Text: Philine Schlick — Fotos: Benjamin Jenak
„Mein Name ist türkisch und bedeutet so viel wie Fantasie oder Tagtraum“, sagt Hülya Marquardt und streicht eine Haarsträhne hinters Ohr. Ihr Blick wandert für einen Moment zum Fenster hinaus: in den Garten ihres Einfamilienhauses in Weissach im Tal, in dem unter blühenden Bäumen ein weißes Spielhaus steht. Obwohl sie früh gewichtige Entscheidungen eigenständig traf, habe sie „eigentlich gar keinen Plan“ für ihr Leben, bemerkt sie. „Ich lasse alles auf mich zukommen.“ Einen ihrer größten Träume hält sie auf dem Schoß: ihren Sohn.
Hülya Marquardt kam mit Dysmelie zur Welt, einer genetisch bedingten Krankheit, die sich unterschiedlich äußert. Körperteile können vergrößert oder verkleinert sein, andere Formen aufweisen oder ganz fehlen. Bei ihr sind die Hände und Beine betroffen. „Für meine Familie war das ein Schock. Besonders für meine Mutter.“ Die war zum Zeitpunkt der Geburt 17 – und gerade erst aus der Türkei zu ihrem Mann ins Ruhrgebiet gezogen, ohne deutsch zu können.
Marquardt erinnert sich an lange Krankenhausaufenthalte: zwischen dem zweiten und dem sechsten Lebensjahr 20 Operationen, weil ihre Knochen brüchiger waren als bei anderen. In der Schule ist Marquardt die, die auffällt. Sie wächst im Spannungsfeld von Gegensätzen auf: Zuspruch und Abgrenzung, Zweifel und Lebenswillen. Dass sie jemals einen Partner finden, ein Kind haben könnte – darum sorgt sich ihre Familie, einige zweifeln es offen an.
Mit zwölf Jahren entscheidet sich Hülya Marquardt, aus den Sommerferien in der Türkei nicht nach Nordrhein-Westfalen zurückzukehren: „Ich hatte den tiefen Wunsch bei meiner Oma zu bleiben.“ Die Eltern sind verdutzt, willigen aber ein und akzeptieren auch, dass die jüngere Schwester bleibt. Beide besuchen ein religiöses Mädcheninternat in Ankara. „Damals habe ich in meiner kindlichen Naivität gedacht: Warum nicht?“, schildert Marquardt.
Die Erfahrung an diesem streng geregelten Ort ist einprägsam und befriedigt auf eine Weise ihre Wissbegier: „Ich war in einem Alter, in dem ich mir viele Fragen gestellt habe – und die Antworten meiner Eltern haben mich nicht zufrieden gestellt. In der Schule habe ich sie gefunden. Und noch mehr Fragen“, sagt sie und stimmt das ihr eigene, vergnügte Lachen an.
Aus Fotos wird Aktivismus
Nach einem Jahr in der Türkei fällt ihr aufgrund ihrer Erkrankung das Laufen zunehmend schwerer, außerdem sie plagt das Heimweh. Marquardt kehrt schließlich mit ihrer Schwester nach Hagen zurück. Als ihre Eltern sich scheiden lassen, zieht sie zu ihrem Vater, ihre beiden Schwestern zur Mutter. Sie ist 15, als sie den viel beschäftigten Vater bittet, ein Internat besuchen zu dürfen: „Das war die beste Entscheidung, die ich hätte treffen können.“ Sie habe dort ihre Talente entdeckt, sich ausprobiert. Marquardt spielt Theater, probt Musicals, lernt neue Menschen kennen. Erst mit 24, am Ende ihrer Ausbildung, wird sie das Internat verlassen. Die Amputationen liegen da bereits sechs Jahre zurück.
