Text: Susanne Kailitz — Fotos: Benjamin Jenak
Der Chemnitzer Kaßberg gehört zu den schönsten Wohnvierteln, die die sächsische Stadt zu bieten hat. Friedlich wirken die Straßenzüge mit den meterhohen Bäumen und ihren prächtigen Jugendstilvillen. Doch hier inmitten des Zentrums herrschte in der Vergangenheit nicht überall Idylle. Bis vor wenigen Monaten noch zeugte eine große graue Mauer davon – ringsum gesäumt mit Stacheldraht und unterbrochen von einem schweren Eisentor. Inzwischen ist sie abgerissen. An das, was hier einmal stand, erinnern nur noch Fotos und Tafeln.
An der Kaßbergstraße befindet sich ein besonders geschichtsträchtiger Ort, an dem für tausende Menschen ein ganz spezielles Kapitel in der eigenen Biographie begann – und meist kein gutes. Es ist das Gelände des Chemnitzer Kaßberg-Gefängnisses.
1877 am Rand des bürgerlichen Viertels erbaut, diente der riesige Gebäudekomplex weit über 100 Jahre als Haftanstalt. Und blickt in seiner Vergangenheit gleich auf zwei Diktaturen zurück: als Untersuchungs- und Strafgefängnis der nationalsozialistischen Justiz von 1933 bis 1945 und später zunächst als Haftanstalt des sowjetischen Geheimdienstes NKWD und dann als größtes Stasi-Untersuchungsgefängnis und zentrale Abschiebehaftanstalt der DDR. Mehr Geschichte geht kaum.
An der Kaßbergstraße befindet sich ein besonders geschichtsträchtiger Ort, an dem für tausende Menschen ein ganz spezielles Kapitel in der eigenen Biographie begann – und meist kein gutes. Es ist das Gelände des Chemnitzer Kaßberg-Gefängnisses.
1877 am Rand des bürgerlichen Viertels erbaut, diente der riesige Gebäudekomplex weit über 100 Jahre als Haftanstalt. Und blickt in seiner Vergangenheit gleich auf zwei Diktaturen zurück: als Untersuchungs- und Strafgefängnis der nationalsozialistischen Justiz von 1933 bis 1945 und später zunächst als Haftanstalt des sowjetischen Geheimdienstes NKWD und dann als größtes Stasi-Untersuchungsgefängnis und zentrale Abschiebehaftanstalt der DDR. Mehr Geschichte geht kaum.
Morbide und lange verlassen
Heute wenden sich jene, die etwas über das Gefängnis erfahren wollen oder darüber erzählen können, in der Regel an Steffi Lehmann. Die Politologin ist nicht nur Herrin über den Schlüssel zum Mehrgeschosser, sondern genauso wissenschaftliche – und einzige angestellte – Mitarbeiterin des Vereins, der seit vielen Jahren um den Erhalt des historischen Orts und die Errichtung einer Gedenkstätte kämpft.
Die 30-Jährige kennt auf dem Gelände jeden Stein, kann zu jedem Teil des Gebäudes und jeder Zelle eine Geschichte erzählen. Sie hat im Kopf, wo die Gefangenen in engen, „Tigerkäfige“ genannten Zellen für ein paar Minuten des Tages an die frische Luft durften, erinnert sich daran, wie frühere Insassen ihr erzählten, dass das Wachpersonal ihnen allein mit dem Scharren des Schlüssels an den Zellentüren Angst einjagten, weil sie fürchten mussten, zum Verhör abgeholt zu werden.
Lehmann ist eine fröhliche Frau, die gern und viel lacht; von der morbiden Atmosphäre des verlassenen Baus lässt sie sich nicht einschüchtern. Nur manchmal, wenn sie nach Veranstaltungen oder Führungen noch alleine durch die früheren Zellentrakte laufe und es raschle, dann sei ihr doch ein bisschen unwohl. „Aber ich habe mir eingeredet, dass das alles von dem Waschbären kommt, den wir hier mal gesehen haben.“
Wohnungen statt Erinnerung
Und allein ist Lehmann derzeit ohnehin nur selten: Nach jahrelangem Leerstand und einer Phase, in der niemand wusste, wie es um das Gebäude steht, das seit 2011 aus Brandschutzgründen nicht mehr als Gefängnis genutzt wird, wird jetzt gearbeitet.
Das Gelände hat sich in eine riesige Baustelle verwandelt, schwere Fahrzeuge haben den Lehmboden in eine Schlammlandschaft verwandelt, überall liegt Bauschutt. Ein Investor hat begonnen, einen großen Teil des Gebäudes in Wohnungen zu verwandeln, außerdem sollen auf dem Gelände mehrere Stadtvillen und eine Tiefgarage entstehen.
Es sei „ein Prozess“ gewesen, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass dort, wo früher Gefangene litten, schon bald glückliche Familien wohnen, erklärt Steffi Lehmann, „aber irgendwann habe ich mir gedacht, dass mit dieser Veränderung auch das Schweigen hinter den Mauern durchbrochen wird“.
Der böse Geist des Gemäuers soll weg, aber gleichzeitig soll die Geschichte des Orts nicht in Vergessenheit geraten. Darin ist sich Lehmann mit den anderen Aktiven des Vereins einig. Lange haben sie dafür gekämpft, dass es heute eine Gedenkstätte gibt, wo einst so vielen Menschen die Freiheit genommen wurde.
