Metamorphose — Mariam Claren

Mariam Claren kämpft für die Freilassung ihrer inhaftierten Mutter im Iran. Sie hat in kurzer Zeit große Aufmerksamkeit erregt und zudem eine lebensverändernde Entwicklung durchlaufen: von der Marketing-Managerin zur Vollzeitaktivistin.
20. Juni 2024
6 Minuten Lesezeit
Text: Anne Brockmann — Fotos: Martin Lamberty

Zwei blaue Häkchen, doch über Stunden keine Reaktion. Mariam Claren hat ihrer Mutter per WhatsApp ein Urlaubsfoto geschickt. Es zeigt sie und ihren Freund am Strand. Normalerweise antwortet die Mutter schnell. Mariam Claren erinnert sich daran, wie sie in dieser Situation zunehmend nervös wurde: „Ich hatte gleich das Gefühl, dass irgendwas nicht stimmt.“

Erst Tage später, auf der Heimfahrt von der Nordsee, erhält sie die entscheidende Nachricht und damit Gewissheit: Nahid Taghavi wurde am 16. Oktober 2020 in ihrer Wohnung in Teheran verhaftet und ins Evin-Gefängnis gebracht. Ein Ort, den ehemalige Inhaftierte im letzten Jahr als grausam und zerstörerisch beschreiben. Berichtet wird von Massenhinrichtungen, Folter und Vergewaltigungen. Zehn Jahre und acht Monate soll die gebürtige Iranerin mit deutscher Staatsbürgerschaft genau an diesem Ort bleiben. Der Vorwurf: „Gefährdung der Sicherheit“.

„In einem totalitären Regime wie dem Iran kann das alles bedeuten – im Zweifel nur, dass du anders denkst als die Machthaber und das irgendwo geäußert hast“, ordnet Tochter Mariam ein. Ihr Onkel informierte sie damals über die Verhaftung. „Ab dem Moment befand ich mich im Krisenmodus. Ich weiß noch, dass ich zur Tankstelle gefahren bin und mir vier Schachteln Zigaretten gekauft habe.“ Und dann schaltet sie um: von Krisenmodus auf Aktionismus. Ihre Mutter braucht Öffentlicht, dass sei ihr schnell bewusst gewesen. Viel Öffentlichkeit.

Und so sendet Mariam Claren nur wenige Tage nach der Festnahme unter dem Hashtag „Free Nahid“ Botschaften in die Welt. Der erste Beitrag auf Instagram zeigt ein Foto ihrer Mutter, weiße Schrift auf blauem Grund: „Free Nahid! Free Mama!“

Sie beschreibt es als „echte Metamorphose“, die sie von da an durchläuft. „Ich bin von einer Marketing-Managerin zur NGO geworden, die gegen Menschenrechtsverletzungen im Iran aufbegehrt.“ Konkret baut sie in kürzester Zeit eine Kampagne auf, erstellt Konten in sozialen Netzwerken, verfasst Pressemitteilungen, sucht den Kontakt zu anderen NGOs, um Hilfe, Input und Verbündete zu organisieren. All das erfolgreich. Nur vier Tage nachdem Mariam Claren das Schicksal ihrer Mutter öffentlich machte, wurde es in der Bundespressekonferenz behandelt. Eine Journalistin erkundigte sich beim Auswärtigen Amt nach der Deutsch-Iranerin. Der Fall sei bekannt, so die Antwort. Die Behörde setze sich für eine Freilassung ein.

Menschen als Druckmittel

Auf die Frage, wie sie so schnell Aufmerksamkeit generieren konnte, sagt Mariam Claren, ihr Job habe sie geschult, Inhalte zu verkaufen: „Zuletzt habe ich Wein vermarktet, nun meine Mutter.“ Sichtbarkeit bedeute für jeden inhaftierten Menschen ein höheres Maß an Schutz und Sicherheit. Claren nennt ein Beispiel: Anfangs hätte ihre Mutter keinen Kontakt zur Außenwelt gehabt. Auch lebenswichtige Medikamente seien ihr vorenthalten wurden. „Als die Regierung im Iran mitbekam, dass meine Mutter hier von Interesse ist, sah das ganz anders aus.“ 

Für Claren ist die Inhaftierung von Personen mit doppelter Staatsangehörigkeit ganz klar eine kalkulierte Strategie der iranischen Regierung, um politische Ziele durchzusetzen. Menschen würden als Druckmittel benutzt, um zum Beispiel die Freilassung von regimetreuen Personen zu erpressen, die in anderen Ländern festgehalten werden. 

