Einer für alle in Halle — Mamad Mohamad

Menschen mit Migrationsgeschichte haben es in Sachsen-Anhalt nicht leicht. Deshalb haben sie sich vor zehn Jahren in einem Netzwerk zusammengetan – und setzen sich hartnäckig dafür ein, gehört zu werden.
28. Oktober 2019
11 Minuten Lesezeit
Text: Alisa Sonntag — Fotos: Benjamin Jenak und Alisa Sonntag

Nicht älter als 28 Jahre war Mamad Mohamad, als er 2008 an der Gründung einer in Deutschland einzigartigen Organisation beteiligt war: Lamsa – fünf Buchstaben nur, die ausgeschrieben für das Landesnetzwerk der Migrantenorganisationen Sachsen-Anhalt stehen. In dem Jahr, in dem Lamsa entstand, hatte Mohamad schon die Hälfte seines Lebens in der Bundesrepublik verbracht. Genug Zeit also, um zu merken, dass in seiner neuen Heimat einiges schief lief.

Er war damals Vorsitzender der kurdischen Gemeinde in Halle an der Saale – und er war motiviert, etwas an der unbefriedigenden Situation zu ändern. Seine Stimme allerdings zählte nicht. „Niemand hat uns nach unserer Meinung gefragt oder uns überhaupt mal zugehört“, sagt der Enddreißiger heute. 

Mit „uns“ meint Mohamad die Menschen mit Migrationsgeschichte und ihre Verbände in Sachsen-Anhalts bevölkerungsreichster Stadt. Die hätten Politik und Verwaltung damals aber noch gegeneinander ausgespielt, anstatt sie ernst zu nehmen, erinnert er sich. Aus diesem schwierigen Umstand heraus entstand schließlich die Idee, die verschiedenen Organisationen untereinander zu vernetzen – um gemeinsam politisch mehr bewegen und die eigenen Interessen besser vertreten zu können. 

Nächster Halt: Sachsen-Anhalt

Wie in Westdeutschland auch seien Menschen mit Migrationsgeschichte in Sachsen-Anhalt zwar seit den Neunzigern in Verbänden organisiert gewesen – meistens aber getrennt nach ethnischer Identität. Doch sie waren zu wenige und die Organisationen zu klein, um verbal Gewicht zu haben. Während der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund in Westdeutschland 2018 knapp 29 Prozent betrug, lag er in Ostdeutschland immer noch bei gerade einmal acht Prozent. In Sachsen-Anhalt liegt der Wert noch einmal niedriger: sechs Prozent, ungefähr 150.000 Menschen also.

Mamad Mohamad gründete vor über zehn Jahren das Netzwerk Lamsa.
Mamad Mohamad gründete vor über zehn Jahren das Netzwerk Lamsa.

„Sachsen-Anhalt ist kein Einwanderungsland“, meint der in Syrien geborene Hallenser Mohamad. Das Ost-Bundesland sei keins, in das Geflüchtete freiwillig gehen würden – sie würden ihm zugewiesen. „Niemand sagt: ‚Yes, ich gehe nach Halle.‘“

Menschen mit Migrationsgeschichte würden natürlich lieber in die Orte gehen, wo sie schon jemanden kennen – und dorthin, wo es Arbeit gibt und sie willkommen sind. Diese Entscheidung allerdings treffen andere. Denn die Verteilung von Asylsuchenden auf die Bundesländer regelt in Deutschland der Königsteiner Schlüssel. Genau 2,75164 Prozent sind es laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, die in 2019 nach Sachsen-Anhalt gehen müssen.

