Text: Tom Waurig — Fotos: Benjamin Jenak
Ronja Holze bläst die Backen auf und atmet zwei-, dreimal tief durch. Wenig später stürzt sich die 19-Jährige eine steile Rampe hinunter. Ein Drop-In, wie es die Skateszene nennt. Mit kräftigen Armschüben nimmt sie Geschwindigkeit auf und donnert über den Hallenboden – springt ab und rutscht eine schmale Eisenstange entlang. Es gibt einen dumpfen kratzigen Ton, wenn Metall auf Metall schabt. Der Trick sitzt und das Publikum in der Halle schaut der jungen Frau staunend zu.
Das Besondere daran: Ronja Holze sitzt im Rollstuhl. Für Außenstehende ist es faszinierend zu beobachten, mit welchem Körpergefühl sie ihr Sportgerät kontrolliert, mit wie viel Mut und mit welcher Entschlossenheit sie ihre Tricks probiert – immer und immer wieder. Sie bewegt sich mit einer gewissen Leichtigkeit durch die Skatehalle. Scheinbar unbeschwert balanciert Holze auf den Hinterrädern, springt waghalsig von kleinen Erhöhungen. Applaus brandet auf im weiten Rund.
Aber nicht alles klappt. Mehrmals schlägt das Sportgerät auf dem harten Parkett auf. Doch nur ein kurzer, lauter Schrei ist zu hören und Holze hievt sich und ihren Rollstuhl wieder in die Senkrechte. Angst spüre sie keine, erklärt sie. Bei den waghalsigen Manövern vertraut sie auf ihre Ausrüstung. Holze trägt einen Vollvisierhelm, so wie beim Motocross, Protektoren an Knien und Ellenbogen. Ihre Oberschenkel und Waden sind mit Klettverschlüssen eng am Metallrahmen festgeschnallt.
Unerwartet auf dem Podest
Ein Wachstumsfehler zwingt sie in den Rollstuhl – ihr linkes Bein spürt sie nicht mehr. Vor einigen Jahren war das noch anders. Mit Stützen konnte sich Holze noch eigenständig bewegen. „Ich bin von 1,20 Meter auf 1,80 Meter hochgeschossen und das haben meine Muskeln und Bänder nicht mitmachen können“, blickt sie zurück. Seitdem ist sie eingeschränkt. „Ich bin nicht gelähmt und spüre schon noch was. Aber wenn ich aufstehen würde, würde ich wie Wackelpudding hinfallen.“
Getroffen hat sie sich mit anderen aus der WCMX-Szene in der Fliparena in Halle-Neustadt, einer Skatehalle im Osten der Saale-Stadt. Die Abkürzung WCMX steht für Wheelchair Motocross, auch als Rollstuhlskating bekannt. Es ist bisher noch ein Sport, der in Deutschland weitestgehend unter dem Radar bleibt, „aber mehr und mehr an Aufmerksamkeit dazu gewinnt“. Holze weiß, wovon sie spricht, immerhin krönte sie sich im Mai diesen Jahres in Berlin zur deutschen WCMX-Meisterin.
Noch nie habe sie etwas gewonnen. Und eigentlich wollte sie auch gar nicht mitmischen. Zweimal müssen die Teilnehmenden einen Parcours fahren und dabei ihr Können unter Beweis stellen. Eine Jury bewertet die Schwierigkeit und die richtige Ausführung der Tricks. Schon nach der Vorrunde lag Holze auf Platz eins und ließ sich den auch im Finale nicht mehr nehmen. Erinnerungen hat sie nicht mehr viele an ihre Siegesfahrt und die Medaillenzeremonie, so „überwältig“ sei sie gewesen.
Träumen von der ersten WM
Im Spätsommer will Holze in Köln um den nächsten Titel kämpfen und bei der ersten Weltmeisterschaft auf deutschem Boden teilnehmen. Doch die Krankenkasse will nicht für ihren Sportrollstuhl zahlen – den alten bekam sie geliehen. In den USA fand sie nun eine Firma, die ihr den Rahmen sponsert. Räder, Reifen und Rollen muss sie allerdings alleine tragen – 2000 Euro ungefähr. Die versucht sie nun über Spenden einzusammeln, um sich ihren großen Traum von der WM erfüllen zu können.