An jeder Ecke eine Anekdote
Zu denen, die dafür gesorgt haben und sorgen, dass an die vielen Schicksale, die hier auf dem Kaßberg maßgeblich geprägt wurden, erinnert wird, gehört auch Christian Lieberwirth. Der studierte Historiker machte 2012 ein Praktikum in der Chemnitzer Außenstelle der Stasi-Unterlagen-Behörde und lernte dort einen der Gründer des Vereins Lern- und Gedenkort Kaßberg-Gefängnis kennen – und steckte sich an mit dessen Begeisterung für den geschichtsträchtigen Ort an.
Seither hat er es sich zur Aufgabe gemacht, andere Menschen über den Ort und seine Vergangenheit zu informieren. Ganz genau kann er sich an die erste Museumsnacht erinnern, in der das Gefängnis seine Pforten für Interessierte geöffnet hat: Hunderte Menschen hätten im Juli 2012 stundenlang im strömenden Regen gewartet, um das Gebäude besichtigen zu dürfen. „Das war extrem beeindruckend.“
Inzwischen hat Lieberwirth rund 30 Führungen durch das Haus und über das Gelände gemacht – und wie seine Kollegin Steffi Lehmann gibt es keine Ecke, zu der ihm keine Geschichte einfiele. Lieberwirth ist eigentlich Lehrer, für das Kaßberg-Gefängnis gibt er gern seine Freizeit her. Gerade für junge Menschen sei es eine wichtige Erkenntnis, am authentischen Ort zu erfahren, „was Diktaturen den Menschen alles nehmen“.
Warten auf eine neue Freiheit
Besonders spannend findet er, mit welch unterschiedlichen Gesichtern die Repression in den verschiedenen Zeitabschnitten daherkam. Für die politische Gegnerschaft der NS-Diktatur war der Aufenthalt auf dem Chemnitzer Kaßberg häufig erst der Beginn eines Leidenswegs, der für viele von ihnen mit dem Tod in einem Konzentrationslager endete. Auch für die Untersuchungshäftlinge, die vom sowjetischen Geheimdienst brutal verhört und von einem Militärtribunal im Nebengebäude in rechtstaatswidrigen Schnellverfahren zu jahrzehntelangen Haftstrafen verurteilt wurden, fand das Leben, so wie sie es zuvor kannte, hier ein Ende.
Ein neuer Anfang dagegen stand für die Menschen an, die ein Vierteljahrhundert später von hier gegen Devisen nach Westdeutschland verkauft worden sind. Denn ab Mitte der 1960er-Jahre war das damalige Gefängnis für die politischen Gefangenen der DDR die Durchgangsstation in die Freiheit.
Für die frühen Jahre der Anstalt gibt es heute keine Menschen mehr, die diese Zeit miterlebten. Umso wichtiger finden Lieberwirth und Lehmann, dass den Überlebenden, die heute noch berichten können, zugehört wird. Immer wieder organisiert der Verein deshalb Veranstaltungen mit jenen, die auf dem Kaßberg inhaftiert waren, damit sie darüber berichten können.
Wenn sich Erinnerung ändert
„Wir müssen diese Möglichkeit, dass Menschen authentisch über das berichten, was hier geschehen ist, nutzen“, meint Lieberwirth. Doch die Zeit wird langsam knapp und es müssen neue Wege gefunden werden, um die Erinnerungen zu sichern und heutigen Generationen zugänglich zu machen. Erst im vergangenen Jahr hat der Verein einen Film mit Interviews veröffentlicht, die mit Luftbildaufnahmen und Videos aus dem Inneren des Gebäudes verwoben wurden und so ein Bild der Repressionsgeschichte der größten MfS-Untersuchungshaftanstalt der DDR zeichnen.
Möglich wird das durch eine enge Verzahnung von Haupt- und Ehrenamt: Nur weil die Festangestellte Steffi Lehmann auf eine extrem motivierte Gruppe Ehrenamtlicher wie Christian Lieberwirth zurückgreifen kann, ist die viele Arbeit überhaupt schaffbar. Dass es den Nerv der Bevölkerung trifft, beweisen die Museumsnächte, an denen der Verein in den vergangenen Jahren immer wieder teilgenommen hat: Mehr als 1 000 Menschen nutzten jeweils die Gelegenheit, sich über den Ort zu informieren.
Kontroversen um die Zukunft
Dass all die Erinnerungen konserviert und einer großen Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden können, war lange nicht sicher. Denn für viele Jahre war vollkommen unklar, ob und in welcher Form es hier einen Gedenkort geben würde. Später waren die Möglichkeiten einer finanziellen Förderung ungeklärt und schließlich sorgte die Frage, wie NS- und DDR-Diktatur nebeneinander dargestellt werden können, für Zündstoff.
Inzwischen allerdings haben Land und Stadt Gelder für eine Gedenkstätte bewilligt. Vor zwei Jahren wurde der Gedenkort eröffnet, zu dem es auch ein Nutzungskonzept gibt.
In einem Teil des Gebäudes entstehen eine Dauerausstellung und neue Seminarräume. Die Bauarbeiten sollen im kommenden Jahr beginnen und die Eröffnung ist für 2021 geplant. Ein ambitionierter Zeitplan, das gibt Steffi Lehmann zu, „aber wir haben hier in den letzten Jahren so viel geschafft. Das muss einfach klappen.“
Auf Veto erscheinen Geschichten über Menschen, die etwas bewegen wollen. Wer unsere Idee teilt und mithelfen möchte, kann das unter steadyhq.com/veto tun.