Text: Susanne Kailitz — Fotos: Benjamin Jenak
Wenn Michelle Nötzel durch ihren Laden im Chemnitzer Norden führt, gleicht das einer kleinen Deutschlandtour. Im großen Weinregal stehen Flaschen aus allen Anbaugebieten dieser Republik und zu jedem kann die 37-Jährige eine Geschichte erzählen.
Von jungen Leuten, die in Sachsen, Rheinland-Pfalz oder Baden-Württemberg Weingüter betreiben – und das immer mit dem Anspruch auf Bio-Erzeugung und guten Geschmack. Das gleiche Bild im Regal gegenüber: Die Gewürze kommen von einem befreundeten Händler in Berlin, das Obst für die kleinen Marmeladen aus dem Garten einer Freundin. Und dann ist da noch die ausladende Verkaufstheke, die den Herzen des Raumes bildet, voller Wurst- und Fleischwaren – bei denen die Chemnitzerin auch wieder grammgenau sagen kann, von welchem Bauernhof sie kommen.
Michelle Nötzel ist sichtlich stolz auf ihren „Fleischladen“, auf das, was in den letzten zwei Jahren entstanden ist und immer weiter wächst. Eine Entwicklung, die sie und der Freund, mit dem sie all das hier gemeinsam aufgebaut hat, erhofft haben – die aber alles andere als sicher war. Der Beginn von allem sei eine Idee gewesen, erzählt Nötzel. „Der Eric und ich, wir sind beides Dorfkinder. Für uns war das immer selbstverständlich: Tiere werden gezüchtet, geschlachtet und auch gegessen. Das ist ein Kreislauf. Aber uns hat gestört, dass die Landwirtschaft immer größere Probleme hat, ihr gesamtes Fleisch loszuwerden.“ Der Plan: Beide wollten sächsischen Betrieben dabei helfen, ihre Rinder, Schweine und Hühner an die Chemnitzer Gastronomie zu verkaufen.
Doch dabei sei schnell deutlich geworden, dass in den Küchen der Restaurants zwar Wert auf „die Filetstücke“ gelegt wird, das Interesse für den Rest aber weit kleiner ist. Das aber widersprach der Idee von Michelle Nötzel und Eric Heim, das tierische Produkte „ganz oder gar nicht“ zu verwenden sind – und führte zu einem neuen Plan.
Alternative zum Discounter
Im September 2018 eröffneten beide den „Fleischladen“, als Feinkostgeschäft mit angeschlossenem Restaurant. Hier können sie so agieren, wie sie es für richtig halten: „Wir kaufen das ganze Tier und verarbeiten es auch komplett.“ Das Fleisch kommt als Steak oder Burger auf den Teller oder landet als Salami, Leberwurst und Schinken in der Kühltheke. „Aus den Knochen machen unsere beiden Köche Saucen und Fonds. Es gibt einfach den Grundsatz, das nichts vergeudet wird“, erzählt Michelle Nötzel. Wer im „Fleischladen“ zu Weihnachten ein Festtagsessen bestellt hat, konnte nicht wissen, ob Brust oder Keule auf dem Teller landen würden. „Wer sich daran stört, dem ich erkläre ich, dass da draußen kein Tier mit fünf Keulen rumläuft, da diskutieren wir nicht.“
All das geht auch damit einher, dass das Angebot im „Fleischladen“ einen angemessen Preis hat: Riesige Portionen für Billigpreise gibt es hier nicht. Damit könne sie schon viele Menschen erreichen, erklärt die gelernte Werbefachfrau, aber natürlich nicht alle. „Wer Fleisch und Wurst eingeschweißt im Discounter kauft, wird sich von unserer Idee nicht überzeugen lassen. Aber Leute, die so wie wir häufig vegetarisch essen und denen es wichtig ist, dass sie, wenn sie mal Fleisch essen, auch gutes Fleisch vor sich haben, die finden das in der Regel gut.“
Nötzel wolle niemanden bekehren, sei aber überzeugt, dass Fleisch, das nach guten Standards erzeugt wird, einfach das Bessere sei. „Wir erleben das schon oft, dass die Omi zu uns in den Laden kommt und Suppenfleisch kaufen will, aber erstmal entsetzt ist, dass sie dafür im Vergleich zum Discounter deutlich mehr bezahlt. Aber dieselbe Omi kommt eine Woche später wieder und sagt, dass sie jetzt immer bei uns kauft.“
Der „Fleischladen“ bedient mit seinem Konzept einen gesellschaftlichen Trend: Immer mehr Menschen legen Wert darauf, dass die Lebensmittel, die sie zu sich nehmen, unter vernünftigen Bedingungen produziert werden – für Menschen und Tiere. Die Zahl derer, die sich vegetarisch oder vegan ernähren steigt, und viele von denen, die vom Fleisch nicht lassen mögen, wollen aber sichergehen, dass bei dessen Erzeugung das Tierwohl berücksichtigt wurde.
Der Ernährungsreport des Bundeslandwirtschaftsministeriums kam im letzten Sommer zu dem Ergebnis, dass die Mehrheit Wert auf gute Lebensmittel legt und gut die Hälfte deutlich mehr bezahlen würde, wenn dafür ein höheres Tierwohl garantiert werde.
Kreativität in der Pandemie
Doch bei allem Zuspruch: Dass der „Fleischladen“ einigermaßen unbeschadet durch die Widrigkeiten der Corona-Pandemie gekommen ist, dazu hat vor allem die Kreativität von Michelle Nötzel und Eric Heim beigetragen. Schon im ersten Winter habe sie die Idee gehabt, Essen zum Mitnehmen in Weckgläsern anzubieten, erinnert sich Nötzel, „und das hat sehr gut funktioniert. Gerade ältere Leute kochen oft nicht für sich alleine – und schon gar nicht aufwändig. Kohlrouladen oder Entenkeule verschwinden dann ziemlich oft vom Speiseplan.“ Wenn das aber portionsweise im Glas angeboten werde, werde auch zugegriffen. „Das hat uns ziemlich gut über den ersten Winter gebracht.“
Im zweiten, in dem wegen der Corona-Pandemie das Restaurant wieder geschlossen werden musste, setzten beide vor allem auf eines: Solidarität. Michelle Nötzel und Eric Heim entwickelten die Brühl-Boxen, gefüllt mit verschiedenen Produkten aus den Geschäften ihres Viertels: Gewürzen, Kaffee, Fleischwaren.
Als klar war, dass es auch den jährlichen Weihnachtsmarkt nicht geben würde, holte Nötzel die Angebote der anderen in den eigenen Laden: Tische und Stühle flogen raus, es zogen verschiedene Regale für die Waren aus anderen, zum Teil geschlossenen Brühl-Geschäften ein. „Wir sitzen alle im selben Boot“, sagt die Unternehmerin, „und ich habe nichts davon, wenn andere ihre Läden schließen müssen.
Es geht darum, dass wir alle so glimpflich wie möglich durch diese Zeit kommen.“ Sie habe oft erlebt, wie „gerade Alteingesessene ein ganz schlimmes Konkurrenzdenken haben und ihrem Gegenüber den Erfolg nicht gönnen, das finde ich furchtbar.“ Es gehe ihr um eine andere Form des Miteinanders, bei der Menschlichkeit vor Profit komme. „Kann sein, dass das naiv klingt, aber wir sind so.“
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