Text: Susanne Kailitz — Fotos: Björn Hokamp
Der immense Zuspruch kam für Tabea Mewes dann doch sehr überraschend. Vor gut anderthalb Jahren startete die junge Frau mit ihrem Blog „notjustdown“, ließ parallel dazu auf Facebook und Instagram andere Menschen ganz bewusst am Familienleben teilhaben – das Besondere dabei: Bruder Marian hat das Down-Syndrom.
In seinem Körper gibt es das 21. Chromosom nicht nur zwei-, sondern gleich dreimal – so wie bei etwa 50 000 anderen Menschen in Deutschland. Sie machen also nur ungefähr 0,06 Prozent der Bevölkerung aus. Auch deshalb sind Menschen mit Down-Syndrom in der Gesellschaft nur wenig oder gar nicht sichtbar. „Ich halte das für einen großen Verlust“, erklärt Mewes, „denn auf diese Art machen Menschen nur sehr selten die Erfahrung, dass einen das Leben mit Down-Syndrom alles andere als down macht.“
Dass Tabea und Marian Mewes Geschwister sind, wird schnell deutlich. Nicht nur, dass sie einander in ihren Gesichtszügen unfassbar ähneln und nahezu das gleiche große Brillengestell gewählt haben. Die beiden verbindet auch eine Nähe, die jeder Mensch, der sie sieht und mit ihnen spricht, wahrnehmen kann – echte Familienbande eben.
Raus aus dem Schatten
Ihre besondere Verbindung besteht schon lange, doch durch den gemeinsamen Auftritt im Netz sind sie nochmal enger zusammengerückt. Furchtbar nervös sei Tabea Mewes gewesen, bevor sie damit online gegangen sei, erinnert sich die 29-Jährige.
„Ehrlich gesagt dachte ich, dass es schon ein riesiger Erfolg wäre, wenn sich 50 Menschen finden würden, die das liken.“ Auch heute kann sie noch immer nicht richtig fassen, auf wie viel Interesse sie seither gestoßen ist. Tausende Menschen haben ihre Texte gelesen und ihre Videos angeschaut, haben die Gelegenheit genutzt, Mari und seinen Geschwistern Fragen zu stellen oder Kommentare zu schicken. Anfang 2019 haben die Mewes’ sogar einen Social-Media-Award als „Newcomer“ gewonnen.
Von der großen Aufmerksamkeit des Blogs hätten alle Seiten profitiert, erzählt Mewes: Menschen, die sich noch nie mit dem Thema Trisomie 21 auseinandergesetzt hätten, könnten dazulernen und Berührungsängste abbauen. Und auch für Marian habe das wachsende Interesse einen riesigen Schub Selbstbewusstsein gebracht. „Dadurch, dass er nicht spricht wie andere Menschen, war es für ihn immer schwierig, sich Gehör zu verschaffen. Dass er jetzt so wahrgenommen wird, hat ihm wahnsinnig gut getan. Er steht endlich nicht mehr nur im Schatten – und das macht ihn stolz.“
Selbstbestimmte Zukunft
Marians Gewinn ist nicht nur emotionaler Art. Seit einigen Monaten betreiben die Geschwister nämlich sogar ein eigenes Business: Sie drucken die Figuren, die Marian so leidenschaftlich gern zeichnet, per Siebdruck auf T-Shirts und verkaufen sie. Mehr als 1000 dieser ganz besonderen Unikate haben sie in den letzten Monaten verschickt – und das Geld, das sie damit eingenommen haben, ist auf einem Konto für Marians Zukunft gelandet. Es ist ein Thema, das die sonst meist fröhliche Tabea sauer macht: Denn obwohl Deutschland schon vor zehn Jahren die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet hat, die besagt, dass das Land für gleiche Chancen für alle Menschen sorgen muss, würden Menschen mit Handicap vom Staat bevormundet.