Der Druck schweißt zusammen

Dorthin also, wo die AfD bei der Landtagswahl 2016 fast ein Viertel der Stimmen holte – damals noch unter der Führung von Ex-Parteichef André Poggenburg, der selbst in den eigenen Reihen für seine rassistischen Entgleisungen gemaßregelt wurde

Mohamad dagegen erzählt lieber von Bremen. In der Hansestadt liege der Anteil von Menschen mit Migrationsgeschichte bei über 20 Prozent – bei der Wahl im Mai dieses Jahres hätten jedoch gerade einmal sechs Prozent für die AfD gestimmt. Es ist eins der schlechtesten Wahlergebnisse der Partei. Halb ernst, halb scherzhaft erklärt Mohamad: „Um Rechtsextremismus zu bekämpfen, bräuchten wir eigentlich mehr Menschen mit Migrationsgeschichte.“ Und fügt nach einer kurzen Pause und etwas müde hinzu: „Es würde zumindest helfen.“ 

Aber mehr Menschen mit Migrationsgeschichte leben nunmal nicht in Ostdeutschland. Deshalb aber gibt es Lamsa. Inzwischen gehören mehr als 100 Mitgliedsorganisationen dem Netzwerk an.„Der Verband ist nicht durch Druck von außen entstanden, sondern durch Druck von innen.“ Das ist es, was für Mohamad das Besondere an Lamsa ist. „Wir mussten uns zusammentun.“ Die einzelnen Mitglieder hätten daher auch eine tiefe Bindung zum Netzwerk.

Eine nachgefragte Anlaufstelle

Am Anfang war Lamsa nur ein loses Netzwerk. Doch mit der Zeit wuchs es rasant und immer mehr Menschen fanden Gefallen an der Idee. Irgendwann war die Arbeit aber ehrenamtlich nicht mehr zu stemmen. So wurde das Netzwerk 2014 zu einem eingetragenen Verein mit Mamad Mohamad als Geschäftsführer.

„Sachsen-Anhalt ist kein Einwanderungsland“, meint Mamad Mohamad.
„Sachsen-Anhalt ist kein Einwanderungsland“, meint Mamad Mohamad.

Besonders stolz ist der auf das Leitbild des Vereins. Das, sagt er, sei ein gutes Beispiel dafür, wie Lamsa arbeite. Denn alle 105 Organisationen des Netzwerks hätten daran mitgewirkt: „Wir haben uns sehr viel Zeit gelassen. Anderthalb Jahre hat es insgesamt gedauert“, erzählt der Geschäftsführer.

Im Leitbild ist festgehalten, dass Lamsa Ansprechperson sein will – „für Institutionen der Mehrheitsgesellschaft“, damit die sich ein Bild über Belange der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen mit Migrationshintergrund verschaffen können. Auch sollen die Mitglieder in ihrem Alltag – und im Kampf gegen Rassismus unterstützt werden.

Dafür gibt es beispielsweise entsprechende Beratungsstellen in zwei Städten. Dorthin können sich Menschen mit Migrationsgeschichte kostenlos wenden – auch anonym.

Warum der Verein anders agiert

In anderen Projekten hilft der Verein Menschen mit Migrationsgeschichte bei der Wohnungssuche und beim Kontakt mit Behörden, wenn sie noch nicht so gut Deutsch sprechen. Lamsa stellt sich auch an die Seite von Geflüchteten, befasst sich mit den Lebensbedingungen in den Unterkünften und ihrer Integration in den Arbeitsmarkt.

Darüber hinaus soll Menschen mit Migrationsgeschichte dabei geholfen werden, eine Arbeit oder eine Ausbildung zu finden. Das Projekt, meint Mohamad, zeige, warum Selbstorganisationen von Menschen mit Migrationsgeschichte so wichtig sind. Und, was sie vielleicht besser können als andere. 

Denn eine Zeit lang seien in Sachsen-Anhalt zu wenige Geflüchtete und Menschen mit Migrationsgeschichte in Ausbildung gewesen. Das hätten verschiedene Organisationen ändern wollen. „Die haben geglaubt, sie erreichen die Menschen. Doch sie haben Projekte entwickelt, ohne überhaupt mit Betroffenen zu reden.“ Und so seien die Ideen der alteingesessenen Institutionen meistens ins Leere gelaufen. Lamsa wollte es besser machen. Der Unterschied: Die Engagierten des Vereins kannten das Problem von innen. Und sie verstehen es, mit Betroffenen in Kontakt zu kommen. 

