Text: Tom Waurig — Fotos: Candy Welz
Derbyzeit auf dem Ernst-Abbe-Sportfeld – Montagabendspiel, Flutlicht. Schon früh in der Saison lädt der Drittligaspielplan die Fans zu einem echten Klassiker, weniger fußballerisch, sondern vor allem aufgrund der Tradition beider Klubs: Der FC Carl Zeiss Jena trifft auf den Zweitligaabsteiger aus Magdeburg. Der Saisonauftakt ging beim dreimaligen DDR-Meister aus Jena gründlich schief: sechs Spiele, sechs Niederlagen, null Punkte, 13 Gegentore, letzter Tabellenplatz. Der Trainerstuhl wackelt vor dem Aufeinandertreffen mit dem ambitionierten Gegner aus Sachsen-Anhalt gewaltig.
Der Stimmung auf den Rängen aber tut das wenig Abbruch. Verein und Anhang sind zufrieden mit Liga drei, stieg der Klub doch erst vor zwei Jahren aus der Regionalliga Nordost auf und stemmte sich letzte Saison gegen den Abstieg.
Das Stadion hat seinen altehrwürdigen Charme behalten, ist inzwischen aber dringend renovierungsbedürftig: rauer Beton, verblichene Plastiksitzschalen und verrostete Sicherheitszäune. Ein Tribünenteil musste sogar ganz gesperrt werden, weil Kaninchen die Erde unter dem Stehplatzblock unterhöhlt hatten – 1000 Plätze bleiben deshalb leer.
Doch nicht nur infrastrukturell, sondern auch fußballerisch liegen die glorreichen Zeiten des Klubs aus Jena schon Jahrzehnte zurück. Am 13. Mai 1981 stand das Team um Kult-Trainer Hans Meyer tatsächlich im Endspiel um den Europapokal der Pokalsieger. Von diesen Erinnerungen zehren die treuen Fans bis heute, auch wenn das wohl bedeutendste Spiel der Vereinsgeschichte gegen den georgischen Klub Dinamo Tiflis trotz einer 1:0-Führung mit 2:1 verloren ging.
Die jüngeren Erfolge hießen DFB-Pokal-Halbfinale und Zweitliga-Aufstieg, doch selbst die sind inzwischen schon mehr als zehn Jahre her. Maik Weichert hat beides miterlebt – damals noch als Fan. Denn 2015 sprang der Gitarrist der deutschen Metalcore-Band Heaven Shall Burn mit seinen vier Musikkollegen als Trikotsponsor ein, als Carl Zeiss Jena finanziell am Boden lag.
„Der Verein dümpelte in der vierten Liga rum, weit entfernt von den Aufstiegsrängen. Es herrschte Orientierungslosigkeit. Sponsoren fielen weg und der Zuspruch der Fans blieb aus. Die Klubführung war anfällig für verrückte Ideen – und die haben wir dann geliefert. Alternativen gab es eigentlich keine“, erinnert sich Weichert.
Explodierende Trikot-Verkäufe
Rumgesponnen hätten sie über eine Zusammenarbeit schon immer mal, meint Weichert, die Idee zum Sponsoring sei dann aber doch irgendwie „durchgerutscht“. Irgendwann habe es kein Zurück mehr gegeben. Am Ende dieser überraschenden Kooperation stand ein pechschwarzes Trikot mit dem Schriftzug der thüringischen Band im Stil des alten Klub-Emblems.
Das Vorbild zu der Aktion stammt aus Düsseldorf. 2001 sprangen Die Toten Hosen der Fortuna an die Seite und druckten ihr Band-Logo auf die Brust des damaligen Drittligisten, der inzwischen wieder erstklassig kickt. Bis das auch in Jena passiert, wird es wohl noch viele Jahre dauern. Die Trikotaktion war dennoch ein „emotionaler Moment“, erinnert sich Weichert. Einer, den sowohl die Fußball-Fachpresse als auch Metal-Magazine weltweit aufgriffen. „In den Sportnachrichten war das schon eine Top-Meldung.“
Mit diesem immensen Zuspruch im Rücken sei es ein logischer Schritt gewesen, die Kooperation fortzuführen. Und so prangte in der Nachfolgesaison ein Totenkopf auf der Brust der Spieler – das Logo der Meeresschutzorganisation Sea Shepherd, mit der die Band eng verbunden ist.