Das Engagement der Mutter habe sie lange gar nicht erkennen, einordnen und wertschätzen können, erzählt Claren. Während ihrer Kindheit und Jugend sei das an ihr „vorbeigegangen“. „Wir sind nach Deutschland gekommen, als ich zwei Jahre alt war. Ich bin hier sehr assimiliert aufgewachsen, habe in Köln eine katholische Grundschule besucht. Deshalb war der Iran mit seinen Menschen und Problemen für mich innerlich und äußerlich damals sehr weit weg.“ Bei ihrer Mutter sei das anders gewesen. 

Nahid Taghavi hat ihre Heimat schon früh verlassen, um Architektur in Florenz zu studieren. In dieser Zeit war sie Mitglied der Konföderation iranischer Studenten, die als Zentrum der linken Oppositionsbewegung fern der Heimat galt. Mariam Claren erzählt, dass sich ihre Mutter an der Revolution gegen den Schah 1979 beteiligte. Auch setzte sie sich bis zu ihrer Festnahme für politische Gefangene ein oder organisierte Veranstaltungen – beispielsweise zum internationalen Frauentag. „Ich habe mich für all das kaum interessiert. Ein bisschen was habe ich vom Mindset meiner Mutter aber wohl doch mitbekommen“, mutmaßt sie. 

Protest gegen das Regime

Dass sie ihren eigentlichen Job inzwischen aufgegeben hat, um sich politisch zu engagieren, passt in diese Erzählung. Mariam Claren ist mittlerweile Vollzeit-Aktivistin und arbeitet als Iran-Expertin der NGO Hawar.help. Die 2015 gegründete Menschenrechtsorganisation realisiert Entwicklungs-, Bildungs- und Aufklärungsprogramme im Irak, in Afghanistan und Deutschland und setzt sich unter anderem für die Menschen ein, die sich an der gegenwärtigen Revolution beteiligen. Dass ihre neue Aufgabe längst nicht mehr nur familiär motiviert ist, unterstreicht Mariam Claren: „Auch nach der Freilassung meiner Mutter werde ich mich weiterhin für alle politischen Gefangenen engagieren und die Menschenrechtsverbrechen der Islamischen Republik Iran aufdecken.“ Deshalb postet und netzwerkt sie weiter.  

Sie tut das, weil der Wille der Menschen im Land klar sei: „Circa 80 Prozent der iranischen Bevölkerung lehnen die Diktatur der Islamischen Republik ab und wünschen sich einen Sturz. Die Bevölkerung ist laut und zeigt trotz brutaler Repressionen Widerstand – durch zivilen Ungehorsam, das Ablegen des obligatorischen Kopftuches, Streiks und Protest.“

Neuen Zuspruch bekam die revolutionäre Bewegung nach dem Tod von Jina Mahsa Amini im Herbst 2022. Sie starb an den Folgen roher Gewalt durch die Sittenpolizei, die die junge Frau festgenommen hatte. Angeblich hatte sie ihr Kopftuch nicht korrekt getragen. „Jinas Tod löste die heftigsten Proteste aus, die das Regime erlebt hat. Allein in den ersten vier Wochen kam es zu 342 Aktionen in allen Provinzen und Universitäten des Landes. Die internationale Aufmerksamkeit und Solidarität waren beispiellos“, sagt Claren. Unter dem Motto „Frau, Leben, Freiheit“ solidarisierten sich auch Menschen im Ausland und organisierten Demonstrationen. 