Lamsa vermittelt Ausbildungen

„Wir haben uns gedacht, es kann doch nicht sein, dass Jugendliche keine Ausbildung machen wollen“, erklärt Mohamad. Das Problem sei ein anderes – nämlich: Das Konzept einer Ausbildung sei in manchen Kulturkreisen kaum bekannt. „Außerdem war uns klar, dass wir die Familien mitnehmen müssen, um überhaupt an die Jugendlichen heranzukommen.“ 

In drei Jahren habe das Lamsa-Projekt 5000 junge Menschen beraten. Zehn Prozent davon hätten schließlich teilgenommen. 300, so Mohamad, haben am Ende tatsächlich einen Ausbildungsplatz gefunden. Ein Viertel davon seien Frauen gewesen. Die zu erreichen, sei häufig nicht leicht. Aber die kurzen Drähte von Lamsa, beispielsweise in die Moscheen, seien da sehr hilfreich gewesen. Verbindungen eben, die andere Organisationen nicht vorweisen könnten.

Besonders die Beratungsarbeit zählt zu den Schwerpunkten von Lamsa.
Besonders die Beratungsarbeit zählt zu den Schwerpunkten von Lamsa.

Auch in der Beratung von Eltern mit Migrationshintergrund sei Lamsa mit seiner eigenen Strategie erfolgreich gewesen. Der Unterschied hier: Der Verein hatte auch an den Wochenenden Termine angeboten. „Natürlich sind die Eltern unter der Woche beschäftigt. Sie müssen arbeiten, sich um den Haushalt kümmern“, sagt Mohamad schulterzuckend.

Teilhabe-Forderung ist unerfüllt

Letztendlich, meint der 38-Jährige, stehe Lamsa in Konkurrenz mit größeren, prestigeträchtigeren, sozialen Institutionen: „Die sitzen am längeren Hebel.“ Aber als Selbstorganisation von Menschen mit Migrationsgeschichte könne der Verein Dinge bieten, die andere nicht hätten. Das seien nicht nur die kurzen Drähte zu anderen migrantischen Gruppen. Sondern vor allem auch den Input einer großen gesellschaftlichen Gruppe, der viel zu lange nicht zugehört wurde.

„Das Problem ist immer noch, dass andere Organisationen denken, sie wüssten besser, was wir brauchen“, seufzt Mohamad. Aber da wolle Lamsa nicht mitmachen. Der Verein reklamiere also das, was ihm auch zustehe: „Es geht nicht nur darum, dass wir wissen, was die Menschen mit Migrationsgeschichte brauchen, sondern ganz konkret um Teilhabe an der Gesellschaft.“

Das zeige sich beispielsweise auch bei der Zusammensetzung des Bundestages. 57 Abgeordnete haben laut Mediendienst Integration zwar eine Migrationsgeschichte, in den meisten Fällen jedoch gehe die auf europäische Vorfahren zurück. Der SPD-Politiker Karamba Diaby, ebenfalls Mitbegründer von Lamsa, bleibt damit der einzige Abgeordnete mit afrikanischer Herkunft im Parlament.

Konfrontiert mit Konfliktherden

Anders lebt das der Verein vor. Die Menschen, die hauptamtlich bei Lamsa arbeiten, stammen aus ingesamt 27 verschiedenen Nationen. Allein im Büro prallen deshalb schon ganz unterschiedliche Kulturen, Wertvorstellungen und Gewohnheiten aufeinander. „Ich merke das meistens daran, wie unterschiedlich die Menschen denken und arbeiten“, sagt Mohamad. Einfach sei das nicht immer: „Manchmal tragen sie Konflikte aus ihren Herkunftsländern mit hierher“, weiß der Geschäftsführer. Dann versuche das Netzwerk, eine faire Lösung für alle Seiten zu finden.

