Text: Pia Benthin — Fotos: Jan Ladwig
In Eszter Jakabs Utopie wäre dieser Text vollkommen überflüssig. Denn alles, wofür sie heute kämpft, wäre dann schon eine Selbstverständlichkeit. In der von ihr erträumten „neuen Normalität“ würden Menschen nach ihren Wünschen und Fähigkeiten gefragt – und nicht nach ihren Einschränkungen. Sprache, Kultur, Medien, Fahrzeuge, Straßen, Gebäude wären barrierefrei. Und alle dürften am Leben teilhaben, unabhängig von ihren psychischen und physischen Eigenarten.
Täglich versucht Eszter Jakab ihre Vision Wirklichkeit werden zu lassen. Jakab ist Autorin, pflegende Mutter und Instagrammerin. Das Schreiben verbindet sie mit der Außenwelt, vor allem in Zeiten der Pandemie. Wenn sie nicht schreibt, leistet sie Sorgearbeit. Und oft tut sie beides gleichzeitig. Denn Jakab hat Kinder mit einer Behinderung. „Ich habe nicht die Wahl, ob ich pflegende Mutter bin oder nicht. Ich habe nur die Wahl, wie ich diese Rolle gestalte.“ Für sie gehört es dazu, ihre Erlebnisse mit anderen zu teilen und verständlich zu machen. Denn sie ist überzeugt davon, dass das Leben von Menschen mit und ohne Behinderung noch immer kein Miteinander ist.
Laut Statistischem Bundesamt lag der Anteil der Menschen mit schwerer Behinderung in Deutschland 2019 bei 9,5 Prozent. Darunter sind zwei Prozent Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Eszter Jakab kritisiert vor allem die Unsichtbarkeit und die vielen Hürden, die aus den niedrigen Zahlen resultieren würden.
Zur schreibenden Aktivistin wurde die 31-Jährige nach der Geburt ihres ersten Kindes vor fünf Jahren. Damals seien ihr und ihrem Mann klargeworden, dass sie „als Eltern nicht mehr ausreichen, um diesem Kind die beste Förderung zukommen zu lassen. Das war der Punkt, an dem wir entschieden haben, einen Pflegegrad zu beantragen.“ Die Erkenntnis kam ihr schleichend – und sie konfrontierte Jakab mit ihrem eigenen verinnerlichten Ableismus. Der Begriff kommt aus dem Englischen: entstanden aus „to be able“ („zu etwas fähig sein“). Beschrieben wird die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung durch Ungleichbehandlung, Grenzüberschreitungen oder stereotype Zuweisungen.
Wohlüberlege Einblicke
„Ich bin Autistin und mir war von Anfang an klar: Ich verstehe dieses Baby und dieses Baby ist mir sehr ähnlich“, sagt Jakab. Ihr geht es aber nicht um Diagnosen. Nicht um ihre eigene und auch nicht um die ihrer Kinder. Auch deshalb überlegt sie genau, welche Informationen sie aus ihrem „manchmal (über-)fordernden Alltag“ im Netz teilt. Wenig Schlaf, Traurigkeit und nächtliche Tränen – mit all dem geht sie offen um. Dennoch wägt sie immer ab: „Ist das nur ein voyeuristischer Einblick, den ich gebe, oder geht es darum, was daraus folgt?“ Und ihr sei es wichtig, nicht für ihre Kinder zu sprechen: „Ich erzähle nicht die Geschichte meiner Kinder. Ich erzähle meine als pflegende Mutter.“
Staatliche Stellen zählen 4,1 Millionen pflegebedürftige Menschen im Land. Etwa die Hälfte wird zuhause allein durch Angehörige versorgt. Unter den Pflegebedürftigen sind fast 28 000 Kinder unter fünf Jahren. Pflegende Mutter zu sein, bedeutet für Jakab, nicht wie geplant studieren zu können und nach außen hin ein eher „konservatives Rollenbild“ zu leben. Ihr Mann arbeitet, sie kümmert sich um die Kinder. Entlohnt werden diese Leistungen aber nicht gleichwertig. Auch fehle es an Anerkennung und an Teilhabe am Leben außerhalb von Anträgen, Fürsorge und Therapie. Keiner Lohnarbeit nachgehen zu können, erhöht darüber hinaus das Risiko, später von Altersarmut betroffen zu sein.
„Am Ende des Tages sind wir in allen Bereichen von Ableismus betroffen“, fasst Jakab zusammen. Häufig falle ihr das schon gar nicht mehr auf, ergänzt sie, weil es Alltag sei. Deshalb blogge sie regelmäßig und versuche im Kindergarten oder auf dem Spielplatz Gespräche anzustoßen.
