Text: Andrea Schöne — Fotos: Johanna Lohr
Als Anouschka Doinet vor dreißig Jahren in ihre Münchner Wohnung zog, befand sich dort unter dem Dach noch ein Taubenschlag. „Im Haus gab es einen Lebensmittelladen, der auch Taubenfleisch verkaufte“, erinnert sie sich. Gurrend und flatternd bevölkern die Vögel die Städte unverändert – nur werden sie dafür längst nicht mehr geschätzt. Stadttauben gelten vielen als schmutzige Plagegeister. Bevor sich Anouschka Doinet dem Schutz der ehemaligen Kulturtiere verschrieb, war auch sie vorurteilsbehaftet: „Ich dachte, das sind Wildtiere, die in der Stadt leben, weil es da tolles Futter gibt“, gesteht sie.
Die Taube begleitet den Menschen als Nutztier nachweislich seit über 5000 Jahren. Ihr Kot wurde als Dünger geschätzt und verkauft, ihr Zugverhalten für den Postversand genutzt. Eier und Fleisch galten als Delikatesse. Noch heute zeugen die prächtigen Taubentürme in Ägypten, dem Nahen Osten und Kleinasien von der Domestizierung des Wildvogels.
In vielen Religionen steht die Taube für Reinheit und Liebe – eine Symbolik, die den Niedergang der Taubenhaltung während der Industrialisierung nicht bremste. Kunstdünger löste schließlich den natürlichen Guano ab, Taubenschläge wichen den Hühnerkäfigen der Massentierhaltung. Aus der einst fruchtbaren Beziehung zwischen Haustaube und Mensch blieben die verwilderten Stadttauben als Waisen zurück.
Seit die Taube kaum mehr wirtschaftlichen Nutzen in der westlichen Welt habe, sei sie zum Schädling erklärt worden, erzählt Doinet. Somit stehe ihr Schicksal sinnbildlich für das vieler Ausgestoßener und Andersartiger in der Gesellschaft. Mit ihrem Engagement möchte die Tierschützerin etwas zurückgeben: „Dieses Tier haben wir gezüchtet, um es zu benutzen. Jetzt sind wir mal ein bisschen nett und revanchieren uns, indem wir es versorgen.“
Nothilfe und Aufklärungsarbeit
Anouschka Doinet arbeitet als Sängerin und Schauspielerin. Durch eine Gesangsschülerin, deren Mutter selbst Stadttauben pflegt, erfuhr sie mehr über die Tiere. Völlig schockiert von deren Leid, schloss sich Doinet der Münchner Taubenhilfe an, die damals als loser Verbund Engagierter existierte. Innerhalb der letzten vier Jahre pflegte die Tierschützerin über 51 Tauben bei sich zu Hause gesund. Inzwischen ist sie Vorsitzende eines Taubenschutzvereins, den sie gemeinsam mit weiteren fünf Mitgliedern der Taubenhilfe gründete.
Eine ihrer Hauptaufgaben ist Aufklärung. Vorurteile seien immer noch stark in den Köpfen der Menschen verankert: Der Kot der Tiere greife die Gebäudesubstanz an – ein häufig genutztes Argument von sogenannten Vergrämungsfirmen, welche an der Vertreibung der Tiere Geld verdienen. „Da gibt es schon Gerichtsurteile, die untersagen dieses Argument.“ Der Deutsche Tierschutzbund bestätigt das. Tauben fressen eigentlich Körner, die sie in der Stadt nicht ausreichend finden. Die Ernährung von Abfällen verursacht den flüssigen Hungerkot. Dieser sehe zwar nicht vorteilhaft aus, bringe aber auch keine Wand zum Einstürzen, so Doinet.
Für ihre Arbeit erfahre sie im Alltag offene Anfeindungen. Leute würden schreien und schimpfen, erzählt sie. „Das ist schon krass, welche Aggressionen mir da manchmal entgegenschlagen.“ Die Nachfahren der wilden Felsentaube finden in Mauernischen und Gesimsen der Städte einen Lebensraum, der ihrem natürlichen im Mittelmeerraum ähnlich ist. Notgedrungen ernähren sie sich von Essensresten, besiedeln Bahnhofshallen, Parks und Einkaufspassagen – nicht nur zum Leidwesen des Menschen, sondern auch zu ihrem eigenen: „Viele Tiere sind mangelernährt oder haben deformierte Füße, weil sich Haare oder Fäden um ihre Zehen gewickelt haben und diese abschnüren.“ Andere Tauben kommen nach Kollisionen mit gebrochenen Flügeln oder Beinen zu ihr. Bis zu fünf Notfälle sind es täglich.
„Die Pflegestellen sind immer voll“, erzählt Taubenschützerin Doinet. „Kaum ist eine raus, kommen die nächsten.“ Sind die Versehrten eingefangen, kommen sie zuerst in tierärztliche Behandlung, wo sie Medikamente und Schmerzmittel erhalten. Wie lange die Pflege dauere, hänge von der Verletzung ab. „Ein gebrochener Knochen braucht ungefähr drei Wochen Pflege. Manche Tauben müssen auch eingeschläfert werden, weil ihre Verletzungen zu schlimm sind.“ Die „Krankenzimmer“ in den eigenen vier Wänden sind Hundepflegeboxen, die mit Küchenpapier ausgelegt werden. Ehrenamtliche Hilfe von Privatpersonen werde an dieser Stelle immer gebraucht, so Doinet.
Gips-Attrappen für Tierschutz
Im Idealfall werden die Tiere nach ihrer Genesung zurück an den Fundort gebracht. Manche können aber auch nach der Pflege nicht mehr fliegen oder haben andere Einschränkungen. Sie werden an Tierschutz- oder Gnadenhöfe weiter vermittelt. „Die Notfälle fressen einen total auf. Ich kann mich um nichts anderes mehr kümmern, weil das Telefon nur noch klingelt.“ Deshalb setze sich Doinet mit dem Verein mittlerweile verstärkt für Lösungen ein, die langfristig Verbesserungen bringen könnten.
Die Zahl der Stadttauben muss kleiner werden – in diesem Punkt sind sich Stadtverwaltung und Taubenschützende einig. Der beste Weg dazu sei das sogenannte Augsburger Taubenschlagmodell, befindet nicht nur Doinet. In eigens aufgestellten Taubenschlägen im Stadtgebiet werden die Tiere artgerecht mit Körnern gefüttert und zum Nisten animiert. Die Eier in den Gelegen werden gegen Gips-Attrappen ausgetauscht, um die Population einzudämmen und damit Tierleid zu verhindern.
Auch die Stadt München beschloss, das Augsbuger Modell umzusetzen. Jedes Jahr solle es offiziell zwei neue Taubenschläge geben, Geld sei bereitgestellt. Eine Priorität hätten diese allerdings nicht wirklich, ist Doinets Eindruck. Es gebe keine geeigneten Standorte, argumentiere die Stadt. Die Taubenschützerin sieht diese in den S- und U-Bahnhöfen, wo sich besonders viele Tauben aufhalten. Auch Gebäude mit Flachdächern oder Kirchen eigneten sich bestens. Allein, es komme auf die Bereitschaft an.
In der Bevölkerung wachse das Verständnis für die Stadttauben langsam, aber stetig, stellt Doinet fest. Kürzlich seien die Tiere Thema auf einer Münchener Haustiermesse gewesen. Auch Medienberichte widmen sich verstärkt den verkannten Kulturtieren. Vielleicht könnte die Taube Symbol eines historischen Friedens werden, hofft Anouschka Doinet – geschlossen zwischen dem Menschen und ihrer eigenen Art.
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