Dafür trainiert sie mehrmals in der Woche, die meiste Zeit im Mellowpark in ihrer Heimat Berlin – ein jugendkulturelles Mekka auf ganzen 60 000 Quadratmeter: BMX-Tracks, Basketballfelder und Skatehallen. Die Reaktionen auf sie und ihren Rollstuhl seien unterschiedlich, „die einen schauen mir neugierig zu und klatschen bei allen Tricks. Andere sind sehr skeptisch.“ Die Aufmerksamkeit für ihren Sport sei spürbar gestiegen, allerdings längst noch nicht so populär wie in den USA.
Der Wegbereiter dort war Aaron Fotheringham. Der wollte als Kind einfach nur das machen, was sein Bruder machte – eine Rampe mit dem BMX runterfahren. In seinem Fall aber nicht so einfach: Der US-Amerikaner sitzt nämlich seit seiner Kindheit im Rollstuhl. Fotheringham wurde mit Spina bifida geboren, einer Fehlbildung der Wirbelsäule. Heute ist der 28-Jährige der einzige Mensch, dem im Rollstuhl ein Backflip, ein doppelter Backflip und ein Frontflip gelungen sind.
Nervige Reaktionen im Alltag
Auch Holze schaut zu ihm auf. Aber auch sie hat es schon weit gebracht in ihrem Sport, trägt in der deutschen WCMX-Szene inzwischen sogar den Spitznamen „Wheelie-Königin aus Berlin“, da sie das Balancieren auf zwei Rädern beidhändig, einhändig, vorwärts und rückwärts beherrscht. Alles eine Frage des Trainings, sagt sie. Stürze und Schrammen würden dazugehören. „Was soll mir denn noch passieren, ich sitze doch schon im Rollstuhl“, entgegnet die taffe Frau.
Holze kennt die ungläubigen Blicke und hat gelernt, mit ihnen zu leben. „Jemand, der im Rollstuhl sitzt, denkt im ersten Moment sicher nicht darüber nach, eine Rampe runterzufahren. Die meisten Menschen denken, dass wir nur zuhause sitzen und traurig sind.“ Mit diskriminierenden Sprüchen oder Kommentaren habe sie im Alltag allerdings wenig zu tun, wenn überhaupt, dann im Netz. Die Forschung und Betroffene sprechen in diesen Fällen von Ableismus – Behindertenfeindlichkeit.
Auf der Straße stört sich Holze besonders an mitleidigen oder komischen Blicken: „Ich finde es ja völlig in Ordnung, wenn sich Menschen nach meiner Lebensgeschichte erkundigen, aber wenn sie anfangen zu gaffen, dann ist das wirklich anstrengend.“ Jüngere Menschen erlebe sie viel offener als Ältere. Jugendliche würden sich auch eher mal in einen Rollstuhl setzen, um zu verstehen, mit welchen Hindernissen Holze und andere Menschen im Rollstuhl jeden Tag zu kämpfen hätten.
Auf der Suche nach Begriffen
„Behinderung“ sieht Ronja Holze nicht als Beleidigung, erklärt sie, so wie auch viele andere nicht. Doch seitdem solche Begriffe vor allem auf Schulhöfen als Schimpfwörter benutzen werden, sind sie in Verruf geraten. „Zu Unrecht“, verdeutlicht das Online-Projekt „Leidmedien“, hinter dem ein Verein aus Medienschaffenden mit und ohne Behinderung steckt. Für viele behinderte Menschen, heißt es in ihrem umfassenden Glossar weiter, sei es eine neutrale Beschreibung eines Merkmals.
„Wichtig ist nur das Wort ‚Mensch‘, da mit dem Begriff ‚Behinderte‘ das Bild einer festen Gruppe entsteht, die in Wirklichkeit vielfältig ist.“ Dennoch würden sich zuletzt beschönigende Alternativ-Ausdrücke wie „besondere Bedürfnisse“ oder „andersfähig“ etablieren, da viele befürchten, allein mit dem Wort „Behinderung“ zu beleidigen oder zu stigmatisieren. Doch die meisten träfen nicht zu – und auch nur wenige behinderte Menschen würde diese Ausdrücke selbst gebrauchen.
Die Psychologie-Studentin macht sich über solche Formulierungen nur selten Gedanken. Kritisch sieht sie aber, dass viele gar keinen Kontakt zu Menschen mit Behinderungen hätten und deshalb Erfahrungen im Umgang fehlten. Sie erlebe daher auch immer wieder, wie Menschen sie im Alltag ignorieren und sich zum Beispiel am Fahrstuhl im Bahnhof vordrängeln. „Ich nehme dann einfach die Rolltreppe“, sagt sie. Andere wiederum würden ohne zu Fragen ihren Rollstuhl anschieben.
