Und raus bist du — Fabian Wichmann

Fabian Wichmann ebnet Ausstiegswilligen den Weg aus der Neonazi-Szene. Ein Kraftakt, der oft Jahre dauert. Doch obwohl die Initiative Exit schon Hunderten geholfen hat, steht ihre Zukunft immer wieder infrage.
1. Juni 2020
4 Minuten Lesezeit
Text: Tobias Hoeflich — Fotos: Benjamin Jenak

Aus für Exit? Ein schöneres Geschenk könne es für völkische Familien nicht geben, da ist sich Heidi Benneckenstein sicher. Die Erzieherin gehörte verschiedensten Neonazi-Organisationen an. Sie schaffte den Weg raus aus der Szene – und ist heute eine der prominentesten Aussteigerinnen im Land. Dass sie die Ideologie, den Hass und die Menschen, mit den sie sich lange umgab, hinter sich ließ, liegt auch an Exit. Einer Initiative, die seit ihrer Gründung im Jahr 2000 über 700 Szene-Angehörige betreut hat.

Fabian Wichmann, 39, ist seit 2006 Teil des Teams. Auf seinem Schreibtisch liegt ein Kalender im A3-Format für das neue Jahr, den er selbst gestaltet hat: zwölf Monate, zwölf Ausstiegswillige, die von ihren Erfahrungen in der Szene und ihrer Hilfe durch Exit berichten. Wenige mit klarem Foto und Namen wie Heidi Benneckenstein, die meisten anonymisiert. Denn wer aussteigen will, bringt nicht nur sich selbst womöglich in Gefahr, sondern auch jene, die dabei helfen. 

Und so gibt es an dem schlichten Altbau in Berlin auch kein Klingelschild, das das Wort Exit trägt, ebenso fehlt eine genaue Adressangabe des Büros auf der Webseite. Dass die Rollläden kein bisschen Tageslicht in die Räume im Erdgeschoss durchlassen, sei aber Zufall, versichert Wichmann und lacht. „Hab’ nur vergessen, die hochzuziehen.“

Trotzdem, sagt er, könne er schon manchmal paranoid werden. Nicht zu Unrecht: Vor allem Exit-Begründer Bernd Wagner erhielt schon oft Drohungen per Post, Mail, Telefon. „Da wurde auch mal am Auto herumgespielt“, sagt Wichmann, der in Potsdam Erziehungswissenschaft studiert hat. Dennoch sei die Gefahr für die Mitarbeitenden „überschaubar“ – und nicht so groß wie bei denen, die aussteigen wollen.

Aufbruch in ein neues Leben

Wichmann wuchs in einem kleinen brandenburgischen Dorf nahe Berlin auf und kam dort früh mit Neonazis in Berührung. Inzwischen zieht es Wohlhabende in das Örtchen, die vom Eigenheim träumen und dennoch die Nähe zur Großstadt suchen. Damals war das anders. „Wer nicht ins Bild passte, war in dem Dorf schnell als ‚linker Vogel‘ verschrien“, erinnert sich Wichmann an seine Jugend. „Die Konfrontation mit Rechts war alltäglich – und die Neonazis immer da.“

Obwohl Wichmann nun in Berlin lebt: Der Konflikt mit Rechts ist geblieben. Doch heute ist der sein Job. Quer aus dem Bundesgebiet melden sich Neonazis bei Exit, die rausdrängen aus der Szene, mit ihrer Vergangenheit brechen und sich ein neues Leben aufbauen wollen. In der Regel rufen die Hilfesuchenden an, einige schreiben auch Mails. Aber das war es oft schon an Gemeinsamkeiten. Jeder Fall ist individuell: Manche melden sich direkt aus einer Kameradschaft heraus, anderen haben schon mit der Szene gebrochen und werden von ihrer Vergangenheit eingeholt. „Wir schauen uns dann die Sachlage an, arbeiten Szenarien durch und kümmern uns erst mal um die dringlichsten Probleme.“

Fabian Wichmann arbeitet für die Ausstiegsinitiative Exit.
Fabian Wichmann arbeitet für die Ausstiegsinitiative Exit.

