Der Radikalenerlass — Retrospektiv

Unterwanderung der Schulen durch linksextreme Lehrkräfte? Das befürchtete die Politik in den Siebzigern der Bundesrepublik. Die Antwort darauf war ein Berufsverbot für politisch verdächtige Personen.
6. April 2023
3 Minuten Lesezeit
Text: Victoria Müller — Foto: Benjamin Jenak

Disclaimer: Die Serie „Retrospektiv“ bedient sich historischer Quellen. In den Texten werden daher gelegentlich Formulierungen verwendet, die zu der jeweiligen Zeit genutzt wurden.

Gewollt hätten ihn viele Universitäten, eingestellt wurde er aber trotzdem nicht. Der Soziologe Horst Holzer gelangte Mitte der Siebziger ungewollt ins Zentrum einer politischen Debatte. Der renommierte Wissenschaftler hatte Berufungen an mehrere Universitäten erhalten, wurde aber dennoch nicht eingestellt. Seine Professur in München verlor er 1980, als es um die Frage ging, ob er ins Beamtenverhältnis auf Lebenszeit übernommen werden sollte. Mit der Entscheidung wurden sogar seine Publikationen aus der Bibliothek entfernt. Der Grund: Holzer war Mitglied der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP).

So wie Horst Holzer erging es in den Siebzigern vielen. Die Bundesrepublik erlebte damals eine Phase des Wandels, die Zeit war geprägt von politischen Unruhen und gesellschaftlichen Umbrüchen: Proteste gegen den Vietnamkrieg, Demonstrationen der Studierendenbewegung, Terror der Roten Armee Fraktion. Nachdem Studierendenführer Rudi Dutschke zum „Marsch durch die Institutionen“ aufgerufen hatte und die Bewegung selbst die Gesellschaft gründlich reformieren wollte, befürchteten vor allem viele Konservative, der deutsche öffentliche Dienst könne durch Verfassungsfeinde unterwandert werden.

Im Januar 1972 führte die rot-gelbe Bundesregierung unter SPD-Kanzler Willy Brandt deshalb den sogenannten Radikalenerlass ein. Der sah vor, all jene, die sich für den öffentlichen Dienst bewarben, über eine sogenannte Regelanfrage durch den Verfassungsschutz überprüfen zu lassen. Auch bestehende Dienstverhältnisse wurden gecheckt. So sollte also sichergestellt werden, dass nur Menschen im öffentlichen Dienst arbeiten, die sich jederzeit zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennen. 

Prüfung politischer Gesinnung

Als verdächtig galten nicht nur Menschen, die Mitglieder einschlägiger Organisationen waren, sondern auch Ansichten und Verhaltensweisen. Selbst die Teilnahme an Demonstrationen oder eine Reise in die DDR genügten, Bewerbungen für den öffentlichen Dienst abzuweisen. Der Erlass war faktisch ein Berufsverbot, denn wo sollten Lehrkräfte, Angestellte der Post oder Lokführende eine Anstellung finden, wenn nicht beim Staat?

Bis zur Abschaffung des Radikalenerlass wurden bundesweit 1,4 Millionen Personen überprüft und 11 000 Verfahren eingeleitet. Ungefähr 1 100 Personen wurde tatsächlich der Eintritt oder das Verbleiben im öffentlichen Dienst verwehrt. Besonders betroffen waren Lehrkräfte, bei denen es zu 2 200 Disziplinarverfahren und 136 Entlassungen kam. Zur Überprüfung der politischen Einstellung von Bewerbenden und Beschäftigten wurden zum Beispiel Fragebögen eingesetzt, die neben politischen auch private und intime Informationen abfragten.

Die Auswirkungen des Radikalenerlasses waren letztlich enorm. Viele Betroffene fühlten sich stigmatisiert, sahen sich als Opfer politischer Verfolgung und vermuteten darin ein Instrument der politischen Repression und Einschüchterung. Kritisiert wurde vor allem, dass Grundrechte eingeschränkt und die Meinungsfreiheit unterdrückt werde. Die Kritik entzündete sich auch an der Art und Weise der Sicherheitsüberprüfung. So kam es durchaus vor, dass Personen aufgrund von Gerüchten oder politischen Verdächtigungen entlassen wurden. Genauso gab es Fälle mit sachlichen Fehlern, die zu unberechtigten Entlassungen führten. 

Die Bundesregierung sah im Radikalenerlass damals ein wichtiges Instrument zur Wahrung der inneren Sicherheit, um extremistische Strömungen einzudämmen und die Demokratie vor Angriffen zu schützen. Auffällig war jedoch, dass dieses politische Instrument vor allem gegen linke Protestbewegungen gerichtet war, darunter Studierende, Intellektuelle, Gewerkschaften oder auch Angehörige der Frauen- und Umweltbewegung. Es gab aber genauso Fälle – wenn auch deutlich weniger – die Personen Rechtsaußen betrafen. So wurden Mitglieder der NPD und anderer rechtsextremer oder -radikaler Gruppen und Parteien aufgrund ihrer politischen Überzeugungen aus dem öffentlichen Dienst entfernt oder eben gar nicht erst eingestellt. 

Aufarbeitung dauert weiter an

Der Radikalenerlass führte natürlich bundesweit zu Protesten – und erbitterten Debatten um Gesinnungsschnüffelei. Menschen, die von den faktischen Berufsverboten betroffen waren, fordern bis heute Entschädigungen und ihre vollständige Rehabilitierung. Niedersachsen beschloss 2016 als erstes Bundesland die Einrichtung einer Kommission zur Aufarbeitung. Die Entscheidung des Landtags wurde damit begründet, dass es sich bei den Berufsverboten um ein unrühmliches Kapitel in der Geschichte handele. 2018 wurde an der Universität Heidelberg zudem ein Forschungsprojekt gestartet, das die Anwendungspraxis des Radikalenerlasses in Baden-Württemberg wissenschaftlich untersucht. 

Zwar gilt der Radikalenerlass heute nahezu flächendeckend als Fehler. Vorbei ist die Debatte um die Frage, wie der Staatsdienst vor extremistischen Personen geschützt werden kann, allerdings nicht: Im Koalitionsvertrag hat sich die Ampel vorgenommen, Verfassungsfeinde schneller als bisher aus dem Dienst zu entfernen. Im Visier sind heute insbesondere AfD-Mitglieder, die an Gerichten Recht sprechen oder Reichsbürger, die an Schulen unterrichten. Verfassungsfeinde im Staatsdienst stellen die Demokratie bis heute vor Herausforderungen.

Horst Holzer jedenfalls bekam keine Berufung auf Lebenszeit. Als Gastprofessor lehrte er bis kurz vor seinem Tod im Jahr 2000 an verschiedenen Hochschulen. Und noch 17 Jahre später schafft es sein Fall erneut ins Rampenlicht: In Bremen war dieser Teil einer szenischen Lesung der Shakespeare Company, die historische Dokumente auf der Bühne inszeniert.

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