Text: Kiara Francke — Fotos: Sophie Tichonenko
Peter Schaz hebt seine Augenbrauen im Takt der Musik. Die Stirn leicht in Falten gelegt, den Blick konzentriert auf den Bildschirm des Laptops gerichtet. Seine Lippen werden von einem leichten Lächeln umspielt. Er wirkt gelöst, ganz bei sich. Erst bei genauerem Hinsehen wird deutlich: Nicht Schaz bewegt sich zum Takt, sondern andersherum: Mit den Bewegungen seiner Augen erzeugt er die Klänge – und das mithilfe ausgeklügelter Technik.
Den jungen Mann erfüllt es, Rhythmen und Melodien zu erzeugen. Er vernetzt sich darüber mit anderen und verbindet sich auch mit sich selbst. Denn: Kommunizieren, das geht auch ohne Worte. Selbstverständlich war das für Peter Schaz aber lange Zeit nicht. Menschen mit Behinderung haben nach wie vor einen erschwerten Zugang zum Erlernen eines Instruments. Musizieren bleibt deshalb ein Privileg – ein Zustand, den Andreas Brand ändern möchte. Nach Abschluss seines Musikstudiums stellte sich der Mittdreißiger die entscheidende Frage: „Wie kann Erlerntes eine gesellschaftliche Relevanz haben?“ Die Antwort: sein Projekt Musiklusion.
Brands Vision ist von Beginn an klar: „Ich möchte Menschen mit Behinderung das Musizieren ermöglichen.“ Der Musikdesigner versucht, motorische und geistige Barrieren herkömmlicher Instrumente mithilfe digitaler Technologien zu umgehen. Seine Ideen entwickelt er gemeinsam mit den Musizierenden – zum Beispiel mit Peter Schaz, dem Schlagzeuger. Schaz hatte den Wunsch, Instrumente mit seinem Gesicht steuern zu können. Nun programmiert er Rhythmen und erstellt Patterns, die er anschließend durch seine Mimik abrufen und verändern kann.
Welche Module gespielt werden sollen, wird durch sogenanntes Eye-Tracking entschieden – heißt: Bewegt Peter Schaz seine Augenbrauen auf eine bestimmte Art, wird das Schlagzeug entsprechend angesteuert. Technologisch wurde das Instrument so erweitert, dass es über digitale Schnittstellen spielbar wird. Vollendet wird dieser Kreislauf dennoch in der analogen Welt; in Schaz‘ Fall durch das automatisierte Schlagen auf Trommeln und Becken. Und die Gesichtserkennung ermögliche es sogar, zwei Instrumente gleichzeitig zu spielen.
Potenziale neuer Technologien
Auch David Dora war von Beginn an am Pilotprojekt Musiklusion beteiligt. Für ihn sei schnell klar gewesen, wonach er sich sehnt: „Ich habe nach einem Klavier gefragt.“ Gesungen habe er schon immer gerne, doch wegen seiner Behinderung blieb ihm diese Tür verschlossen. Heute kann er sich beim Singen selbst auf dem Klavier begleiten. Statt schmaler Klaviertasten nutzt er große, mit der ganzen Hand bedienbare Touchfelder auf einem Display.
Der Spaß stehe bei all dem im Vordergrund, beschreibt Andreas Brand. Welche unerwarteten Effekte das Musizieren mit sich bringt, sei ohnehin erst mit der Zeit deutlich geworden. Das tägliche Üben am Klavier etwa habe die Motorik seines Musikschülers verbessert: „Das wirkt sich wiederum positiv auf Alltagssituationen und die Selbstwirksamkeit aus.“
Menschen mit Behinderung müssen die Möglichkeit haben, ihr kreatives und künstlerisches Potenzial zu entfalten – nicht nur für sich selbst, auch zur Bereicherung der Gesellschaft. So heißt es in Artikel 30 der UN-Behindertenkonvention. Weiter heißt es, dass die Verwirklichung dieses Rechts häufig stark zu wünschen übrig lasse und konkrete Maßnahmen fordere. Neue technische Chancen im digitalen Zeitalter werden dabei als „Meilenstein“ erkannt. Brand stimmen die technischen Möglichkeiten optimistisch, denn sie ermöglichen, auf Augenhöhe zusammenzuarbeiten: „Die Digitalisierung bringt ein unglaubliches Potenzial mit sich.“
Wie das in der Realität aussehen kann, haben die Musizierenden des Projektes bereits gezeigt. Der Drang, durch ein öffentliches Event auf sich aufmerksam zu machen, sei groß gewesen, erzählt Brand: „Der erste Auftritt vor Publikum war für uns alle ein eindrückliches Erlebnis, sodass wir gesagt haben: ‚Das möchten wir intensivieren.‘“ So sei schließlich der Wunsch entstanden, sich mit anderen Menschen außerhalb des Projektes zu verbinden. Die Musikgruppe habe nicht länger in geschlossenen Räumen „vor sich hin wurschteln“, sondern nach außen hin Offenheit und Interesse an musikalischer Zusammenarbeit zeigen wollen – wenn auch coronabedingt vorerst im digitalen Raum.
Hoffen auf echte Veränderung
Durch die Pandemie entstand zunächst ein Projekt zum musikalischen Austausch mit Abstand. Verbunden über den Bildschirm, konnten Kulturschaffende von außerhalb Stücke singen und wurden von Menschen des Projektes instrumental begleitet. Diese Interaktion sei eine enorme Bereicherung, sagt Brand. Sie lockere die Gemeinschaft auf und schaffe neue Impulse – durch den musikalischen Dialog zwischen Menschen mit und ohne Behinderung.
Um das gemeinsame Musizieren weiter zu fördern, initiierte das Team im letzten Jahr einen neuen Wettbewerb: „Grenzenlose Konzerte“. Es wurden zusammen Videos gedreht, erzählt Schlagzeuger Peter Schaz. Er habe einen Beat programmiert und andere hätten seine Idee weitergedacht und etwas Eigenes kreiert. Am Ende haben über 120 Menschen teilgenommen – auch solche, zu denen bislang kein Kontakt bestand. „Es gab einen Gewinner, der hat Geld bekommen“, erinnert sich Schaz zurück. Ein nächstes Event könne er kaum erwarten.
Momentan wird an einem Musikstück gearbeitet, das mit einem experimentellen Komponisten als Videoproduktion entsteht. Um künftig aber noch sichtbarer zu werden, soll bald auch mit bekannteren Gesichtern musiziert werden. „Ich hab den Wunsch, dass ich mal mit Berühmten was mach. Mit der Band Santiago. Dass ich da Schlagzeug spiele“, sagt Schaz selbstbewusst.
Andreas Brand träumt hingegen von noch mehr: von einem Wandel zur „inklusiv denkenden und handelnden Gesellschaft“. Er denkt dabei an ein heterogenes Miteinander, vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten inklusiver Kulturaktivitäten und die Überwindung von Normungen und institutionellen Rahmen. Was ihn motiviert? Der Grundstein für Brands Engagement sei bereits im Studium gelegt worden – durch „eine stoische Lebensphilosophie“, wie er es nennt. Diese definiert alle Menschen als aktiven Teil der Gesellschaft und als einen Teil, der etwas verändern kann. Wie bei einem Puzzle hätten sich sein musikalisches und soziales Interesse zu einer Idee vereint. Mit Musiklusion will Andreas Brand auch in Zukunft experimentieren, um ein gesellschaftliches Umdenken zu beschleunigen.
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