Text: Alisa Sonntag — Fotos: Nick Jaussi und Alisa Sonntag
Triggerwarnung: In diesem Beitrag werden Gewalt und selbstverletzendes Verhalten beschrieben. Wem es damit nicht gut geht, sollte diesen Text nicht lesen!
Wenn Daniela von ihrer Arbeit erzählt, klingt es manchmal so, als würde sie ein bisschen mit der Welt hadern. Mindestens aber, das wird deutlich, ist sie unzufrieden mit dem medizinischen System. Gerade steckt die 33-Jährige in einer Ausbildung zur Fachärztin für Anästhesie und Notfallmedizin, hat sich aber ein Jahr freigenommen.
„Ich wollte mal runterkommen“, sagt sie. Die Arbeit als Assistenzärztin mit den bis zu 24 Stunden langen Schichtdiensten sei sehr anstrengend. Nicht nur das medizinische Personal würde in diesem System ausgebeutet, auch für die kranken Menschen werde nicht immer die beste Lösung gefunden.
Das freie Jahr sei deswegen nicht nur als Pause gedacht gewesen. Daniela wollte herausfinden, ob sie wirklich auf diese Art und Weise arbeiten will – vor allem unter diesem Druck. Außerdem ist sie während ihrer Auszeit bei zwei Rettungsmissionen auf dem Mittelmeer mitgefahren. Im Juni war sie bei der Protestaktion „Yachtfleet“ des in Dresden gegründeten Vereins Mission Lifeline dabei.
Und im September ging sie für drei Wochen als Ärztin an Bord der „Alan Kurdi“. Ein Schiff der Hilfsorganisation Sea-Eye, das den Namen eines ertrunkenen Jungen trägt, dessen Leichnam an der türkischen Mittelmeerküste angeschwemmt wurde. Die Fotoaufnahmen des leblosen Körpers hatten 2015 weltweit für Aufsehen gesorgt.
Wieder zurück im alltäglichen Leben
Für Daniela sei es eine aufreibende Zeit gewesen, wie sie sagt – kaum Schlaf, ständig schockierende, emotionale Momente, keine Privatsphäre, wenig Platz und dazu eine furchtbare Hitze. Und trotzdem: „Es war okay“, sagt die Ärztin, „schließlich wussten wir, dass wir unsere Privilegien bald wiederbekommen.“ Ganz im Gegensatz zu den Menschen, die sie aus dem Mittelmeer gerettet haben. Nach den drei anstrengenden Wochen fühle sie sich trotzdem anders als davor. „Meine Emotionstanks sind leer“, erklärt sie. „Aber die werden sich in Deutschland schnell wieder auffüllen.“
Noch sei es irgendwie komisch, wieder zu Hause in Leipzig zu sein. Ein harter Wechsel sei das gewesen – vom Leben auf dem Boot zurück in den deutschen Alltag. Zurück in einer behaglichen Wohnung, mit vertrauten Gesichtern zwar, aber doch auch mit den alltäglichen Streitereien. Von einer Situation, in der Daniela direkte humanitäre Hilfe leisten konnte, hinein in ein System, in dem mit Medizin Geld verdient wird.
Und zurück in einem Land, in dem es nicht selbstverständlich ist, dass Menschen, die auf dem Mittelmeer zu ertrinken drohen, gerettet werden. Daniela selbst hat noch keine negativen Reaktionen erfahren, bemerkt sie. Aber sie kennt den Hass, der den vielen privaten Hilfsorganisationen häufig entgegenschlägt. Deswegen möchte sie auch nicht ihren vollen Namen veröffentlichen.
Gefährliche Flucht übers Mittelmeer
Kritik an der Arbeit der Seenotrettenden gebe es nicht nur von Rechts, erzählt die Ärztin. Bei einer marxistisch-leninistischen Diskussionsrunde sei einmal die Kritik gekommen, dass die Menschen, die die Ertrinkenden retten, nicht gegen die Ursachen der Fluchtbewegungen kämpften, sondern nur gegen ihre Auswüchse.