Zehn Jahre nach der Gründung sind gut 100 Mitglieder dazugekommen.
Zehn Jahre nach der Gründung sind gut 100 Mitglieder dazugekommen.

Unter anderem sei das in jüngerer Vergangenheit bei Menschen aus Russland und der Ukraine der Fall gewesen, vor allem vor gut fünf Jahren, als die Krimkrise so präsent war. Ähnliche Situationen erlebe er auch immer wieder zwischen Menschen aus Palästina und Israel. Mohamad erzählt: „Als die US-amerikanische Botschaft 2018 von Tel Aviv nach Jerusalem verlegt wurde, gab es auch in Halle Proteste. Dabei haben sich einige Menschen aus Palästina antisemitisch geäußert.“ Lamsa habe damals sehr deutlich gemacht, dass der Verein das nicht dulde. Und dennoch musste dieser interne Konflikt gelöst werden – damit der Verein weiter effektiv zusammenarbeiten konnte.

Der Versuch, sich zu verstehen

In den Vereinsstrukturen kann Lamsa auf ausgebildete Beratende zurückgreifen. Die, verdeutlicht Mohamad, haben in solchen komplizierten Situationen vermittelt, „einzeln, aber auch gemeinsam mit den Konfliktparteien gesprochen, um herauszufinden, wo genau das Problem liegt.“ So habe sich der Streit auch recht schnell lösen lassen – im konkreten Fall sei die jüdische Gemeinde nach einer Entschuldigung und einer öffentlichen Stellungnahme seitens der Menschen aus Palästina sowie einigen Besuchen untereinander wieder versöhnt gewesen.

Besonders die enge Verbundenheit im Verein sei dabei von Vorteil: „Wir kennen uns alle. Und wir leben und arbeiten zusammen“, meint Mohamad, „Da ist es viel schwerer, einander zu hassen – und viel leichter, einander zu verstehen.“

Doch viel gefährlicher als die internen Streitigkeit seien jene, die außerhalb der Gemeinschaft auf Lamsa warten. „2016 haben wir entschieden, jede Veranstaltung, die wir umsetzen, mit der Polizei abzustimmen“, bemerkt Mohamad. Die Engagierten hatten Angst um ihre eigene Sicherheit. Der Grund: Die rechtsextreme Identitäre Bewegung, die in Halle ein Hausprojekt betreibt, hatte kurz zuvor über Nacht die Tür der Lamsa-Geschäftsstelle zugemauert. 

Anfeindungen von rechtsaußen

„No way!“ war auf die braunen Mauersteine gesprüht. Am Tag danach war in den Vereinsräumen eine Probewahl für Menschen mit Migrationsgeschichte geplant. In Sachsen-Anhalt haben die nämlich kein Wahlrecht, auch wenn sie dort ihren ständigen Wohnsitz haben. Die Mauer wurde abgerissen – und die Wahl fand trotzdem statt.

Der Vorfall allerdings bildet nur einen Bruchteil dessen ab, womit die Engagierten und Mitgliedsorganisationen von Lamsa regelmäßig zu kämpfen haben. „Momentan“, so Mamad Mohamad, „haben wir fünf Anzeigen laufen, weil Menschen uns bedroht oder beleidigt haben. Auch Morddrohungen sind dabei.“ Doch nicht alle im Verein kommen mit dem Hass und dieser Gefahr klar: „Wenn es am Abend Termine in ländlicheren Gegenden gibt, finden wir häufig niemanden, der sie übernimmt. Es gibt Regionen in Sachsen-Anhalt, wo keiner von uns hin will.“

Drohungen und Übergriffe von rechtsaußen sind leider keine Ausnahme.
Drohungen und Übergriffe von rechtsaußen sind leider keine Ausnahme.