Die Verkaufszahlen des Trikots gingen durch die Decke, Bestellungen kamen aus der ganzen Welt. „Mit unserer Idee sind wir damals in ein konzeptionelles Vakuum hineingefallen und haben für viel Aufsehen gesorgt. Krisenzeiten bieten manchmal auch Chancen“, fasst Weichert zusammen. Sein Vater hat ihn in Kindheitstagen zum ersten Mal mit ins Jenaer Stadion genommen, damals noch zu Spielen in der DDR-Oberliga. Treugeblieben ist Weichert dem Verein bis heute, was auch daran liegt, dass er die Thüringer Heimat nie verlassen hat.
Geboren ist er in Weimar, zum Studium – das er als promovierter Jurist abschloss – ging es nach Jena. Auch die anderen Bandkollegen hegen Sympathien mit dem Klub. Nur Schlagzeuger Christian Bass, geboren in Dienslaken, der „Quoten-Wessi“, wie Weichert ihn scherzhaft nennt, ist Fan von Rot-Weiß Oberhausen. Das Trikot mit dem Logo der Band und das Sponsoring begrüßt aber auch er.
Ohnehin sind Heaven Shall Burn seit Jahren mit der linken Ultraszene von Carl Zeiss Jena verbunden, sagt Weichert. Die jugendliche Fanszene sorgt für das stimmungsvolle Ambiente im Stadion, zuhause wie bei Auswärtsspielen.
Mit dem Sponsoring wollte die Band aber auch das Vereinsleben am Leben halten. „Solche Klubs sind die letzten verbliebenen Orte, wo sich Menschen noch miteinander unterhalten, wenn sie sich sonst schon überall aus dem Weg gehen. Beim Fußball treffen AfD-Sympathisierende auf Linken-Begeisterte und sie finden trotzdem den kleinsten gemeinsamen Nenner“, so Weichert. Außerdem habe das Trikotsponsoring die ohnehin schon große Bekanntheit der Band noch weiter gesteigert, gerade in und um Jena. „Mich sprechen Menschen im Stadion an, die mit unserer Musik wirklich gar nichts zu tun haben.“ Für den Mainstream geeignet sind die Songs nicht unbedingt.
Brachiale Bässe, donnernde Drums und dazu ein geschriener Gesang, der auf ahnungslose Ohren durchaus kämpferisch wirkt, so lässt sich der Stil der Band beschreiben. Fernab vom Musikgeschmack sei vor allem die ältere Generation angetan, dass sich nicht die Baufirma oder die Landfleischerei im Verein engagieren, „sondern dass junge Menschen sich was überlegen, wie sie dem Verein auf die Beine helfen“. Dass es aber so große Wellen schlägt, kam selbst für Weichert überraschend.
Jeder Songtext ein Statement
Das brisante Thüringen-Sachsen-Anhalt-Derby, das 1:1 unentschieden enden wird, lässt auch er sich nicht entgehen. Er sitzt ganz oben im Stadion: letzte Reihe, Mitte links.
Kurz vor Anpfiff taucht gleich neben ihm das wohl prominenteste Gesicht des Jenaer Vereins auf, Bernd Schneider, der „weiße Brasilianer“ – wie er von Fans und Gazetten in seiner aktiven Zeit getauft wurde –, und einstiger Kapitän der deutschen Fußball-Nationalmannschaft. Zwischen 1991 und 1998 streifte sich der Mittelfeldstratege mehr als 150 Mal das Jenaer Trikot über, bis er schließlich nach Frankfurt und später weiter zu Bayer Leverkusen wechselte. Auch Schneider ist dem Klub treugeblieben und schaut immer mal wieder bei Spielen der Blau-Gelb-Weißen vorbei.
Weichert freut sich auch wegen solcher bekannten Namen darüber, dass die Band nun über Jahre mit dem Verein verbunden sein wird. Die Trikotbrust überlassen Heaven Shall Burn wieder anderen, einem Online-Wettportal. Das Bandlogo aber ziert zumindest noch die Trainings-T-Shirts des Klubs und vor jedem Spiel im heimischen Stadion schallt ein Song der Band über die Lautsprecheranlage.
Mindestens genauso besonders wie die Kooperation mit dem Jenaer Fußballklub sind die Inhalte der Band. In ihren Liedern erinnern sie an den chilenischen Sänger Victor Jara, der vom Militär um Diktator Augusto Pinochets hingerichtet wurde oder an die Schlacht um Sevastopol während des Zweiten Weltkriegs. Heaven Shall Burn thematisieren den Spanischen Bürgerkrieg oder auch den schlesischen Weberaufstand von 1844. Jeder Song ist ein politisches Statement.