Barrierefreiheit in der Politik
Und auch von Seiten der Politik vermisst sie eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Thema Behinderung. Bis auf Bundestagspräsident und Ex-Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) gibt es ohnehin nur sehr wenige weitere Abgeordnete mit einem Handicap. Konkrete Zahlen aus den Fraktionen gibt keine, denn Abgeordnete sind nicht verpflichtet, über eine Behinderung Auskunft zu geben. Zudem ist nicht jede Behinderung sichtbar und nicht jeder Betroffene benötigt Hilfe.
Wolfgang Schäuble, der seit einem Attentat 1990 im Rollstuhl sitzt, ist daher zu einem ungewollten Türöffner geworden, hat er sich doch politisch eher selten mit den Anliegen von Menschen mit Behinderung befasst. Auch der Reichstag ist alles andere als barrierefrei. Wie das Nachrichtenmagazin Die Zeit berichtete, hätten Veranstaltungen mit vielen Anmeldungen von Menschen im Rollstuhl abgesagt werden müssen, weil sonst die Brandschutzbestimmungen nicht mehr eingehalten wären.
Immerhin schuf die Bundesregierung 1981 ein Amt für die Belange von Menschen mit Behinderung. Die Idee der Inklusion teilt auch Ronja Holze, sie spürt aber, „dass die nur selten Realität ist“. Auch beim Sport sei es eine Hürde, die steilen Rampen hinaufzukommen. Frei fühle sie sich trotzdem – beim Skaten kann die junge Frau alles selbst bestimmen. Daher hat sie schnell Gefallen gefunden am Adrenalin-Rausch. Was sie braucht, ist viel Kraft in den Armen.
Eine deutsche WCMX-Ikone
Tipps bekommt die junge Frau von David Lebuser. Sie pushen sich gegenseitig und beobachten einander, stecken immer wieder die Köpfe zusammen, um zu analysieren, was schief gelaufen ist oder was noch besser geht. Durch ihn fand nicht nur Ronja Holze zum WCMX, sondern der Sport überhaupt erst seinen Weg über den großen Teich nach Deutschland. In der Halle lässt er immer wieder sein Können aufblitzen und hilft anderen mit seinen Analysen, noch besser zu werden.
Lebuser sitzt seit einem schweren Unfall vor elf Jahren im Rollstuhl. Er fiel damals mehrere Meter tief in einen Schacht und zog sich dabei eine Wirbelfraktur zu. Seitdem ist er querschnittsgelähmt. Übers Rollstuhlfahren hat er damals nichts gewusst, erinnert er sich. Doch schon im Krankenhaus fasste er neuen Mut. Es war die Zeit der Paralympics im chinesischen Peking – und im Fernsehen lief „actionreicher Rollstuhlsport, der auch noch cool aussah“, fasst Lebuser zusammen.
Trotz seiner Einschränkung wurde ihm schnell klar, dass „ein Rollstuhl mir einen großen Teil meiner Selbstständigkeit zurückbringen könnte“. Schon in der Reha versuchte er sich an ersten Tricks – fuhr zum Beispiel Treppenstufe herunter. Mit seinem Physiotherapeut arbeitete er ehrgeizig daran, nach Stürzen wieder selbstständig zurück in den Rollstuhl klettern zu können. „Als ich mit all dem anfing, kannte so gut wie niemand diesen Sport und es gab auch nur eine Handvoll Menschen, die ihn auch aktiv ausgeübt haben.“
Gefühl individueller Freiheit
Heute gehört der 32-Jährige zur Weltelite im Wheelchairskating, bereist als Profi die ganze Welt und ist für viele ein Vorbild. 2014 gewann er sogar die WM. Die Sommermonate über ist er oft unterwegs und gibt Workshops in ganz Deutschland. „Respekt ist bei jedem Trick“, erzählt er. Grenzen spüre er überall, schon wenn er versucht, auf die Skateparks zu kommen. Früher hätten sie ihn nicht mal auf alle Anlagen gelassen, aus fadenscheinigen Gründen oder „weil sie dachten, ich bin verrückt“.