Gerade auf dem Land würden Menschen mit Migrationshintergrund rassistisch angegriffen. Einige trauten sich daher auch nicht, die öffentlichen Verkehrsmittel zu nutzen. Doch der Hass, der dem Verein entgegenschlägt, führt noch zu ganz anderen, ungeahnten Problemen. Bei der Bürosuche hätten Vermietende ihre Sorge vor rechtsextremen Übergriffen geäußert – und Lamsa abgesagt.

Wenn Kapazitäten nicht reichen

All diese negativen Erfahrungen will Lamsa mit seiner Arbeit sichtbar machen – und möglichst verhindern. Die zwei Beratenden, die es dafür gebe, könnten das gar nicht alles bewältigen: „Die Kapazitäten, die wir in den Beratungsstellen haben, reichen vorne und hinten nicht“, sagt Mamad Mohamad ernüchtert. Es gebe zu viele Anfragen, um diese wirklich effektiv bearbeiten zu können. Besonders, weil Beratungsfälle selten schnell und erst recht nicht unkompliziert zu klären seien. 

Beispielhaft schildert Mamad Mohamad den Fall eines Ratsuchenden. Dieser sei beim Jobcenter gewesen, das unterschiedliche Unternehmen eingeladen und mit dem Mann zusammengebracht hatte. Doch einer der Arbeitgeber habe ihn direkt weggeschickt. Seine Worte: „Sie können gleich wieder gehen, wir nehmen keine Afrikaner.“

Doch es habe einige Zeit gedauert, bis sich der Mann schließlich an den Verein wandte. In der Beratungsstelle entschieden sie sich gemeinsam für einen Beschwerdebrief an den Arbeitgeber. Eigentlich sei es dem Ratsuchenden nur um eine Entschuldigung gegangen, doch es kam anders. Denn anstatt sich zu entschuldigen, wiederholte der Arbeitgeber nur seine Aussage – diesmal aber schriftlich. „So dreist müssen Sie erstmal sein.“ Mohamad schüttelt den Kopf.

Rassismus wird zur Kleinigkeit

Dadurch aber war es möglich, juristisch gegen den Arbeitgeber vorzugehen. Der Kläger gewann den Prozess und bekam Schadensersatz zugesprochen. Das Problem aber war dadurch nicht gelöst. Denn das Gespräch war vom Jobcenter organisiert worden und hatte in dessen Räumen stattgefunden. Also konfrontierte Lamsa die Mitarbeitenden des Jobcenters mit dem Vorfall.

Für Mamad Mohamad sind die Behörden Teil des Rassismus-Problems.
Für Mamad Mohamad sind die Behörden Teil des Rassismus-Problems.

Anstatt sich allerdings für seinen Klienten stark zu machen, habe das Jobcenter den Arbeitgeber verteidigt. Seine Aussage sei nicht so gemeint gewesen – der Verein solle nicht so sensibel sein. „Da habe ich gemerkt: Das Gespräch hat keinen Sinn“, sagt Mohamad und schaut kurz auf den Boden. „Die Botschaft des Jobcenters lautete: Ich bin selbst schuld, wenn ich diskriminiert werde.“ In so einem Moment sei der nächste Schritt, sich an die nächsthöhere Stelle zu wenden – die politischen Verantwortliche der Stadt etwa oder eine Gewerkschaft. Um das zu tun, sammle die Beratungsstelle gerade ähnliche Fälle. Eine Ausnahme sei der Vorfall leider nicht gewesen.