Exakt 761 Menschen, die den Ausstieg geschafft haben, kann Exit vorweisen. Im Schnitt begleiten die Mitarbeitenden der Initiative die Betroffenen zwei bis vier Jahre. „Wir haben aber auch Fälle, die deutlich darüber hinausgehen“, sagt Wichmann. Wichtig sei vor allem das Thema Sicherheit und ob eine Gefährdung vorliegt. Bei besonders krassen Fällen müsse sogar die Identität der Betroffenen gewechselt werden. „Das geht dann runter bis zur Steuer- und Versicherungsnummer. Solche Prozesse sind extrem schwierig und langwierig.“

Weniger nervöse Reaktionen

Doch wieso rutschen immer wieder Menschen in die Szene ab? „Es wäre zu einfach zu sagen, da hat jemand nur eine schwere Kindheit gehabt“, stellt Wichmann klar. Meist sei ein geschichtliches Interesse vorhanden, eine gewisse Faszination für Militär und Waffen – und zusätzlich eine Identifikationsfigur zum Beispiel in der Familie, die dieses Geschichtsbild trägt. Schwierige Familienverhältnisse, fehlende Angebote für Jugendliche, all das trage aber dazu bei, dass Leute abdriften. 

Über all die Jahre hat sich einiges geändert, auch wenn es die eine Neonazi-Szene nicht gibt, wie Wichmann sagt. Die klassischen Skinheads Anfang der 2000er-Jahre seien seltener geworden, dafür ist zum Beispiel der Anteil an Frauen gestiegen – wenn auch auf niedrigem Niveau.

Wichmann beklagt jedoch eine erhöhte Nervosität in der Gesellschaft und in den Debatten, was auch am Aufstieg der AfD liege. „Zum Beispiel gab es eine enorme Aufregung um den Dritten Weg in Plauen“, erinnert Wichmann daran, wie die rechtsextreme Kleinstpartei am 1. Mai 2019 mit einigen Hundert Teilnehmenden durch die sächsische Stadt marschierte. 

„Ich muss das ja nicht überhöhen und gleich ein 1933 daraus machen. Es wäre schön, wenn wir als Gesellschaft souveräner mit solchen Themen umgehen und nicht über jedes Stöckchen springen, was uns hingehalten wird.“ Genau diese Wahrnehmung würden die Rechtsextremen mit ihren Provokationen bezwecken. Dabei gehe es nicht um die Frage, ob berichtet wird – sondern wie: welcher Umfang, welche Bildauswahl, welcher Tonfall. „Sensibilität dem Thema gegenüber ist wichtig, aber sie darf nicht in einer Schockstarre und apokalyptischen Szenarien enden.“

Als die Arbeit am Ende stand

Dennoch zeigen solche Ereignisse, wie wichtig die Arbeit von Exit ist. Trotzdem sind die 20 Jahre der Initiative auch geprägt von stetiger Unsicherheit über die eigene Zukunft. Dass sie überhaupt dieses Jahr ihr Jubiläum feiern kann, war lange ungewiss. Die Arbeit wird neben Spenden durch staatliche Unterstützung finanziert. Doch bis zum vergangenen Herbst hatte der Träger, das Zentrum Demokratische Kultur (ZDK), keine Zusage für weitere Fördermittel. 

Das Bundesfamilienministerium strukturierte sein Programm „Demokratie leben“ um – und irgendwie passte Exit plötzlich nicht mehr hinein. „Das alles stand auf der Kippe“, sagt Wichmann. Und das nicht zum ersten Mal, weil die Fördermittel immer nur für einen begrenzten Zeitraum bewilligt werden. Dabei dürfte Exit die bekannteste Adresse Deutschlands für Ausstiegswillige sein. Nicht nur für Neonazis, sondern auch für Menschen aus der salafistischen Szene, die durch die Initiative Hayat betreut werden, deren Träger ebenso das ZDK ist.

Schon früh war Fabian Wichmann mit Nazis konfrontiert.
Schon früh war Fabian Wichmann mit Nazis konfrontiert.

Erst als die Tageszeitung taz über das drohende Aus berichtete, kam Bewegung in das Thema. Auch namhafte Abgeordnete wie die Vizepräsidentin des Bundestags, Claudia Roth, reagierten mit Unverständnis. „Es kann sein, dass der mediale Druck etwas bewirkt hat“, sagt Wichmann. Für die neue Förderperiode von drei Jahren ist die Grundfinanzierung gesichert. Doch dann wird wohl wieder das Zittern losgehen – bei den Mitarbeitenden, aber genauso bei jenen, die hier langfristig Hilfe erhalten. Für sie wäre es „fatal und gefährlich“, wenn die Begleitung durch Exit wegbrechen würde. So steht es wörtlich im Einleitungstext von Wichmanns Kalender. Er hat ihn auch an das Ministerium geschickt. 

