Text: Melanie Skurt — Fotos: Benjamin Jenak
Christina Riebesecker geht vor ihrem Büro in der Pirnaer Altstadt auf und ab. Eine Hand drückt das Smartphone ans Ohr, die andere ruht in der Hosentasche. Sie telefoniert auf Englisch. „Oh good. Ok, perfect“, sagt sie und zieht dabei die Silben lang. Der Großteil ihres Tages besteht aus solchen Anrufen. Wer versucht, sie zu erreichen, hört daher selten auf Anhieb ihre Stimme. Meist antwortet ein Besetzt-Zeichen.
Nicht nur am Telefon suchen Menschen ihre Hilfe. Manchmal kommen sie auch direkt in die Lange Straße der knapp 40 000-Seelen-Stadt vor den Toren Dresdens. Dann brauchen sie Rat bei Asylverfahren, haben Probleme mit Behörden oder erlebtem Rassismus, besuchen den Deutschunterricht oder den Frauentreff. Für all diese Dinge ist das Internationale Begegnungszentrum der AG Asylsuchende Sächsische Schweiz-Osterzgebirge da. Der Verein setzt sich bereits seit 2008 für geflüchtete Menschen im Landkreis ein. Doch vor gut fünf Monaten gewinnt er über die Regionalgrenzen hinaus unerwartet an Aufmerksamkeit.
Es ist Donnerstag, der 10. Juni. Gegen ein Uhr in der Nacht wird Familie Imerlishvili überraschend aus dem Bett geklingelt. Neben den Eltern sind das sieben Kinder zwischen drei und elf. Die Polizei steht vor der Wohnungstür des Mehrfamilienhauses im Bahnhofsviertel. Mutter Ilona und Vater Ilia Imerlishvili werden angewiesen, Sachen für sich und die Kinder zu packen. Dann würden sie abgeschoben. Nach Georgien.
Im Bruchteil einer Sekunde zerschneidet diese Nachricht Lebenswege. Die Familie ist seit acht Jahren in der sächsischen Kleinstadt zu Hause. Fünf der sieben Kinder sind hier geboren, drei besuchen Grundschule und Gymnasium. Die Schreie der Mutter hallen durchs Treppenhaus und holen die Nachbarschaft aus dem Schlaf. Menschen, die sonst gemeinsam Feste im Hinterhof feiern, erleben einen Albtraum in ihrem Hausflur.
Wenig später wird die Familie zum Leipziger Flughafen gefahren. Gegen 12 Uhr hebt die Maschine ab ins 3 000 Kilometer entfernte Tiflis. Und wieder ist es Christina Riebeseckers Telefon, das jetzt nicht mehr aufhört zu klingeln.
Die Nachbarschaft wird laut
„Gegen halb sieben habe ich den ersten Anruf registriert. Aber es war gar nicht der erste“, erinnert sie sich. Seit dem frühen Morgen suchen Menschen aus dem Haus Kontakt zu ihr. Riebesecker überrascht die Dynamik, doch sie versucht zunächst, Erwartungen zu dämpfen. Durchtelefonierte Nächte und Tage in der Hoffnung, dass Abschiebungen noch verhindert werden können, kenne sie von vielen haupt- und ehrenamtlich Engagierten in ihrem Netzwerk. „Aber geklappt hat das nie“, sagt sie. Als die Anrufe nicht aufhören, wird ihr klar, dass dieser Fall anders ist. „Der Fahrlehrer, die Kita-Leitung, die Caritas – unheimlich viele waren mobilisiert.“
Eine der Nachbarinnen ist Isabel Schröbler. Gemeinsam mit anderen Menschen aus dem Haus organisiert sie in den kommenden Tagen Dinge, die ihr völlig fremd sind. Sie planen eine Kundgebung, starten eine Petition, sprechen mit der Presse. Ihre Motivation für all das umschreibt sie so: „Ich war bestürzt über dieses gewaltsame Vorgehen. Es war klar, wir müssen alles versuchen, um unsere Nachbarn zurückzuholen. Ich hätte mich einfach nicht mit gutem Gewissen zurücklehnen können.“
Sie betont, an dieser Stelle stellvertretend für eine Vielzahl von Menschen zu sprechen. Keineswegs solle der Eindruck entstehen, sie hätte diese Dinge im Alleingang bewegt. Kurzerhand gründet sich „Bring Back Our Neighbours“. Den Namen schlägt ein Nachbar vor. In den sozialen Netzwerken nutzen ihn die Engagierten, um weiter auf den Fall aufmerksam zu machen. Das Ziel der Initiative: die Rechtswidrigkeit der Aktion thematisieren und die Familie zurückbringen.
„Bitterer Weise fand parallel zur Abschiebung eine Konferenz zur Flüchtlingssozialarbeit im Sächsischen Sozialministerium statt. Wir konnten Informationen zum brutalen Vorgehen in Pirna dort direkt in mehrere Kanäle streuen und die Harmonie stören“, erzählt Christina Riebesecker. Das Netzwerk aus der Pirnaer Zivilgesellschaft entfaltet daraufhin eine ungeahnte Energie. Die Lokalpresse berichtet, überregionale Redaktionen schließen sich an – und der Druck auf den Politikbetrieb wächst.
Viele Prozesse hätten sich danach verselbstständigt, meint Nachbarin Isabel Schröbler. Alle hätten Kontakte eingebracht und so immer mehr Leute mobilisiert. Vor allem die Gewerbetreibenden nennt sie eine Stütze. „Viele haben ein Statement gesetzt, indem sie unsere Plakate in die Schaufenster gehängt haben.“ Auf diesen wurde für die Rückhol-Petition geworben. Knapp 20 000 Menschen unterzeichneten.