Durch die wachsende Aufmerksamkeit, die der WCMX-Sport in den vergangenen Jahren erfahren hat, gibt David Lebuser mittlerweile Tipps, auf was bei neuen Skateparks in punkto Barrierefreiheit geachtet werden könne. Sein Wissen teilt er gern mit Interessierten. Und er hofft, dass es bald irgendwo in Deutschland einen Skatepark geben wird, bei dem alle Plattformen mit Rampen oder Aufzügen erreichbar sein werden. Doch ob und wann das auch tatsächlich Realität wird, ist offen.
Sein erstes Mal mit Rollstuhl in einem Skatepark war in Brandenburg an der Havel. „Ich hab nicht gewusst, was passieren wird. Damals bin ich auf die Rampe zugefahren und lag kurze Zeit später am Boden. Das war ein Gefühl von Freiheit.“ Sein Sport beweise, dass es möglich sei, Grenzen zu überwinden. Heute sei das Wheelchairskating in großen Städten nichts besonderes mehr. Die meisten seien beeindruckt und würden wissen wollen, „ob ich auch einen Backflip kann“, lacht Lebuser.
Fairere WCMX-Wettbewerbe
Doch nicht immer sind die Reaktionen nach seinem Geschmack: „Manche sind schon begeistert, weil ich es überhaupt in einen Skatepark geschafft habe. Das ist so, als würde ich zu ihnen sagen: Cool, dass du dein Skateboard mitgebracht hast.“ Doch er hat gelernt, damit klarzukommen. Der sportliche Erfolg und die Resonanz auf seine Workshops geben ihm recht. Leben kann Lebuser von seinem Sport aber noch nicht, verdient sein Geld als Reha-Fachberater und mit Werbespots.
Was seinem Sport noch fehlt, sagt Lebuser, sind klare Klassifizierungen, die Unterschiede bei Art und Schwere der Behinderung deutlich machen. Bei WCMX-Wettkämpfen starten bisher alle noch in der gleichen Kategorie. Das solle sich bald ändern, um fairer vergleichen zu können. Menschen ohne Behinderung aber seien von einer Teilnahme an den Events ausgeschlossen. „Das würde unseren Sport nur verwässern und es gebe sicher Menschen, die sich profilieren wöllten.“
Bei allen paralympischen Sportarten wurde bereits ein Klassifizierungssystem ausgearbeitet, „um gerechte Wettkämpfe zu ermöglichen“, erklärt der Deutsche Behindertensportverband. Festgelegt sind drei Arten von Behinderung: körperliche, geistige, Sehbehinderung. Bei einer Klassifizierung wird beispielsweise auf „Beeinträchtigungen bei der Ausführung von Bewegungen geachtet“, es werden medizinische Befunde herangezogen, Tests oder spezielle Untersuchungen durchgeführt.
Sprung auf die große Bühne
Doch bei der Frage nach einer künftigen Teilnahme bei den Paralympics ist Lebuser ohnehin nicht entschieden. Die Sponsoringsuche jedenfalls wäre deutlich leichter. Auch die Preisgelder könnten seinem Sport guttun. Denn günstig ist WCMX nicht gerade. Die Sportrollstühle sind nämlich keine Massenproduktionen, sondern Maßanfertigungen. Sie sind gefedert, stabiler, aber dennoch leicht. Deshalb sind sie auch entsprechend teuer. Schon die günstigste Variante kostet an die 4000 Euro.
David Lebuser selbst sieht sich jedoch eher bei den X-Games, dem größten Event für Extremsportarten. Erstmals stattgefunden haben die 1995 und werden seitdem jährlich in unterschiedlichen Städten der USA ausgetragen – im Sommer wie Winter. Wheelchairskating-Ikone Aaron Fotheringham war schon dort, bisher aber auch nur als Teil des Showprogramms. Ins Programm der X-Games geschafft hat es immerhin schon das Adaptive Skateboarding. Schon in diesem Jahr steigt die große Premiere.
„Es passiert momentan sehr viel“, fasst Lebuser zusammen. Vor allem in den USA gebe es schon große Bestrebungen, das Wheelchairskating ins Programm der paralympischen Spiele aufzunehmen. In Deutschland fehle hingegen der Kontakt in die Skateszene, „damit noch mehr vorangeht“. Doch er hofft, dass sich auch das bald ändert, sich Vereine dem Wheelchairsport öffnen – und dass die Szene weiter wächst, so Lebuser. „Dann bin ich nämlich nicht mehr der Alien in den Skateparks.“
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