Auf Konzerten – die besonders im Osten Deutschlands lange vorher ausverkauft sind – flimmern Botschaften über Kindersoldaten auf großen Leinwänden. „Wir haben natürlich die Absicht, das Denken und Fühlen des Publikums positiv zu beeinflussen. Wir wollen andere aufklären, aber genauso politische oder gesellschaftliche Veränderungen anstoßen“, sagt Weichert.
Gerade jüngere Generationen sollten verstehen, „dass sie Spaß haben und trotzdem politisch sein können“. Gelegentlich bekomme er Berichte zugeschickt, wie Songs im Geschichtsunterricht genutzt werden. Die Band habe daher schon den Anspruch, erklärt Weichert, dass das Publikum den Hintergrund der Texte versteht.
Dass das aber ein frommer Wunsch bleibt, spürt Weichert allein schon bei Facebook. „Jedes Mal, wenn ich dort etwas poste, das zeigt, wie wir politisch ticken – einen Aufruf für eine Anti-Rechts-Demo oder zuletzt einen anerkennenden Kommentar zu Carola Rackete –, weiß ich, dass uns das ein paar Hundert Fans kostet.“ Die Kommentare würden dann wie folgt lauten: „Eure Musik finde ich ja geil, aber hätte ich gewusst, wie ihr politisch drauf seid …“ Es kämen zwar auch wieder 200 neue Fans dazu, verstehen jedoch kann Weichert solche Reaktionen nicht.
Einer der bekanntesten Anhänger ist Youtuber Rezo, der im Netz mit einem Pullover der Band zu sehen war. Für Weichert ein Moment des Stolzes: „Es begeistert mich natürlich, dass wir mit unserer Musik vielleicht auch solche Leute beeinflusst haben.“
Die Metalszene an sich dagegen beschreibt der Gitarrist als eher konservativ. „Richtige Metalheads, das sind meistens ledergekleidete Biker, die die Sonntagsruhe einhalten und den Rasen rechtzeitig mähen.“ Andere politische Bands gebe es aber auch: Napalm Death oder Kreator. „Allein fühlen wir uns also nicht, aber manchmal schon wie Individualisten.“
Bescheiden trotz ihres Erfolgs
Ihr politisches Interesse führt unweigerlich zu großem Interesse an der Thüringenwahl im Oktober, bei der Noch-Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke) um die Fortführung des rot-rot-grünen Bündnisses bangen muss. Weichert fände es „schade“, wenn das linke Experiment tatsächlich zu Ende gehe, weil es im Freistaat merkbare Veränderungen gebe – beispielsweise im Arbeitsstil der Verwaltungen und in der Zusammenarbeit mit Zivilgesellschaft oder alternativen Jugendprojekten.
Der 41-Jährige hat die Arbeit der Regierung hautnah mitbekommen, sein Referendariat verbrachte er im Erfurter Landtag. Zu Thüringens Landeshauptstadt hat Weichert eine besondere Verbindung. Vor sieben Jahren nämlich eröffnete er dort seinen ersten vegetarisch-veganen Imbiss, die „Green Republic“. Außerdem hat er sich in der Domstadt noch einmal an der Universität eingeschrieben – seit letztem Jahr studiert er sammlungsbezogene Wissens- und Kulturgeschichte. Vier Semester lang stöbert Weichert nun in alten Archiven, Museen oder Bibliotheken, besucht mittelalterliche Sammlungen in Erfurt und Gotha oder lernt alte Schriften kennen.
Gegründet wurde die Band Heaven Shall Burn 1996 von Gitarrist Weichert und Ex-Schlagzeuger Matthias Voigt, der 2013 aus gesundheitlich Gründen aussteigen musste – damals aber noch mit anderem Namen. „Heaven“ meint für die Gruppe „ein falsches Paradies, das sich einige Menschen in ihren Köpfen aufbauen. Viele leben weitab der Realität und gaukeln sich etwas vor. Diese Leute müssen aus ihren Tagträumen erwachen und auch endlich begreifen, dass sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen sollten und ihnen kein Gott helfen wird, ihre Ziele zu verwirklichen.“
Der Durchbruch kam für die Band Anfang der zweitausender Jahre, als Headliner auf großen Shows oder mit Konzerten in Russland, Asien und Südamerika. Das Quintett beweist ganz nebenbei, dass provokante Metal-Hymnen durchaus massentauglich sein können. So stiegen ihre letzten beiden Alben immerhin auf Platz zwei und drei der deutschen Charts ein. Trotz des Erfolgs sind die fünf Musiker bescheiden geblieben, alle gehen einem Beruf nach – sie sind Berufsschullehrer, Krankenpfleger, Tonstudio-Inhaber oder eben promovierte Juristen. Sie leben alle vegetarisch oder vegan.