Abwegige Erwartungen
„Der Austausch mit anderen Eltern“, sagt Jakab, „ist wie eine Erinnerung, für welche Werte wir stehen wollen.“ Dabei strebt sie größtmögliche Ehrlichkeit an: „Nur weil ich die Rolle der pflegenden Mutter angenommen habe, heißt es ja nicht, dass ich nie damit hadere.“ Über diese inneren Konflikte schreibt sie auch auf Instagram – eine Welt, in der sich viele Mütter scheinbar makellos präsentieren und ihre so perfekt wirkenden Leben mit Kind inszenieren: #littlelove #blessed. Unter Jakabs Fotos stehen dagegen Aussagen wie: „Gestern Abend habe ich geweint, dann habe ich mir die Tränen getrocknet und bin schlafen gegangen.“
Die Autorin bricht bewusst mit Erwartungen. „Die Leute denken, du bekommst ein Kind mit Behinderung und dann bist du nicht mehr ableistisch. Sie glauben, die Liebe löse das alles auf, aber das hat nichts mit Liebe zu tun.“ Während Eszter Jakab erzählt, ist zu spüren, wie sehr sie das ärgert. „Die Leute erwarten von pflegenden Eltern moralische Überlegenheit. Sie selbst reproduzieren Ableismus, aber wir sollen das gefälligst nicht tun. Von Liebe kaufst du dir kein Brot, keine Miete und auch keine Altersversorge. Es geht um eine Form der Diskriminierung, die in unserer Gesellschaft verankert ist.“
Von allein werden diese Probleme nicht weniger, ist sie überzeugt: „Erst wenn die Leute verstehen, was ich zuhause mache, was meine Aufgaben sind und was ich beachten muss, entstehen Verständnis und Nähe. Erst dann können wir solidarisch füreinander sein und uns mitdenken.“ Deshalb sei es auch im Sinne ihrer Kinder, Informationen preiszugeben, um Austausch und Inklusion zu fördern. Andernfalls „isoliere ich uns komplett“.
Besondere Erfahrungen
Einen Ort zum Austausch hat sie mit dem „Eigenes Zimmer Mag“ selbst geschaffen. Jakab erdachte es mit den Autorinnen Anne Dittmann und Jasmin Dickerson. „Es ist das erste Online-Magazin, das ausschließlich von neurodiversen Menschen gegründet wurde“, erklärt das Trio. Neurodiversität meint, dass neurobiologische Unterschiede wie Autismus als natürliche menschliche Dispositionen angesehen und respektiert werden.
Die Gründerinnen schreiben außerdem: „Zusammen haben wir fünf Kinder, davon vier mit Behinderungen. Wir sind afrodeutsch, postmigrantisch und alman. Wir lieben queer und leben in unterschiedlichsten Familienkonstrukten.“ Das Projekt sei schon lange in Planung gewesen, erzählt Eszter Jakab. Ihr gehe es darum, Menschen abzuholen und aufzuklären: „Mit dem Magazin arbeite ich auf struktureller Ebene. Denn ich teile meine Perspektive auf Gesellschaft und Politik.“
Sehr viel persönlicher schreibt sie dagegen auf ihrem Instagram-Account und auf dem Blog „Kaiserinnenreich“. Diesen hat Jakab zusammen mit anderen von Gründerin Mareice Kaiser übernommen, die heute als Chefredakteurin von Edition F arbeitet. „Als mir klar wurde, dass meine Kinder eine Behinderung haben werden, habe ich Mareices Buch gelesen, in dem sie über das Leben mit ihrer behinderten Tochter schreibt. Das hat mir geholfen, als ich mich damit auseinandergesetzt habe, pflegende Mutter zu sein.“ Emotional und eine Ehre sei es gewesen, als Kaiser ihr anbot, den Blog fortzuführen. Die Texte hätten Jakab viel gegeben und „ich glaube, das gilt für viele pflegende Eltern. Besonders dann, wenn die Rolle neu ist, du dich alleine und nicht repräsentiert fühlst.“
Was ein guter Grund sei, ihrem Blog zu folgen? „Weil ich gut schreibe.“ Eszter Jakab lacht. „Klar habe ich einen sehr spezifischen Standpunkt, mit dem sich auch nicht alle Menschen identifizieren können. Aber das, worüber ich schreibe, ist universal. Wir alle kennen Freude, wir alle kennen Wut und Trauer.“
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