von Polizeikräften, die im Schlamm feststecken, weiter das Internet. Und nur Tage später kündigt RWE zivilrechtliche Schritte gegen Demonstrierende an. Mit einer geplanten Reserve von rund 50 Millionen Tonnen Braunkohle will der Energiekonzern außerdem – entgegen der geschlossenen Einigung – nach 2030 seine Kraftwerke im rheinischen Revier weiterbetreiben. Die Auseinandersetzungen sind demnach längst nicht beendet.
Was aber bleibt nach der Räumung von Lützerath? Lakshmi Thevasagayam hat darauf eine deutliche Antwort: „Als Klimabewegung haben wir die Aufgabe, klar zu machen, wer der Feind ist.“ Es ginge nicht um Konsumkritik oder Aktionen gegen die Arbeitendenklasse. „Es sind nicht wir alle, die mal mit dem Auto fahren müssen: Das Problem sind Großkonzerne wie RWE.“ Und der Staat schütze deren Eigentum und Kapital.
Wie das aussieht, zeigen die Bilder aus Lützerath deutlich: doppelte Zäune, Wasserwerfer, Reiterstaffeln, Hunde, Hundertschaften, stumpfe Gewalt. „Egal, ob gegen Unternehmen wie RWE, Rheinmetall oder gegen Krankenhauskonzerne wie Asklepios: Der Kampf gegen den Kapitalismus geht weiter“, verdeutlicht Lakshmi Thevasagayam. „In Lützerath haben wir ein unglaublich starkes Symbol dafür gesetzt“, sagt die Aktivistin, bevor sie zum nächsten Termin muss – und aufs Neue versucht, die Dringlichkeit der Klimakrise zu vermitteln.
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