Text: Pia Benthin — Fotos: Paulina Hildesheim
Berlin, 1935. Als erste Frau weltweit wird Regina Jonas zur Rabbinerin ordiniert – bis heute eine Ausnahme. Allein deshalb ist Jonas, die später im KZ Auschwitz getötet wird, für viele ein Vorbild geblieben. Gerade junge Frauen hat sie inspiriert, auch Helene Shani Braun. Sie möchte in Jonas` Fußstapfen treten und Rabbinerin werden. Sie wäre die bisher jüngste. Dafür studiert sie an der Universität Potsdam Jüdische Theologie und macht parallel dazu eine Ausbildung für ihr religiöses Amt am Abraham Geiger Kolleg.
Braun lebt ihren Glauben nicht so, wie es sich viele nicht jüdische Menschen vorstellen würden: alt, männlich, Schläfenlocken, Kippa – all das trifft auf die Studentin so gar nicht zu. Sie selbst sieht sich als queere, junge Feministin. Mal in einen Gebetsmantel gehüllt, mal in ihre Regenbogenfahne. Lachend kommentiert sie: „Feminismus, eh klar.“ Bei ihr klingt es fast so, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Sie spricht ruhig und bestimmt – und erklärt: „Ich bin so aufgewachsen. Zuhause und in meiner Gemeinde gab es Frauen in Vorstandspositionen, die gezeigt haben, dass ich alles machen kann.“
„Ich fühle mich im liberalen Judentum zuhause“, erzählt Braun. Jüdisch zu sein sei für sie eine Tradition, etwas, das zu ihrer Familie dazugehöre. Was sie anderen deutlich machen wolle: „Wenn du jüdisch bist, bist du’s eh und wie du das lebst, musst du für dich selber entscheiden.“ Vom selbstverständlich gelebten Feminismus bis zum Statement in der Instagram-Biografie hat es allerdings lange gedauert. „Feminismus war lange ein Wort, in dem ich mich gar nicht wiedergefunden habe. Ich dachte, wer feministisch ist, muss richtig krass sein. Jemand, der auf die Straße geht.“ Heute bedeutet Feminismus für Braun vor allem „Gleichberechtigung für alle“.
Diese Forderung überträgt die Studentin in ihren Alltag: „Auch wenn ich natürlich nur einer Denomination – einer religiösen Strömung – zugehöre, versuche ich trotzdem in der Breite aufzuzeigen, dass es nicht nur das eine Judentum gibt. Ich sehe darin eine große Chance, den Raum, den ich bekomme, an andere abzugeben, weil das aus feministischer Perspektive etwas ist, was ich an Männern kritisiere.“
Instagram wird Aufklärungskanal
Neben dem Studium ist Braun ehrenamtlich aktiv, zum Beispiel im Verein Keshet, der sich für die Interessen der LGBTIQ*-Community innerhalb der jüdischen Gemeinschaft einsetzt. Jüdisch und queer zu sein und das auch miteinander vereinbaren zu können, liegt ihr am Herzen: „Ich versuche zu zeigen, dass es nicht darum geht, sich zwischen seinen Identitäten entscheiden zu müssen.“ Deshalb ist der Verein als Schutzort gedacht – und Braun versteht sich als Ansprechpartnerin.
Als Gemeinderabbinerin will sie diese Arbeit an anderer Stelle fortführen. 71 gibt es aktuell in Deutschland – darunter Frauen wie Alina Treiger, Elisa Klapheck und Gesa Shira Ederberg. Treiger war 2010 die erste Frau, die nach Regina Jonas hierzulande ordiniert wurde. Doch in vielen Köpfen dominiere weiter das Bild eines alten Mannes. Für Braun spricht „auch gar nichts gegen Rabbiner, die 70 sind“, aber sie wünscht sich eben genauso, „dass jedes Alter und alle Herkünfte abgedeckt sind und das Amt so divers wie möglich gestaltet wird“.
Braun möchte für die nächste Generation stehen. Denn die würde ihr sagen: „Wenn du das machst, komme ich auch in die Gemeinde.” Aber auch nicht jüdische Kinder hat sie im Blick – ihr Ziel: Im Religionsunterricht an Schulen soll über das Judentum gesprochen werden. Und das möglichst divers. Warum das nötig sei? „Entweder wird an Schulen gar nichts über das Judentum gelehrt oder es wird nur über die Shoah geredet.“
„Es gibt so viele Menschen, die mir sagen, dass sie noch nie einen jüdischen Menschen getroffen hätten, weil es hier so wenige gibt.“ Und wenn Begegnung im Analogen aktuell nur schwer funktioniert, zieht es Braun in die sozialen Netzwerke. Dort bekomme sie viel Zuspruch: „Junge Menschen sind die meiste Zeit am Tag auf Instagram. Wenn sie mir folgen, erfahren sie auch noch ein bisschen was über das jüdische Leben.“ Braun filmt sich etwa bei ihrem Morgengebet, zeigt Bücher oder ihren Tallit.