Das Regime im Iran aber ließ die Aufstände brutal niederschlagen. „Mehr als 530 Menschen wurden auf den Straßen ermordet, 20 000 Protestierende festgenommen“, so Claren. Und auch nach dem tödlichen Hubschrauberabsturz von Präsident Raisi und Außenminister Amir-Abdollahian im Mai dieses Jahres werden keine innenpolitischen Änderungen erwartet. Der neue Präsident werde ihrer Einschätzung nach die Politik genauso weiterführen. „Und ebenso wird die Revolution weitergehen.“ Sie nennt die Entwicklungen vor Ort einen Schlüsselmoment ihrer Politisierung. „Mir wurde klar, dass ich meine gesamte Energie nutzen werde, um die Stimmen der iranischen Bevölkerung zu verstärken. Und vielleicht haben die Ideen, die Ideale, das Gedankengut meiner Mutter nur auf den Augenblick gewartet, um abgerufen zu werden.“

Warten auf die Freilassung

Nahid Taghavi hat bis zu ihrer Inhaftierung abwechselnd jeweils ein halbes Jahr im Iran und ein halbes Jahr in Deutschland gelebt. All ihre Aufenthalte in Teheran waren gut gegangen – bis zu diesem einen Tag im Oktober, der inzwischen dreieinhalb Jahre zurückliegt. 200 Tage habe ihre Mutter in Einzelhaft verbracht, sei unter Druck gesetzt und gequält worden. Davon erzählt sie ihrer Tochter in täglichen Telefonaten. Und sie spricht auch darüber, dass diese Erfahrungen sie nicht brechen werden. 

Häufig gehe es in ihren Gesprächen darum, Wut loszuwerden. Dann verflucht Nahid Taghavi „diese Verbrecher“ – wohlwissend, dass die Gemeinten mithören. „Meine Mutter interessiert sich aber auch mehr denn je für die politische Entwicklungen auf der Welt. Also reden wir über die Wahlen in den USA, den Rechtsruck in Deutschland und die Demonstrationen dagegen. Und manchmal streiten wir auch. Dann ist es ein ganz normales Mutter-Tochter-Gespräch.“

Zweimal schon sah es so aus, als hätte Mariam Claren es geschafft. Als hätte der öffentliche Druck, den sie zusammen mit anderen aufbauen konnte, gereicht. Zweimal durfte Nahid Taghavi das Gefängnis verlassen. Im Juli 2022 wurde ihr ein medizinischer Hafturlaub gewährt. Im Januar dieses Jahres kam sie mit der Auflage einer elektronischen Fußfessel frei und musste sich in einem Umkreis von 1 000 Metern rund um ihre Wohnung aufhalten. „Solche Maßnahmen gehen oft einer endgültigen Entlassung voraus“, weiß Mariam Claren. Dass ihre Mutter jedoch erneut ins Gefängnis musste, sei völlig überraschend gekommen.

Regelmäßig tausche sie sich mit dem Auswärtigen Amt aus und stehe auch in Kontakt mit verschiedenen Parteien. Es gibt ein Foto, auf dem die Bundestagspräsidentin Bärbel Bas ein Bild Nahid Taghavis in den Händen hält. Sie hat im vergangenen Jahr eine Patenschaft für die Frauenrechtlerin übernommen. Was all das allerdings bringen wird, ob und wann ihre Mutter freikommen könnte, ist dennoch nicht abzusehen. 

Was Mariam Claren in dieser zermürbenden Situation Hoffnung gibt und Mut macht, klingt im ersten Moment bizarr: Auf eine Art sei ihre Mutter an einem besonderen Ort. Denn sie habe dort Menschen um sich, denen sie im gewöhnlichen Leben kaum begegnet wäre: politisch Gefangene, Aktivistinnen, die sich für das Klima engagieren, die für Frauenrechte ihre Stimme erheben. Ihre Zellennachbarin ist Friedensnobelpreisträgerin Narges Mohammadi. „Und all diese Menschen inspirieren sich gegenseitig. Ich habe den Eindruck, dass meine Mutter im Gefängnis mental noch stärker geworden ist.“

Mit Veto geben wir dem Aktivismus im Land eine mediale Bühne. Warum? Weil es Zeit ist, all jene zu zeigen, die sich einmischen. Unser Selbstverständnis: Journalismus mit Haltung. Du kannst uns mit einer Spende unterstützen: DE50 4306 0967 1305 6302 00 oder via PayPal.

