Text: Luisa L’Audace — Foto: Benjamin Jenak
Als Aktivistin mache ich oft auf ganz alltägliche Situationen aufmerksam, die ich als behinderte Person erlebe. Ob auf Social Media, während Vorträgen oder in meinem privaten Umfeld. Mal zeige ich fehlende Barrierefreiheit auf, mal geht es um die Blicke, die ich ernte, sobald ich das Haus verlasse, mal um Ungleichbehandlung auf institutioneller Ebene oder darum, wie sich Menschen in sozialen Interaktionen mir gegenüber verhalten.
Doch während ich von anderen behinderten Menschen daraufhin oft Zustimmung erhalte – sie wissen schließlich meist aus eigener Erfahrung, was ich meine – dauert es häufig nicht sonderlich lange, bis ich ein Stirnrunzeln einiger nicht-behinderter Mitmenschen wahrnehme: „Bist du dir sicher, dass das wirklich deshalb so ist?“ Oder: „Kann es nicht sein, dass du das falsch interpretierst? Vielleicht war das ja gar nicht böse gemeint und du stellst das jetzt direkt so dar.“ Mit solchen Kommentaren echauffieren sich fremde Menschen in meinem Postfach auf Social Media.
Die Tatsache, dass es wirklich so ist, wie ich es sage, scheint für sie so unerträglich wie unvorstellbar zu wirken, sodass zuvor anscheinend jede andere Möglichkeit in Betracht gezogen werden muss, die dieses Szenario erklären könnte – ohne dabei aber ihre nicht-behinderten Privilegien anzugreifen, versteht sich. Und das, obwohl die Tatsache, dass wir diese Dinge aus einem Grund erleben, längst schon außer Frage stehen sollte. Ableismus, die strukturelle Diskriminierung behinderter Menschen, existiert und wir sollten doch inzwischen mal über den Punkt hinaus sein, in dem wir dies „beweisen“ müssen.
Wir Inklusionsaktivist*innen kämpfen gegen bestehende Vorurteile, die nachweislich tief in unseren Strukturen verankert sind.
Es scheint fast so, als empfänden nicht-behinderte Menschen eine Art von grundsätzlicher Solidarität gegenüber anderen nicht-behinderten Menschen, sodass sie sie verteidigen, ohne dass sie sie überhaupt kennen. Dabei sollte das Verhältnis zu der*dem diskriminierten Erzähler*in – in diesem Beispiel also mir – doch eigentlich enger sein. Ich bin es schließlich, mit der sie reden, mit der sie befreundet, verwandt oder bekannt sind oder der sie zumindest auf Social Media folgen. Währenddessen wissen sie von der diskriminierenden Person in der Geschichte nur eins: Sie ist nicht-behindert.
Und während für nicht-behinderte Menschen diesbezüglich eine Art „Narrenfreiheit“ zu gelten scheint, werden behinderte Menschen, die Missstände anprangern, prompt zu vorschnell verurteilenden Drama Queens ernannt, die alle nicht-behinderten Menschen über einen Kamm scheren. Und das ist doch ziemlich ironisch, denn wir Inklusionsaktivist*innen kämpfen ja gerade gegen bestehende Vorurteile, die nachweislich tief in unseren Strukturen verankert sind. Die Dominanzgesellschaft scheint dahingegen nur schwer damit klar zu kommen, wenn auch nur ein Hauch von Verallgemeinerung, sie betreffend, in der Luft liegt.
Wenn ich also sage: „Viele nicht-behinderte Menschen legen Verhaltensmuster XY an den Tag“, halten sie das oft nur schwer aus. Viel eindeutigere, schädlichere Verallgemeinerungen in die andere Richtung stellen dahingegen offenbar kein ernsthaftes Problem dar. „Behinderte Menschen sind so und so“, heißt es da. Punkt. Kein Platz für Individualität.
Erfahren wir Diskriminierung, sollen wir Rücksicht nehmen. Nicht alles so ernst nehmen. Messerstiche einstecken, als wäre es ein versehentlicher Rempler in der Bahn. Kein Problem, macht nichts, einfach weitermachen. „Bist du dir sicher, dass du dir das nicht einbildest?“, heißt es. „Bist du dir sicher, dass die Person das wirklich so meinte? Und wenn es wirklich so war, kann es nicht sein, dass sie das gar nicht mit Absicht gemacht hat?“ Von uns wird ständige Toleranz erwartet, während uns keine entgegengebracht wird.
Auszusprechen, dass wir Diskriminierung erleben, erfordert Mut und Kraft. Unsere Worte sind mehr als ein Verdacht oder ein komisches Gefühl.
In diesem Kontext ist die Frage „Bist du dir sicher?“ in meinen Augen Gaslighting. Denn gerade wenn marginalisierte Personen ihre Wahrheit aussprechen, dann geschieht das nicht mal eben schnell aus einem Affekt heraus. Meistens haben sie dann schon hunderte Male darüber nachgedacht, mussten sich zig dieser Erfahrungen um die Ohren hauen lassen, um sich wirklich SICHER zu sein, dass es sich nicht um einen Zufall handelt. Auszusprechen, dass wir Diskriminierung erleben, erfordert Mut und Kraft. Unsere Worte sind mehr als ein Verdacht oder ein komisches Gefühl, das wir nicht näher benennen können. Privilegiertere Menschen, denen wir uns diesbezüglich anvertrauen, sollten dies als Vertrauensbeweis verstehen. Ein „Bist du dir sicher?“ kann dieses Vertrauen innerhalb weniger Sekunden zerschlagen.
Doch nicht nur das: Es katapultiert marginalisierte Personen aus der einen diskriminierenden Situation direkt in die nächste und bringt sie im schlimmsten Fall dazu, ihre Wahrnehmung anzuzweifeln. Ihre Einschätzung wird als „befangen“ und „zu emotional“ bewertet, während das nicht-behinderte Gegenüber die*den vermeintlich neutrale*n Richter*in mimt. Dabei ist seine Rolle keineswegs neutral. Wir sprechen nicht über Diskriminierungserfahrungen, damit sich privilegiertere Menschen eine „Meinung“ darüber bilden können, sondern weil wir uns Solidarität und Sichtbarkeit von ihnen erhoffen. Diese Hoffnung ersticken sie jedoch bisher noch allzu oft mit einem einzigen Satz im Keim: „Bist du dir sicher?“
Luisa L’Audace ist Inklusionsaktivistin und klärt auf Social Media über die Lebenswelten behinderter Menschen auf – und darüber, welche Erfahrungen sie mit Ableismus machen.