„Ich mache die Gebete für mich, abhängig davon, wie ich mich fühle – das ist jeden Tag anders. Das würde ich auch ehrlich so weitergeben. Beten kann einem Ruhe geben oder es kann einem auch gar nichts geben. Dann würde ich mich selber auch nicht in die Situation zwängen. Genauso wie ich keinen Kaffee trinke, wenn ich schlafen will.“
Junge Frauen fehlen im Rabbinat
Dass Helene Braun einmal Rabbinerin werden und ihren Weg dahin auf Instagram teilen würde, hat sie selbst nicht kommen sehen. Der Blick in alte Freundschaftsbücher würde da wahrscheinlich einen anderen Berufswunsch enthüllen, ist sich Braun sicher. Andere hätten ihr immer gesagt, dass sie „was Soziales machen soll, was mit Menschen“ – letztlich aber sei ein Rabbinat doch genau das. „Ich fand den Beruf schon immer spannend und habe als Kind zu meinem damaligen Gemeinderabbiner aufgeschaut. Ich fand es spannend, was er erzählt und im Studium gelernt hat“, sagt sie.
Für das Rabbinatsstudium hat sich Helene Braun 2017 entschieden, als sie an einer großen, jüdischen Konferenz in Boston (USA) teilnahm. „Dort habe ich viele Rabbis getroffen, die nicht das waren, was bei vielen als Bild aufploppt, wenn sie an Rabbiner denken.“ Junge Menschen und vor allem auch junge Frauen im Rabbinat – das fehle ihr in Deutschland. Sie wisse aber auch, dass es schwer sei, beide Länder miteinander zu vergleichen. Weltweit gibt es rund 14,2 Millionen jüdische Menschen, davon lebt aber gerade einmal ein Prozent in Deutschland. In den USA dagegen rund 50 Prozent.
Momentan studiert Helene Braun im sechsten Semester. Nach der Bachelorarbeit geht es für die angehende Rabbinerin und drei Kommilitoninnen im Rahmen des Studiums nach Israel, „weil dort immer eine Synagoge um die Ecke ist und alle Feiertage staatlich begangen werden“. Gerade an den Feiertagen spüre sie die christliche Dominanz in Deutschland: Weihnachtskarten oder Ostergrüße an der Supermarktkasse. „Ich verlange gar nicht, dass jemand weiß, welchen Feiertag ich gerade habe, aber ein ‚schöne Feiertage‘ würde es ja auch tun.“
Dafür möchte sie mehr Verständnis schaffen, vor allem im Winter, wenn Weihnachten allgegenwärtig ist und Chanukka – das jüdische Lichterfest, das jedes Jahr rund um die Adventstage gefeiert wird – in der Mehrheitsgesellschaft kaum Beachtung findet.“ Da ist mein Aggressionspotential schon ein wenig höher“, sagt sie und lacht.
Mit dem Handy in die Synagoge
Während die Universität Potsdam den theoretischen Teil der Ausbildung übernimmt, absolvieren die Studierenden am Abraham Geiger Kolleg die Praxis. Doch durch Corona hat sich einiges verändert: „Gottesdienstgestaltung praktisch üben, geht online einfach nicht. In der Theorie und dann auch noch online zu lernen, wie es ist, vor einer Gemeinde zu stehen, ist wie in der Theorie den praktischen Teil vom Führerschein zu machen. Religion lebt außerdem vom Diskutieren und vom zusammen am Tisch sitzen.“
Wohin Braun es nach dem Studium verschlägt, weiß sie noch nicht genau. „Das hängt zum einen von der Lage in Deutschland ab – generell und politisch. Zum anderen auch davon, ob eine Gemeinde jemanden sucht. Es gibt hier ja nicht so viele Synagogen.“ Mit „der Lage“ im Land meint sie vor allem den Antisemitismus. Am Ruhetag Shabbat beispielsweise schaltet Braun ihr Handy nicht mehr aus und nimmt es auch in die Synagoge mit: für den Fall, dass sie Hilfe rufen muss.
Von ihrer Mutter, zuhause in Hannover, kennt Braun alle Rituale – Freitag nach der Schule einkaufen, putzen und den Shabbat vorbereiten. „Das ist nach wie vor so. Mein Freund und ich zünden jede Woche Kerzen an. Wir machen das für uns“, betont die Wahlberlinerin. „Ich würde es auch nicht vergessen. Ich vergesse ja auch nicht, dass Freitag ist.“ Generell würde Braun allen einen Tag ohne Arbeit und E-Mails empfehlen, „ob das Shabbat oder ein Sonntag ist. Shabbat sehe ich auch als Me-Time“.
Im Moment genießt Braun das Privileg, an allen jüdischen, christlichen und staatlichen Feiertagen frei zu haben. Das wird sich nach dem Studium ändern und die Feier- ihre Arbeitstage sein. Als Rabbinerin könnte sie eine Gemeinde leiten und Gottesdienste durchführen. Bis zum Ende ihres Studiums hat sie allerdings noch ein paar Jahre Zeit. Am Abraham Geiger Kolleg sind bisher sieben Frauen Rabbinerinen geworden. Braun sagt: „Jede hat auf ihre Art und Weise eine Vorbildfunktion. Ich kann mir von jeder etwas abgucken. Es sind ja auch nicht so viele.“ In ein paar Jahren aber immerhin eine mehr.
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