Daniela schüttelt darüber den Kopf. Das findet sie zu kurz gedacht: „Wir kennen die Ursachen und natürlich gehe ich beispielsweise auch auf Klimademos und versuche so, etwas gegen Fluchtursachen zu tun.“ Letztlich müsse aber trotzdem beides passieren. Und solange auf dem Mittelmeer Menschen in löchrigen, überfüllten Booten unterwegs seien, müssten die auch gerettet werden. „Ich diskutiere das nicht“, antwortet Daniela bestimmt und fügt nach einer Pause hinzu: „Ich kann da nicht einfach nur zuschauen.“
Ihr eigenes Umfeld, sagt die Ärztin, habe positiv reagiert, als sie von ihrer Teilnahme an den privaten Rettungsmissionen berichtet habe. „Viele in meinem Freundeskreis haben mittlerweile Kinder und sind deswegen momentan nicht in einer Situation, in der sie einfach mal für ein paar Wochen aufs Mittelmeer fahren können. Die sind dankbar, dass Menschen wie ich das quasi stellvertretend für sie tun.“
Im vergangenen Jahr sind insgesamt 2 277 Menschen im Mittelmeer ertrunken, so die Zahlen des UNHCR. Für 2019 wurden bis zum 1. Juli 584 Tote und Vermisste gezählt. Die Zahl der Toten geht zwar zurück, doch die Flucht über das Mittelmeer wird immer gefährlicher. Um die Rettung von in Seenot geratenen Geflüchteten kümmern sich seit längerem schon viele private Hilfsorganisationen.
Crewmitglieder proben den Ernstfall
Danielas Mission mit der „Alan Kurdi“ begann am 24. August 2019. Von den drei Wochen, die Sea-Eye für eine Mission einplant, nimmt die An- und Abreise ganze neun Tage ein – beinahe die Hälfte der Zeit. „Schade“, findet Daniela. Der Grund für die lange An- und Abreise: Die Schiffe der Hilfsorganisation müssen in Spanien starten. Denn in Italien dürfen sie schon seit einiger Zeit nur noch selten anlegen. Und weil die Schiffe nicht unbedingt die neuesten sind, sind sie auch nicht besonders schnell unterwegs.
Die Tage der Anreise nutzt die Crew für Trainings. Dabei lernen alle, die sich mit der Seefahrt nicht so gut auskennen, wie sie auf dem Wasser überleben, wie sie sich im Falle eines Feuers verhalten oder wie die Rettungsboote zu Wasser gelassen werden.
Diese Zeit sei auch deshalb so wichtig, damit sich die Crew besser kennenlernt. Denn wenn 19 Menschen über drei Wochen unzählige emotionale Ausnahmesituationen erleben und auf engstem Raum miteinander Zeit verbringen, kann das anstrengend werden. Nur knapp die Hälfte der Crew auf der „Alan Kurdi“ seien erfahrene Seeleute gewesen, erinnert sich Daniela, die anderen waren Freiwillige – darunter ärztliches Personal und auch ein Koch.
Wenn an Bord alle anpacken müssen
Darüber hinaus seien drei Menschen an Bord gewesen, die für die Berichterstattung zuständig waren: eine RTL-Reporterin, eine Person, die für Sea-Eye Fotos und Social-Media-Arbeit macht, und ein Reuters-Reporter. „Wie alle Hilfsorganisationen brauchen wir diese Öffentlichkeit. Wir müssen beweisen können, was an Bord passiert ist. Auch rückt die Berichterstattung unsere Arbeit und die Probleme, die dahinter stehen, in den Fokus – zum Beispiel die Situation der Geflüchteten.“
Das setze auch die Politik unter Druck. Dessen seien sich alle Crew-Mitglieder bewusst, „obwohl wir natürlich erst mal alle ein bisschen skeptisch waren, wie die RTL-Reporterin sich machen würde“, gibt Daniela zu und lacht.
Alle Menschen an Bord, genauso die Berichterstattenden, müssen in Schichten Dienst schieben. Das bedeutet unter anderem Putzen, in der Küche aushelfen und Ausschau nach Flüchtlingsbooten halten. „Es gibt einfach zu viel Arbeit an Bord, als dass manche da nicht mitmachen könnten.“
Wie viel Spaß ist überhaupt erlaubt?
Nach der Stimmung an Bord der „Alan Kurdi“ gefragt, starrt Daniela in die Luft, sucht nach Worten. Schwierig sei das gewesen. Ambivalent. Ständig liege die Frage in der Luft, wie viel Spaß die Freiwilligen auf einem Rettungsschiff haben dürften, wenn ganz in der Nähe möglicherweise Menschen ertrinken. „Darf ich ein paar Kilometer vor der Rettungszone noch ins Wasser springen – wenn es super heiß ist und an Bord Wasser gespart werden muss?“ Freude und Leid lägen in solchen Fällen eng beieinander.