Weiterlesen

Aufklärerisch — Melina Borčak

Melina Borčak spricht von „Erinnerungskultur am Limit“, erklärt, warum der Genozid in ihrer Heimat Bosnien keine Rolle in unseren Geschichtsbüchern spielt – und warum Medien ein Problem mit Fehlerkultur haben.

#Heimatliebe — Caspar Weimann

Die Narrative der „Neuen Rechten“ spielerisch durchschauen und ihre Codes in den sozialen Netzwerken erkennen – das ist die Idee des Handyspiels Loulu. Wie Caspar Weimann Theater in digitale Räume bringt.

Abtreibung in Begleitung — Hannah

Mehr als 100 000 Schwangerschaftsabbrüche wurden 2022 vorgenommen. Verurteilung erfahren Betroffene meist ungefragt, nach Hilfe müssen sie dagegen suchen. Hannah hilft mit ihrem Netzwerk Abortion Buddy.

Auf den Punkt — Raul Krauthausen

Raul Krauthausen bringt Inklusion klug, innovativ und unbequem zur Sprache – und das seit Jahrzehnten. Er prangert aber nicht nur an, sondern entwickelt progressive Formate, die Beteiligung Realität werden lassen.

Schwaches Leuchten — Faraz Fallahi

Faraz Fallahis Leben spielt sich hinter abgedunkelten Fenstern ab. Er kann das Bett nicht verlassen. Fallahi lebt mit ME/CFS, einer schweren neuroimmunologischen Erkrankung. Als Aktivist schafft er eine Lobby für Betroffene.

Journalismus mit Haltung

Mit Veto geben wir Aktivismus eine mediale Bühne und stellen all jene vor, die für Veränderung etwas riskieren. Veto ist die Stimme der unzähligen Engagierten im Land und macht sichtbar, was sie täglich leisten. Sie helfen überall dort, wo Menschen in Not sind, sie greifen ein, wenn andere ausgegrenzt werden und sie suchen nach Lösungen für gesellschaftliche Probleme.

Mediale Aufmerksamkeit aber bekommen ihre mutigen Ideen nur selten. Das muss sich ändern – und Aktivismus endlich raus aus der Nische! Die Aktiven brauchen vor eine starke Stimme und Wertschätzung für ihre Arbeit. Mit Veto machen wir Engagement sichtbar und zeigen denen, die finden, dass es nun höchste Zeit ist, sich einzumischen, wie es gehen kann. Unsere Botschaft an alle Gleichgesinnten da draußen: Ihr seid nicht allein!

Mit Print gescheitert?

Veto gab es bis Sommer 2022 auch als gedrucktes Magazin. Doch die extrem gestiegenen Preise für Papier, Druck und Vertrieb wurden für uns zur unternehmerischen Herausforderung. Gleichzeitig bekamen wir Nachrichten aus der Community, dass sich viele ein Abo nicht mehr leisten können. Wir waren also gezwungen, das gedruckte Magazin nach insgesamt zehn Ausgaben (vorerst) einzustellen.

Aber – und das ist entscheidend: Es ist keinesfalls das Ende von Veto, sondern der Beginn von etwas Neuem. Denn in Zeiten multipler Krisen wird Veto dringend gebraucht. Um Hoffnung zu geben, zu verbinden, zu empowern und zu motivieren. Deshalb machen wir alle Recherchen und Porträts kostenfrei zugänglich. Denn: Der Zugang zu Informationen über Aktivismus und Engagement darf keinesfalls davon abhängen, was am Ende des Monats übrig ist.

Transparenzhinweis

Veto wird anteilig gefördert von der Schöpflin Stiftung, dem GLS Treuhand e.V., dem Presse- und Informationsamt der Bundesregierung und der Bürgerstiftung Dresden. Bis 2022 war auch die ZEIT STIFTUNG BUCERIUS beteiligt. Der Aufbau der Webseite wurden realisiert durch eine Förderung der Amadeu Antonio Stiftung (2019) und des Förderfonds Demokratie (2020).

Du kannst uns mit einer Spende unterstützen: DE50 4306 0967 1305 6302 00 oder via PayPal.