Vom Leben mit dem Trauma
Wäre diese Geschichte also auch in jedem anderen Ort möglich gewesen? Immerhin bildet die AfD seit der Kommunalwahl 2019 die stärkste Kraft im Pirnaer Stadtrat; auch zur Bundestagswahl lag sie vorn und holte rund 32 Prozent der Zweitstimmen – fast doppelt so viel wie die zweitplatzierte CDU. Wie schaffen es Engagierte in diesem rechtsdominierten Meinungsklima Partei für eine zugewanderte Familie zu ergreifen und andere mit ihrem Enthusiasmus anzustecken?
Isabel Schröbler überlegt einen Moment. „Naja, es gab schon Geschäfte, die sich aus Angst vor Anfeindungen nicht beteiligen wollten.“ Dennoch sei die Zahl der „Trolle“ an einer Hand abzuzählen gewesen. „Ich denke, es liegt daran, dass Ilona und Ilia hier gut vernetzt sind. In der Schule, der Kita, bei Organisationen wie der Caritas, als helfende Hände bei der Tafel. Sie waren sichtbar in unserer Stadt, sind immer freundlich und offen aufgetreten. Deswegen haben sich so viele Menschen für sie eingesetzt.“
Während ihre Nachbarin spricht, gräbt sich Ilona Imerlishvilis Blick tief in die Tischplatte vor sich. Sie macht sich klein, so als wolle sie übersehen werden. Erleichtert, weil dieses Mal andere sprechen. Manchmal nickt sie, um Dinge zu bekräftigen. Und manchmal wirkt es so, als würde vor ihrem inneren Auge parallel noch ein anderer Film ablaufen.
Über zwei Monate zieht sie in Tiflis mit ihrer Familie von Ferienwohnung zu Ferienwohnung, hält sich mit Spenden aus Deutschland über Wasser, sucht Halt bei der verbliebenen Verwandtschaft in der georgischen Hauptstadt. In Sachsen wächst im selben Moment weiter der öffentliche Druck. 69 Sommertage vergehen, bis Ilona Imerlishvili wieder in ein Flugzeug steigt. Zurück nach Deutschland.
Dass sie heute ihr Leben in Pirna fortschreiben kann, fühle sich so gut und gleichzeitig nicht real an, sagt sie. Noch nie habe sie von einer Abschiebung gehört, die rückgängig gemacht wurde. In ihrem Fall erklärt das Oberverwaltungsgericht Bautzen Mitte August per Eilverfahren die Rückführung für rechtswidrig. Der Grund: Ein Antrag auf nachhaltige Integration sei noch nicht beschieden gewesen. Bis heute ist die Lage ungeklärt. Die Familie wartet weiter auf eine dauerhafte Lösung.
Was hingegen verlässlich ist, seien die Traumata jener Nacht. Noch immer sitze die Angst in der Dunkelheit regelrecht neben ihrem Bett, erzählt Ilona Imerlishvili. Sie habe die Klingel abgestellt, um wenigstens ein bisschen Abstand zu gewinnen. Sich zu öffnen, fällt ihr gegenwärtig schwer. Etliche Interviews liegen hinter ihr und damit ein immenser Druck, die Brutalität der Situation immer wieder zu durchleben. Bereits nach wenigen Sätzen füllen sich ihre Augen mit Tränen. Die Zeit der Aufarbeitung habe erst begonnen.
Hoffnung auf Präzedenzfall
Eins ist ihr wichtig: „Wir sind dankbar für jede Sekunde, die Menschen für uns gegeben haben. Mein Mann und ich möchten das jetzt schaffen. Manchmal habe ich Angst, das Selbstvertrauen zu verlieren, weil die Sicherheit fehlt. Aber Kinder orientieren sich immer an ihren Eltern. Deshalb müssen wir für sie stark bleiben und Frieden finden.“ Frieden – das sei für sie schon ein Spaziergang an der Elbe. „Mehr nicht.“
Besonders an dieser Geschichte bleibt für Christina Riebesecker der Impuls, der von Pirna ausging. „Als Netzwerk können wir mit Kontakten und Wissen das trockene Holz liefern, um ein Lauffeuer auszulösen. Aber wir brauchen einen Funken. Den haben Nachbarschaft und Zivilgesellschaft geliefert. Es geht nur gemeinsam, das haben uns die letzten Monate gelehrt.“ Auch der enge Draht zur Anwältin der Familie sei entscheidend gewesen. Glückliche Fügungen wie diese hätten die Involvierten enorm gefestigt.
Ähnlich reflektiert Isabel Schröbler die Aktion „Bring Back Our Neighbours“. Sie habe die Erfahrung, tatsächlich etwas bewegen zu können, zu einem politischeren Menschen gemacht. Für ihr Engagement wurde die Initiative nun mit dem Sächsischen Förderpreis für Demokratie der Amadeu Antonio Stiftung prämiert.
Riebesecker wünscht sich, dass nach der Familie Imerlishvili auch andere Menschen von Abschiebungen verschont bleiben. „Wir möchten die Energie nutzen, um aus dem Einzelfall – auf den Behörden und Gericht mutmaßlich abzielen – einen Präzedenzfall zu machen.“ Im nicht weit entfernten Meißen beschäftige sie beispielsweise seit Monaten ein ähnlicher Fall. Runde Tische sollen künftig kontinuierlich veranstaltet werden, um ein sachsenweites Lobbybündnis zu schmieden. „Viele scheinen das Gefühl zu haben, dass in der sächsischen Abschiebepolitik etwas nicht richtig läuft. Wir wollen diese Wahrnehmung stärken und klar machen: Nein, da läuft etwas richtig falsch.“
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