Auf der „Alan Kurdi“ sei es immer sehr freundschaftlich und humorvoll zugegangen. So hätte die Crew sich mit viel Liebe ein Puppentheater ausgedacht und vorgeführt. Und wegen einer Wette hätte sich der Maschinist an Bord das Batman-Symbol ins Brusthaar rasieren lassen müssen. Und sogar einen literarischen Salon habe es gegeben.
Gerade deswegen sei es auch ein absurder Moment gewesen, als die Crew schließlich in der maltesischen Rettungszone ein Holzboot voller Menschen entdeckte, das ihre Hilfe brauchte. Das sei am 31. August morgens um 6:30 Uhr gewesen: „Ich stand gerade auf der Brücke und habe mit dem ersten Offizier gescherzt. Plötzlich haben wir gesehen, dass sich ein Teil der Crew auf der anderen Seite des Schiffes sammelte.“
Zu diesem Zeitpunkt sei die „Alan Kurdi“ erst seit ungefähr acht Stunden in der Rettungszone unterwegs gewesen. Eigentlich habe die Crew erst nach zwei bis drei Tagen mit einem Einsatz gerechnet.
Ein Boot als kleiner schwarzer Punkt
In so einer Situation müsse erst einmal geklärt werden, weiß Daniela, ob es sich bei der Sichtung tatsächlich um ein Boot in Not handle. „Das Mittelmeer ist ja nicht so leer, wie vielleicht viele denken“, erklärt die Ärztin, „das ist voller großer Schiffe. Und mittendrin siehst du dann nicht mehr als einen kleinen schwarzen Punkt.“ Diesem habe sich die „Alan Kurdi“ erst einmal vorsichtig genähert. Solange, bis feststand, was sie da vor sich hatten: Ein Holzboot, das eigentlich für vier oder fünf Personen ausgelegt war – in dem aber 13 Menschen saßen. Knapp über der Wassergrenze, erinnert sich Daniela, habe das Boot Löcher gehabt.
Zu dem Zeitpunkt, habe die Crew später erfahren, sei das kleine Holzboot schon ganze zwölf Stunden, unterwegs gewesen – die ganze Nacht also. Dass ihm noch kein anderes Schiff begegnet war, das hält Daniela für unwahrscheinlich. „Die Fischerboote müssen eigentlich die Behörden informieren, wenn sie so ein Boot sehen“, sagt die Bordärztin und fügt schulterzuckend hinzu: „Machen sie aber nicht immer.“ Und viele der großen Containerschiffe hätten ihre Routen so verändert, dass sie die bekannten Fluchtrouten nicht mehr kreuzen.
Auf direktem Weg zurück zur Küste?
Mit der Sichtung des Holzbootes musste die Crew der „Alan Kurdi“ aber auch eine schwierige Entscheidung treffen. Denn das Rettungsschiff kann bis zu 200 Menschen aufnehmen – weit mehr als die 13 Personen an Bord des kleinen löchrigen Holzbootes.
Klar war allerdings auch: Sobald die „Alan Kurdi“ die Geflüchteten aufgenommen hatte, musste sie auf direktem Weg zurück zur Küste fahren. So lauten die Regeln für private Hilfsorganisationen wie Sea-Eye, deren Schiffe als Berufsboote gemeldet sind. Anderen Notrufen könne die Crew nur noch dann zur Hilfe eilen, wenn sie direkt auf dem Weg zum Hafen liegen.
„Deswegen haben wir kurz überlegt, ob wir das Boot nur ans Ufer begleiten, damit wir noch mehr Menschen helfen können. Aber das wäre viel zu gefährlich gewesen – das Holzboot hätte keine 30-Zentimeter-Welle überstanden“, erzählt Daniela. Es sei reines Glück gewesen, dass das Boot es überhaupt bis dahin geschafft habe.