Marquardt ist 18, als sie wieder ein Krankenhaus besucht: Ihre Volljährigkeit ist der Anlass für eine neuerliche Untersuchung. Sie bekommt dort die Empfehlung, sich das rechte Bein abnehmen zu lassen, da es ohnehin „nicht funktionsfähig“ sei. Sie willigt ein. Wenig später entzündet sich im linken Bein eine Titanschraube von einer ihrer früheren OPs. Es kommt zur Blutvergiftung, die sich schnell ausbreitet. „Ich habe gespürt, dass irgendwas nicht stimmt.“ Aufgrund der schweren Entzündung wird ihr auch hier zur Amputation geraten. Eine Woche habe sie Zeit bekommen, um sich zu entscheiden – und letztlich zugestimmt.
Hülya Marquardt erzählt das alles sehr unaufgeregt. „Ich gehe mit meiner Lebensgeschichte offen um. In der Türkei verstecken sich Menschen oft wegen ihrer Behinderung. Sie schämen sich.“ Sie aber habe sich für einen anderen Weg entschieden – den ihren.
„Ich habe immer gedacht: Du musst dein Ding machen. Das ist dein Leben und du musst es leben.“ Marquardt stemmt sich gegen Vorurteile und lernt, sich durchzusetzen: „In der türkischen Kultur wollen alle Familienmitglieder ständig mitreden, auch bei der Partnerwahl.“ Von dem Vater eines Partners sei sie als Pflegefall bezeichnet worden, ein anderer wollte sie gar nicht kennenlernen. Anerkennung sei den Männern an ihrer Seite zuteil geworden, erinnert sie sich, da sie eine wie sie gewählt hätten, als sei dies ein Akt der Gnade gewesen. Heute kann Marquardt darüber lachen: „Letztlich hat mich das zu einer starken Person gemacht.“
Neugier und Lebensfreude
Ihren Ehemann lernt sie 2014 über das Internet kennen. Obwohl sie zu dieser Zeit gar nicht an einer Beziehung interessiert ist, funkt es. Sie zieht zu ihm nach Baden-Württemberg. Während eines gemeinsamen Urlaubs stellt Dennis, seit der Kindheit begeisterter Fotograf, fest: „Hülya, diese Bilder von dir sind so stark. Die müssen auf Instagram.“ Marquardt winkt scherzhaft ab: „Ich wusste nicht, was das ist“, sagt sie. „Aber so bin ich eben: Ich probiere alles einfach aus.“
Positive Reaktionen erreichten sie schon bald aus der ganzen Welt. „Da war die Nachricht eines kleinen Jungen aus Ost-Anatolien, der auch Dysmelie hat. Sein Vater hatte ihm unseren Instagram-Kanal gezeigt und der Kleine war einfach so glücklich, zu sehen, dass es auf der Welt eine Person gibt, die genau solche Hände hat wie er.“
Wieder einmal erfährt sie, die Bühnenerpobte, welche Wirkmacht es haben kann, sich zu zeigen. Ihre Fotos spiegeln Lebenslust: Marquardt beim Ausflug mit dem Skateboard, beim Spaziergang im Wald, beim Handball und Gewichtheben, mit ihrem Kind auf dem Arm, mit Prothesen auf einer Bühne. Ihr Kanal dokumentiert den Alltag einer Frau, an der Attribute wie „bemitleidenswert“ oder „versehrt“ abperlen. Eltern kontaktieren sie, um sich Rat zu holen – und Marquardt erkennt früh: „Zuhören ist wichtiger als retten wollen.“
Neben ihrer Mutterschaft, dem Job als Seminarleiterin bei der Handelskammer in Stuttgart und der Modeboutique, die sie zusammen mit ihrer Schwiegermutter betreibt, gehört ihr Engagement inzwischen fest zum Alltag, weil „alle etwas zu geben haben“, beschreibt Hülya Marquardt, und der Austausch mit anderen Menschen auch sie weiterbringe. „Meine Eltern waren auch überfordert, als ich so lange im Krankenhaus lag. Deswegen denke ich, dass es anderen die Angst nimmt, wenn ich von meinem Leben erzähle.“
Dieser Text erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe des Veto Magazins: www.veto-mag.de/gedruckt. Unsere Botschaft an alle Gleichgesinnten: Ihr seid nicht allein!