Die Thüringer gehören seit Jahren zu den erfolgreichsten Metalcore-Bands Europas und sie haben ein Musikgenre aus dunklen Proberäumen auf die bedeutenden Bühnen des Landes gehievt. Und während andere Bands ihres Metiers Fantasy-Schlachten, wildgewordene Zombies oder zerstückelte Leichen besingen, ist bei Heaven Shall Burn Politik angesagt.
„Ich habe festgestellt, dass mir mehr Leute zuhören, wenn ich eine Gitarre in der Hand habe. Die aggressive Musik rührt aus einer ehrlichen und gerechten Wut über die Zustände, die wir anprangern. Wer über Tod, Krieg, Hunger oder Umweltzerstörung redet, kann das nicht mit Kammermusik tun – das würde den Menschen den Ernst der Lage nicht ausreichend verdeutlichen“, sagt der Gitarrist und schiebt hinterher: „Wir wollten keine angry Metal-Band sein und auch keine, die nur superpolitische Intellektuellen-Musik macht.“
Die Songs sind deshalb auch kein Marketingcoup, damit sich die Alben besser verkaufen. Weichert ist nicht nur Gitarrist, sondern auch für die tiefsinnigen Inhalte verantwortlich. Die Ideen dafür entstünden abends während der Tagesschau, aus Gesprächen oder bei einem guten Buch.
Keine Gedanken ans Aufhören
Auf der neuen Platte, ihrem mittlerweile neunten Studioalbum, an dem die Band zurzeit intensiv arbeitet und das im Frühjahr 2020 erscheinen soll, wie Weichert verrät, wird es beispielsweise einen Song über Lehrkräfte in Afrika geben und die Gefahren durch die Terrororganisation Boko Haram. „Die machen dort einen wahnsinnig respektvollen Job, riskieren jeden Tag wieder ihr Leben, wenn sie zur Schule gehen. Über solche Menschen was zu schreiben, bewegt mich dann schon sehr.“
Und so kam Weichert auch auf einen Filmemacher, der in einem Slum in Uganda Actionfilme für nicht mehr als 200 Dollar dreht – er hat ihn für Heaven Shall Burn gewinnen können. Dieses filmische Resultat will die Band mit Erscheinen des neuen Albums veröffentlichen. Auch Privates verarbeitet Weichert in den Songs, wie den plötzlichen Tod seines besten Freundes vor zwei Jahren, der auf dem Fahrrad von einem Transporter erfasst wurde.
Im Oktober fliegt die Band nach Weißrussland, um dort ein Orchester für die neue Platte aufzunehmen – „Dinge, für die wir uns momentan extra Zeit nehmen“. Weichert verspricht zudem Überraschungen, viele Gäste und „dumme Ideen“.
Während die ersten Fans schon das nahende Ende der Band betrauerten, denken Weichert und die anderen Bandkollegen noch nicht ans Aufhören. Nach ihrer letzten Tour haben Heaven Shall Burn eine zweijährige Pause angekündigt, die nun aber bald zu Ende geht. Die fünf Jungs planen schon an Bühnenbildern und Konzertterminen. „Es war die erste längere Pause und deshalb sind wir extra heiß darauf, bald wieder auf der Bühne zu stehen. Die letzten beiden Jahre waren aber schon entspannt“, erzählt Weichert. Neue Songs seien trotzdem entstanden, nur ohne den Druck einer baldigen Album-Veröffentlichung.
Gegen die reine Musikkarriere haben sie sich früh entschieden, die Band sollte ihr Hobby bleiben. Und auch den Drang, in eine Großstadt zu ziehen hätten sie nie wirklich verspürt. „Als die große Sehnsucht nach der weiten Welt aufbrach, haben wir schon große Tourneen im Ausland gespielt. Und je weiter ich weg bin, desto lieber komme ich ins beschauliche Weimar zurück. Ich brauche das provinzielle Leben, wenn ich schon mit der Band die ganze Welt bereise. Wir sind eben doch typische Thüringer Bratwurstmuffel – auch wenn wir nur Soja essen.“
Auf Veto erscheinen Geschichten über Menschen, die etwas bewegen wollen. Wer unsere Idee teilt und mithelfen möchte, kann das unter steadyhq.com/veto tun.