Also habe die Crew mit der Rettung der Geflüchteten begonnen. In dem Boot hätten vor allem junge Männer aus Tunesien gesessen – der älteste 35, der jüngste 14. Die meisten aber seien noch nicht einmal volljährig gewesen. „Kinder“, sagt Daniela und schüttelt den Kopf. Die Crew habe die Rettungsboote ins Wasser gelassen und Rettungswesten an die Jungen verteilt. So seien die an Bord gekommen. Anschließend seien Namen, Alter und Herkunft erfasst und die Liste an die maltesische Küste übermittelt worden.
Rettung wird zu zähem Geduldsspiel
Über die Rettung gefreut habe sich aber keiner der jungen Männer. Sie seien wütend und enttäuscht gewesen, erzählt die Bordärztin: „Die dachten, wir hätten sie auf ihrem Weg in ein besseres Leben gestört und wir hätten sie einfach fahren lassen sollen.“ Die Jugendlichen hatten sich ihre Flucht ganz anders, aber vor allem sehr leicht vorgestellt. „Die dachten, die kommen nachts in Lampedusa an, keiner sieht sie, dann schlagen sie sich irgendwie nach Italien durch und haben drei Wochen später Arbeit in Europa.“
Dass der gesamte Strand in Lampedusa nachts streng bewacht ist, sei den jungen Männern überhaupt nicht klar gewesen. Auch nicht, dass Italien und Tunesien einen Auslieferungsvertrag haben und „sie am nächsten Tag wahrscheinlich direkt wieder auf der Fähre nach Hause gesessen hätten“, wie Daniela es ausdrückt. Die Wut über die Rettung habe sich bei den jungen Männern erst nach einigen Tagen gelegt, als ihnen nach heftigen Unwettern klar wurde, dass sie auf dem Holzboot nicht überlebt hätten.
Beschwerden und lausige Stimmung
Doch auch danach wurde die Stimmung nicht wirklich besser. Körperlich, sagt Daniela, sei es den Jungen größtenteils gut gegangen. Psychisch allerdings nicht. Logisch, sagt sie: „Wir haben denen dort aus dem Nichts ihren Lebenstraum zerstört. Kindern!“ Dazu gekommen sei noch, dass die meisten der jungen Männer den starken Seegang nicht gewohnt waren. „Die hatten tierische Angst.“ Mancher der Geflüchteten sei auf dem Boot im Kreis gelaufen, „wie ein Schäferhund in seinem Zwinger“.
Und auch die Stimmung unter der Crew sei geteilt gewesen. Einige wenige Mitglieder hätten sich über das Verhalten der Geflüchteten geärgert. Die hätten weder „Bitte“ noch „Danke“ gesagt, sondern sich teilweise beschwert, dass es beispielsweise kein WLAN gebe oder das Team die falschen Nudeln gekocht habe. „Es waren halt Jugendliche in einer furchtbaren Situation“, sagt Daniela und zuckt die Achseln. Manche Menschen aus dem Team hätten allerdings in der Seenotrettung andere Erfahrungen gemacht und deswegen auch andere Erwartungen gehabt.
„Natürlich sind die Jungen ‚nur‘ vor Perpektivlosigkeit geflohen und nicht aus einem der libyschen Lager. Für mich ist das trotzdem total legitim.“ Einer der jungen Männer sei eigentlich Lehrer für Elektrotechnik gewesen. In seiner tunesischen Heimat habe er aber nur Tagelöhnerjobs für nicht mehr als drei Euro am Tag gefunden.
Malta blockiert Einfahrt in den Hafen
In Malta, erzählt Daniela, hätten gerettete Menschen eigentlich noch die größte Chance, aufgenommen zu werden. Doch der kleine Inselstaat habe der „Alan Kurdi“ keine Einfahrtserlaubnis gegeben und das Schiff elf Tage lang blockiert. „In der Zeit hätten wir noch dreimal rausfahren können“, sagt Daniela. Und es hätte verhindert werden können, was passiert ist.
Denn die emotionale Ausnahmesituation war für einen nach dem anderen der jungen Männer zu viel. „Der erste Jugendliche ist am fünften Tag der Blockade durchgedreht“, erzählt Daniela. Der Junge habe sich einfach aus dem Nichts ein Messer in die Hand gerammt. Alle auf dem Boot seien schockiert gewesen. Ein anderer sei „mit dem Kopf voran volle Kanone gegen einen Metallcontainer an Bord gerannt.“ Da habe Daniela zum ersten Mal um eine medizinische Evakuierung gebeten. Das maltesische Militär sei diesem Hilferuf auch nach einigen Stunden gefolgt – habe aber nur die beiden Verletzten mitgenommen. Die Blockade sei weitergegangen.