Behörden als Teil des Problems

Für Mamad Mohamad ein Grund mehr, warum sich noch vieles ändern müsse. Auch die Gesetze: „Versuchen Sie mal, gegen Alltagsrassismus zu klagen. Das ist nur schwer zu beweisen. Und selbst, wenn Sie diese Fälle von Diskriminierung schriftlich vorzeigen können, steht die Meinungsfreiheit meistens noch darüber.“ Wie das Beispiel des Jobcenters zeigt, seien auch Verwaltungsstrukturen Teil des Problems: „Es macht natürlich einen großen Unterschied, wie Behörden in so einer Situationen reagieren.“

Deswegen sei es wichtig, dass Verwaltungen und vor allem deren Mitarbeitende ein Bewusstsein für rassistische Diskriminierung entwickeln. Lamsa helfe dabei, indem der Verein einen gewissen moralischen Druck ausübe: „Die Menschen, die dort arbeiten, müssen merken, dass es nicht egal ist, was sie machen. Und dass es Leute gibt, die darauf achten, wie sie mit Rassismus umgehen“, sagt Mohamad. Dafür sei es allerdings genauso notwendig, Menschen mit Migrationsgeschichte beizubringen, sich selbst zu wehren und für die eigenen Rechte einzustehen.

Im Land hat sich etwas bewegt

Regelmäßig machen Mohamad und sein Team Tests, um strukturellen Rassismus nachzuweisen. Sie bewerben sich beispielsweise mit deutschem und ausländischem Namen für eine Wohnung und werten aus, wie schnell sie welche Antwort bekommen. Oder sie probieren, wer am ehesten in eine Diskothek gelassen oder zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen wird. Nur selten gebe es die gewünschten Ergebnisse. Der Rassismus sei nach wie vor zu spüren da, so Mohamad.

Der Lamsa-Geschäftsführer drängt auch auf ein verändertes Wahlrecht.
Der Lamsa-Geschäftsführer drängt auch auf ein verändertes Wahlrecht.

Fällt es ihm manchmal schwer, den Mut zu behalten? Mohamad überlegt kurz. Dann schüttelt er den Kopf: „Zwischendurch gibt es natürlich auch Tiefphasen.“ In solchen Momenten würden sie sich im Netzwerk gegenseitig auffangen. Es helfe, zu wissen, dass niemand alleine kämpft. „Das gibt Kraft.“ Außerdem habe Lamsa im vergangenen Jahrzehnt schon vieles erreicht. „Wir haben Menschen, die uns unterstützen, und einen guten Draht in die Politik.“

Mohamad spürt, dass sich im Land Sachsen-Anhalt tatsächlich etwas bewegt hat. Die Mehrheitsgesellschaft gehe anders mit Menschen mit Migrationsgeschichte um als 2008. Bei den Kommunalwahlen im Mai hätten in fast jedem Landkreis Menschen mit Migrationsgeschichte kandidiert. 

Steine sind Trophäen geworden

Im nächsten Schritt, verdeutlicht Mamad Mohamad, müsse es nun um ein kommunales Wahlrecht auch für Menschen mit Migrationsgeschichte gehen. Doch für eine solche Änderung des Wahlrechts braucht es eine Entscheidung vom Bundestag und dem Landtag in Sachsen-Anhalt.

Und der Erfolg der AfD in weiten Teilen Ostdeutschlands? Den müsse er akzeptieren, meint Mamad Mohamad. Ändern lasse sich das nicht. Dass Lamsa trotzdem nicht daran denkt, sich von Rechtsaußen-Parteien und ihren Anfeindungen einschränken zu lassen, das beweist ein Text im Jahresbericht des Vereins aus dem Jahr 2016. Dort wird erklärt, was mit den Mauersteinen geschehen ist, die vor drei Jahren plötzlich die Eingangstür zur Geschäftsstelle versperrten. 

„Die Steine, die politische Bildung und Partizipation der Migrant*innen symbolisch verhindern sollten, haben wir behalten und ‚umgetauft‘“, schreiben die Engagierten dort. „Die ,Wegesteine der Partizipation’ wurden acht Monate nach der Zumauerung der Eingangstür an ehrenamtliche Helfer*innen und Kooperationspartner*innen übergeben.“ Die Mauersteine sind zu Trophäen des Vereins geworden, auf ihrem immer noch steinigen Weg zur Partizipation.

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