Text: Andrea Schöne — Fotos: Johanna Lohr
Der Wahlkampf in diesem Jahr ist anders: Nach dem lange angekündigten Abschied von 16-Jahre-Kanzlerin Angela Merkel dreht sich vieles um ihre Nachfolge, das Personal, um Umfragen und mögliche Koalitionen. Um inhaltliche Unterschiede werde dagegen wenig gestritten, heißt es immer wieder. Für Lena Frank Antrieb genug, um anderen eine neue Wahlentscheidungshilfe zu präsentieren: die Progressomaschine.
Das Team beschreibt sie als erstes Online-Tool, das die Parteien unter anderem an sozialer Gerechtigkeit, konsequentem Klimaschutz oder Chancengleichheit misst. Ähnlich wie beim Wahl-O-Mat wird anhand von 33 Thesen die Meinung zu politischen und gesellschaftlichen Themen abgefragt. Im Anschluss gleicht das Tool die Übereinstimmung mit den verschiedenen Parteien ab.
„Wie schaffen wir es, positiv in die nächste Legislaturperiode zu gehen? Wie können wir eine weitere Spaltung in der Gesellschaft aufhalten?“ Fragen, die Lena Frank bei der Entwicklung des Tools umtrieben. Gemeinsam mit einem Team aus 20 Ehrenamtlichen, zu dem unter anderem Journalistin Kübra Gümüşay und GoFundMe-Gründerin Jeannette Gusko gehören, klärt sie darüber auf, welche Position die Parteien bei Themen beziehen, die insbesondere Frauen, BIPoC und behinderte Menschen betreffen.
Ein „Wahl-O-Mat für Minderheiten“ habe es werden sollen, beschreibt die 38-Jährige die ursprüngliche Idee. Das Konzept reichte Lena Frank beim Social Entrepreneurship Netzwerk Deutschland – und erhielt daraufhin die überraschende Antwort, dass es schon eine andere Initiative mit einem ähnlichen Vorhaben geben würde. Kooperation statt Konkurrenz hieß es von da an. Beide Gruppen schlossen sich zusammen. „So haben wir unser Netzwerk erweitert und voneinander profitiert, statt eine sehr vergleichbare Idee parallel zu veröffentlichen“, meint Frank.
Hintergrundwissen schaffen
Anders als der Wahl-O-Mat ist die Progressomaschine nicht staatlich: „Wir sind die Stimme der Zivilgesellschaft und beziehen klar Stellung.“ Auch benachteiligte Menschen seien daher in die Konzeption eingebunden gewesen. Und das Tool funktioniere intersektional. Heißt, die ausgewählten Thesen werfen Fragen auf, die mehr Menschen gleichzeitig betreffen. Das Recht auf Home-Office etwa, das sowohl für behinderte Menschen als auch für viele Eltern gleichermaßen wichtig ist, beschreibt Frank.
Um keine inhaltlichen Punkte zu übersehen und passende Formulierungen zu finden, hielt das Team stets Rücksprache mit den 50 beteiligten Organisationen. Zusätzlich werden Fachbegriffe in Infoboxen erklärt, um möglichst allen Menschen den gleichen Zugang bieten zu können. „Bei anderen Wahlhilfen ist es oft so, dass dort nur eine Aussage steht und Wählende Hintergrundwissen brauchen, um die Fragen beantworten zu können.“
Für ihr neuartiges Tool sammelten Frank und ihre Mitstreitenden insgesamt 100 Fragen. 33 wurden am Ende ausgewählt. Beantwortet wurden sie von den aktuell im Bundestag vertretenen und 16 weiteren Kleinparteien. Einzig die AfD fehlt im Ranking. Eine Antwort der Partei auf die Anfrage des Teams gibt es bis heute nicht.
Veröffentlicht wurden aber auch alle anderen Themen, die es nicht in das Tool schafften – als gemeinsame Forderungen zivilgesellschaftlicher Stimmen. „So können die Leute nicht nur die Progressomaschine nutzen, sondern sich auch darüber informieren, welche Fragen wir bearbeitet haben und wie die Parteien dazu stehen“, bemerkt Frank.
Barrierefreie Informationen
Die ehrenamtliche Arbeit habe der Initiatorin einige Nachtschichten beschert, erinnert sie sich. Denn die Enddreißigerin bringt sich parallel noch in anderen Projekten ein. Frank ist Projektleiterin beim Netzwerk „Seilschaft Inklusion“ und aktiv beim Verein „Ich will da rauf“, bei dem Menschen mit und ohne Behinderung ihre Leidenschaft für den Klettersport teilen. Was sie bei all ihrem Engagement motiviert, das sei die Forderung nach einer „vielfältigen, inklusiven Gesellschaft“.
Als Besonderheit der Progressomaschine sieht sie, dass „alle Beteiligten Jobs bei zivilgesellschaftlichen Organisationen haben und deshalb nah an den Themen dran sind“. Gelder, die sie für das Tool akquirieren konnten, nutzten sie für die technische Umsetzung und dafür, die Inhalte auch in Leichter Sprache anbieten zu können. Der Wahl-O-Mat habe hingegen keine barrierefreie Version, kritisiert Frank. „Für uns war das ein Muss. Denn zum ersten Mal dürfen 86 000 Menschen mit Behinderung bei einer Bundestagswahl ihre Stimme abgeben“, unterstreicht sie.
Ohne barrierefreie Informationen würde es vor allem Menschen mit Lernschwierigkeiten schwerfallen, darüber zu entscheiden, wo sie auf dem Wahlzettel ihre Kreuze setzen. Perspektivisch könne sich Lena Frank gut vorstellen, die Progressomaschine auch bei anderen Wahlen anzubieten und bis dahin weiter auszubauen.
Für ihr Tool hat sie vorab aber noch einen konkreten Wunsch: dass es nicht nur ein links-progressives Klientel erreicht. Der entscheidende Unterschied zu anderen Angeboten sei die diverse Zusammensetzung des Teams. So könne die Progressomaschine etwa dabei helfen, bereits engagierte Menschen über deren Lebenswelten und Forderungen hinaus aufzuklären. „Wer mit Inklusion zu tun hat, setzt sich nicht zwangsläufig im Detail mit Anti-Rassismus auseinander“, weiß Lena Frank. Ihr Tool versteht sie aus diesem Grund als Anstifterin zur Solidarität, auch und gerade nach der Bundestagswahl.
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