Ein verzweifelter Sprung ins Wasser
Doch wenig später sei der nächste vollkommen apathisch geworden, habe nicht mehr gesprochen und über Bauchschmerzen geklagt. Einem vierten Jugendlichen ging es körperlich immer schlechter. „Mir war schon bei seiner Rettung aufgefallen, dass er ganz gelbe Augen hatte und sehr dünn war“, erzählt Daniela. Sieben Tage lang habe er beinahe nur geschlafen und kaum gegessen: „Das ging einfach nicht mehr.“
Und ein fünfter habe in einem unbeobachteten Moment versucht, sich selbst anzuzünden. „Als das zum Glück nicht geklappt hat, war er so verzweifelt, dass er ins Wasser springen wollte. Dabei ist er glücklicherweise noch gerade so irgendwo hängen geblieben. Die Jugendlichen konnten alle nicht schwimmen.“
Daniela kann wieder einmal nur den Kopf schütteln, als sie sich das alles noch einmal in Erinnerung ruft und detailliert erzählt. An Bord habe absolute Ausnahmestimmung geherrscht. Und wieder hätte die maltesische Küstenwache nur die drei medizinischen Notfälle abgeholt und die Blockade weiter aufrecht erhalten.
Ungewissheit schafft Kontrollverlust
Die Unsicherheit habe an den übrigen Geflüchteten gezehrt. Schließlich habe noch ein sechster die Kontrolle verloren: Am neunten Tag der Blockade habe er gleich zweimal versucht, über Bord zu springen. Und sei dabei so verzweifelt gewesen, dass er nicht von der Reling wegzubewegen gewesen sei: „Das waren ja so 50-Kilo-Hemden – und ich dachte natürlich, dass ich die mit einer Hand da wegbekomme. Aber das war das erste Mal, dass sogar ich laut nach Hilfe gebrüllt habe, denn der hatte sich da so festgekrallt, dass ich keine Chance hatte.“
Gleichzeitig habe auch der jüngste der Geflüchteten versucht, vom Schiff zu springen. „Den hatte die zweite Offizierin gerade noch zu Boden getackled.“ Die Männer hätten gedacht, sie könnten bis zum maltesischen Festland schwimmen: „Wir konnten das Land von Bord aus zwar sehen, aber das waren locker noch 25 Kilometer. Das hätte keiner von denen geschafft.“ Die Geflüchteten seien jedoch verzweifelt genug gewesen, um das zu glauben.
Kein Kontakt mehr mit dem Festland
Nach dem Vorfall habe Daniela den medizinischen Notstand an Bord ausgerufen: „Die Jungen waren alle so nervös, dass die Situation langsam wirklich gefährlich war.“ Für die Crew sei das kaum noch kontrollierbar gewesen. Das maltesische Rettungscenter habe den ausgerufenen medizinischen Notstand auf der „Alan Kurdi“ jedoch mehr als 30 Stunden lang ignoriert. „Auf Malta war Wochenende“, sagt Daniela, „und die Antwort der Gegenseite auf unseren Anruf war: Depression und Unterernährung reichen für einen medizinischen Notstand nicht aus.“
Darum ging es auf der „Alan Kurdi“ in dem Moment aber längst nicht mehr. Es ging um Leben und Tod. Denn der junge Mann, der schon zweimal versucht hatte, über Bord zu springen, hatte plötzlich ein Seil um den Hals eines anderen gelegt und begonnen, wie wild daran zu ziehen. „Das Opfer war schon kurz vorm Kollabieren, viel hat da zum Tod nicht mehr gefehlt“, erzählt Daniela.