Bei seiner Arbeit in einer Werkstatt verdiene Marian gerade einmal 80 Euro im Monat. Und alles, was darüber liegt, werde auf seine Grundsicherung angerechnet. So sei es weder möglich noch gewollt, dass ihr Bruder Geld für seine Zukunft ansparen könne, gleichzeitig sei von Inklusion auf dem offenen Arbeitsmarkt derzeit nichts zu spüren.
Anstatt wie gesetzlich vorgeschrieben, Menschen mit Handicap zu beschäftigen, würden sich viele Unternehmen über eine geringe Strafzahlung von ihrer gesellschaftlichen Verantwortung freikaufen – „ein Armutszeugnis“, findet Mewes. Dass ihr Bruder über den Verkauf der T-Shirts nun selbst etwas für seine finanzielle Zukunft tun könne, sei ein Stück Selbstbestimmung – und, ergänzt die große Schwester, eigentlich auch gar nichts besonderes. Sondern „ganz normal“.
Was hat im Leben Sinn?
Tabea Mewes ist glücklich, wenn sie von ihrem Bruder erzählt. Wenn sie berichtet, dass der 21-Jährige Harry Potter liebt und sich mal einen Bart wie Hogwarts-Zauberer Dumbledore wachsen lassen und ihn dann direkt wieder abrasieren möchte. Dass er liebend gern Pizza ist und es hasst, früh geweckt zu werden, um nicht zu spät zu kommen, und dass seine besondere Sprache, die Außenstehende anfangs nur schwer verstehen würden, für seine Eltern und Geschwister längst vollkommen verständlich ist.
Für die Schwester jedenfalls steht fest: „Ich kann mit Marian vielleicht keine abstrakten Gespräche über den Sinn des Lebens führen. Aber ich kann von ihm mehr als von jedem anderen Menschen über den Sinn des Lebens lernen.“ Ihr Bruder sei in jeder Hinsicht eine Bereicherung und er halte die Familie zusammen.
Und genau deshalb möchte die junge Frau, dass noch viel mehr Menschen erfahren, wie ihr Leben mit einem Bruder mit Down-Syndrom ist – auch und vor allem, weil sie befürchtet, dass in Zukunft noch weniger Menschen mit dieser Chromosomen-Variation geboren werden und sie aus diesem Grund noch weiter aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwinden.
Diskussion um Bluttests
Dass das kein allzu unrealistischer Gedanke ist, zeigt die Statistik: Denn schon jetzt entscheiden sich mehr als 90 Prozent der Frauen, die vor der Geburt vom Down-Syndrom ihres ungeborenen Kindes erfahren, für eine Abtreibung.
Und gerade erst hat der Deutsche Bundestag in einer ersten Debatte darüber beraten, ob ein Bluttest – mit dessen Hilfe sich das Down-Syndrom feststellen lässt – ohne dafür eine riskante Fruchtwasseruntersuchung machen zu müssen, zur Regelleistung der gesetzlichen Krankenversicherung werden wird. „Damit wird es künftig noch deutlich öfter der Fall sein, dass Menschen mit Down-Syndrom gar nicht erst geboren werden.“
Mewes verfolgt die Diskussion um die Pränataldiagnostik schon lange mit Sorge – und hatte es irgendwann satt, sich zu ärgern. Die studierte Medienwissenschaftlerin wollte selbst tätig werden. Sie akzeptiere, dass es viele Eltern gebe, die sich das Leben mit einem Kind mit Down-Syndrom nicht vorstellen könnten und Angst davor hätten, es nicht zu schaffen. „Aber ein Leben hat doch nicht erst dann einen Wert, wenn es keinerlei Komplikationen gibt.“
Als ihr mittlerer Bruder vor einigen Jahren einen schweren Unfall hatte, habe niemand gewusst, ob er überleben würde oder Beeinträchtigungen zurückbehalte. „Da kommt doch auch keiner auf die Idee zu sagen: Der soll nicht mehr leben. Aber bei Kindern mit Down-Syndrom wird das immer mehr zum Automatismus.“
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