Dieser Text erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe des Veto Magazins: www.veto-mag.de/gedruckt. Unsere Botschaft an alle Gleichgesinnten: Ihr seid nicht allein!

Weiterlesen

Blaxpertise — Kolumne Malonda

Alle wollen immer links sein – aber wer will (noch) links wählen? Wie das „Bündnis Sarah Wagenknecht“ eine ohnehin schon unruhige Parteienlandschaft in Deutschland weiter durcheinander bringt und wie es soweit kommen konnte.

Hinterland — Ocean Hale

Während Anti-AfD-Proteste in Großstädten die Berichte dominieren, lässt sich das Motto „Wir sind mehr“ im ländlichen Sachsen kaum verwirklichen. Hier braucht es einen kontinuierlichen Einsatz, der an die Substanz geht. Unterwegs in Döbeln.

VEranTwOrtung — Kolumne Sookee

Links-Sein ist und bleibt ein ewiger Balanceakt zwischen theoretischen Entwürfen und der reellen Machbarkeit in einer gesellschaftlichen Umgebung, die einem abspricht den Ernst des Lebens verstanden zu haben.

Kleine Schritte — Mandy Vater

Wenn Gegenrede ausbleibt, verschieben sich die Grenzen des Sagbaren. Immer weiter nach rechts. Auf dem Land in Sachsen-Anhalt macht sich Mandy Vater dafür stark, dass Rassismus nicht länger unkommentiert bleibt.

Am Ball — Antje Grabenhorst

Fußball ist immer noch eine Männerdomäne, auf wie neben dem Platz. Antje Grabenhorst hat sich ihren Platz in der Fankurve von Bundesligist Werder Bremen erkämpft – und hält ihn auch anderen frei. Ein Besuch.

Journalismus mit Haltung

Mit Veto geben wir Aktivismus eine mediale Bühne und stellen all jene vor, die für Veränderung etwas riskieren. Veto ist die Stimme der unzähligen Engagierten im Land und macht sichtbar, was sie täglich leisten. Sie helfen überall dort, wo Menschen in Not sind, sie greifen ein, wenn andere ausgegrenzt werden und sie suchen nach Lösungen für gesellschaftliche Probleme.

Mediale Aufmerksamkeit aber bekommen ihre mutigen Ideen nur selten. Das muss sich ändern – und Aktivismus endlich raus aus der Nische! Die Aktiven brauchen vor eine starke Stimme und Wertschätzung für ihre Arbeit. Mit Veto machen wir Engagement sichtbar und zeigen denen, die finden, dass es nun höchste Zeit ist, sich einzumischen, wie es gehen kann. Unsere Botschaft an alle Gleichgesinnten da draußen: Ihr seid nicht allein!

Mit Print gescheitert?

Veto gab es bis Sommer 2022 auch als gedrucktes Magazin. Doch die extrem gestiegenen Preise für Papier, Druck und Vertrieb wurden für uns zur unternehmerischen Herausforderung. Gleichzeitig bekamen wir Nachrichten aus der Community, dass sich viele ein Abo nicht mehr leisten können. Wir waren also gezwungen, das gedruckte Magazin nach insgesamt zehn Ausgaben (vorerst) einzustellen.

Aber – und das ist entscheidend: Es ist keinesfalls das Ende von Veto, sondern der Beginn von etwas Neuem. Denn in Zeiten multipler Krisen wird Veto dringend gebraucht. Um Hoffnung zu geben, zu verbinden, zu empowern und zu motivieren. Deshalb machen wir alle Recherchen und Porträts kostenfrei zugänglich. Denn: Der Zugang zu Informationen über Aktivismus und Engagement darf keinesfalls davon abhängen, was am Ende des Monats übrig ist.

Transparenzhinweis

Veto wird anteilig gefördert von der Schöpflin Stiftung, dem GLS Treuhand e.V., dem Presse- und Informationsamt der Bundesregierung und der Bürgerstiftung Dresden. Bis 2022 war auch die ZEIT STIFTUNG BUCERIUS beteiligt. Der Aufbau der Webseite wurden realisiert durch eine Förderung der Amadeu Antonio Stiftung (2019) und des Förderfonds Demokratie (2020).

Du kannst uns mit einer Spende unterstützen: DE50 4306 0967 1305 6302 00 oder via PayPal.