Nur mit Mühe hätten die Menschen an Bord den Ernstfall verhindern können. Später habe der Angreifer sich an gar nichts mehr erinnern können: „Der war total psychotisch und hat in dem Moment nichts mehr mitbekommen, das habe ich direkt gesehen.“
Als die Situation zu eskalieren droht
Ein Tötungsversuch – das war ein neues Eskalationslevel. „Ich habe dann nochmal in Malta angerufen und erzählt, was passiert ist. Ich wusste nicht mehr weiter. Was sollen wir tun? Die wussten darauf natürlich auch keine Antwort.“
Daniela habe dem maltesischen Rettungsdienst schließlich mit Vehemenz deutlich gemacht, dass es in seiner Verantwortung stehe, was weiter auf dem Schiff passiere: „Wenn ihr wieder nur drei abholt, dann wisst ihr genau, was danach passieren wird, habe ich denen gesagt.“
Trotzdem sei genau das geschehen. Mitten in der Nacht, drei Uhr, sei ein maltesisches Militärschiff aufgetaucht und habe wieder nur genau drei Menschen mitgenommen: das Strangulationsopfer, seinen verwirrten Angreifer und den 14-jährigen Jungen, der in dem ganzen Trubel auch versucht hatte, von Bord zu springen. Die Jugendlichen seien behandelt worden „wie Schwerverbrecher. Die mussten die Hände nach oben halten und ihre Rucksäcke wurden durchsucht“.
An Bord habe eine absurde Stimmung geherrscht, geradezu gespenstisch. Niemand habe gewusst, wie sie mit der Situation umgehen sollten – mit dem Gewaltausbruch und der Tatsache, dass wieder nur drei der jungen Männer das Rettungsschiff verlassen durften. „Niemand hat ein Wort gesagt“, erzählt Daniela, „es mitten war in der Nacht, aber keiner hat geschlafen.“
Juristischer Streit bringt die Lösung
Schließlich waren nur noch fünf der Geflüchteten an Bord, „aber wir wussten nicht, was die machen würden.“ Im Nachhinein hätten auch jene, die schon einige Male mit Sea-Eye unterwegs waren, gesagt, dass sie so eine Situation noch nie erlebt hätten.
Auch die übrigen Geflüchteten seien damit überfordert gewesen. Am elften Tag der maltesischen Blockade hätten sie zu den Seenotrettenden gesagt, dass sie am Abend großes Drama machen würden – denn offenbar passiere sonst nichts.
„Das ist schon eine blöde Situation“, so Daniela. „Du bist für das Wohl dieser Menschen verantwortlich, alles andere widerspricht jedem Berufsethos, andererseits weißt du genauso gut wie die, dass es ohne Eskalation wahrscheinlich nicht weitergehen wird.“
Letztendlich sei das aber zum Glück nicht nötig gewesen. Denn das Sea-Eye-Büro in Deutschland habe für die „Alan Kurdi“ aus der Ferne eine juristische Lösung ausgefochten. Es hatte Protest bei einem maltesischen Gericht eingelegt. Das Ziel von Sea-Eye: Das Gericht sollte feststellen, dass Malta für die geretteten Männer zuständig war. So in die Ecke gedrängt, schlug Malta vor, die Geflüchteten aufzunehmen – wenn Sea-Eye den Protest zurückziehen würde. Endlich durften die Crew und die Jungen das Schiff verlassen. Was mit ihnen seitdem passiert sei, kann Daniela nicht sagen. Vermutlich seien sie auf Malta in ein Lager gekommen.
Es bleibt der „schale Beigeschmack“
Das Schlimmste an der ganzen Situation war für Daniela, dass der politische Streit auf dem Rücken von jungen Menschen, fast noch Kindern, ausgefochten wurde: „Da bleibt auf jeden Fall ein schaler Beigeschmack.“ Auch, wie viel Energie darauf verwendet werde, Hilfsorganisationen ihre Arbeit schwer zu machen, habe sie schockiert.
Als sie im Juni mit Mission Lifeline auf der „Yachtfleet“ unterwegs gewesen war, ist die Leipzigerin sogar mit verschiedenen Militäreinheiten in Kontakt gekommen. Spanische Militärflugzeuge seien tief über dem Schiff geflogen, britische Nato-Schiffe hätten sich genähert und mit Gewehren und anderen Drohgebärden Angst verbreitet, erzählt sie.
Umso beeindruckender findet Daniela das Durchhaltevermögen der Seenotrettenden: „Ich bin stolz, dass wir immer weitergemacht haben. Die blockieren uns tagelang? Egal, wir machen weiter. Die nehmen uns unsere Schiffe weg? Egal, wir machen weiter. Die denken sich horrende Strafen aus? Egal, wir machen weiter.“
Für die Hilfsorganisationen sei Aufgeben zum Glück gar keine Frage, sagt Daniela – und hat endlich auch ein kleines Lächeln im Gesicht.
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