Text: Laura Catoni — Fotos: Illary Laura Palmisano
„Das Mittelmeer ist für uns ein Urlaubsparadies, wir gehen dort baden und alles ist toll“, sagt Veronika Dimke. „Für andere ist es ein riesiges Massengrab.“ Anfang September nehmen sie und 150 weitere Engagierte mit 13 Segelschiffen Kurs auf Lampedusa. Die italienische Insel zwischen Tunesien und Sizilien ist jedes Jahr Anlaufpunkt für Tausende Schutzsuchende aus Afrika auf ihrem Weg zum europäischen Festland.
Die Welt blickt dieser Tage auf die deutlich größere Global Sumud Flottilla, die auf dem Weg nach Gaza ist, um Hilfsgüter in den abgeriegelten Küstenstreifen zu bringen. Die f.Lotta mit Veronika Dimke segelt zur selben Zeit los, um ein Zeichen gegen Europas Grenzpolitik zu setzen. Die Aktion gedenkt auch den Zehntausenden, die in den letzten Jahren auf ihrer Flucht im Mittelmeer ertrunken sind. Jedes Boot der 13 Boote steht für eine Kampagne mit unterschiedlichem Schwerpunkt: die Befreiung Palästinas, gegen den Aufstieg der extremen Rechten oder das Ende der Erdgasförderung. Was alle Themen eint, ist die Forderung nach Bewegungsfreiheit für alle.
Wegsehen mit Todesfolge
Die Telefonverbindung ist schlecht, als Veronika Dimke Anfang September von Italien aus in Deutschland anrufen will. Erst mit dem Handy eines Bekannten kommt sie durch. „Wir wollten eigentlich heute starten, aber wegen des Wetters fahren wir erst morgen los“, beschreibt die 51-jährige Kunstschaffende aus Köln. Sie sitzt an Deck eines Segelschiffs im Hafen der sizilianischen Gemeinde Mazara del Vallo. Die letzte Nacht sei so stürmisch gewesen, dass sich der Anker ihres Schiffs vom Grund gelöst habe und verloren gegangen sei.
Keine guten Vorzeichen für das neue internationale Bündnis, das unter dem Namen f.Lotta die bislang größte Protestaktion auf dem Mittelmeer plant. Der Name verbindet das deutsche Wort „Flotte“ mit dem italienischen Wort „lotta“, was übersetzt Kampf bedeutet.

Eine Woche später, am 14. September um 11:47 Uhr meldet sich Dimke erneut: „Wir mussten mit einem anderen Schiff losfahren und sind gut auf Lampedusa angekommen“, erzählt sie in einer Sprachnachricht. Und zwei Stunden später: „Wir planen heute eine Aktion, bei der sich alle Schiffe genau an der Stelle versammeln werden, wo sich 2013 eine schreckliche Tragödie zugetragen hat.“ Wobei Tragödie eigentlich das falsche Wort sei, findet Dimke.
Es gehe hier schließlich um ein „gewolltes Wegsehen“ von politischer Seite, ergänzt sie. Dass Flüchtende zurückgelassen würden, um im Mittelmeer zu ertrinken, werde in Kauf genommen. „Wir wollen allen zeigen, dass wir diese Menschen nicht vergessen haben.“ Ihre Stimme bricht ab, als sie von den Zurückgelassenen spricht – ein kurzer Moment der Stille am anderen Ende der Leitung. Dimke entschuldigt sich.
Mit der Fähre nach Europa
Am 3. Oktober 2013 sank vor der Küste Lampedusas ein Kutter mit rund 500 Geflüchteten. Die meisten von ihnen kamen aus Somalia und Eritrea. Männer, Frauen und Kinder waren an Bord. Nachdem ein Feuer auf dem Schiff ausgebrochen war, kenterte es. Mindestens 360 starben.
Zahlen der UNO-Flüchtlingshilfe dokumentieren, dass jedes Jahr Tausende Schutzsuchende nach ihrer Flucht über das Mittelmeer als vermisst oder tot gemeldet werden. Mehr als 5 000 Todesfälle gab es allein 2015 – das Jahr, seitdem die Flüchtlingsbewegungen nach Europa rasant zugenommen haben. Das Projekt Missing Migrants zählt seit 2014 im Mittelmeer über 32 700 verschwundene Schutzsuchende. Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen.

Für Dimke ist dieser Zustand kaum auszuhalten. Deshalb hat sie sich schon 2016 der Initiative Alarm Phone angeschlossen. Freiwillige aus Europa, Tunesien und Marokko nehmen Notrufe für in Seenot geratene Geflüchtete entgegen und leiten die Koordinaten an die Küstenwache oder das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen weiter. Dimke, die lange selbst am Hörer saß, trainiert inzwischen neue Helfende für den Telefondienst.
Ginge es nach ihr, stünde allen Menschen auf ihrer Flucht nach Europa ein Platz auf einer Fähre zu. „Unsere Forderung ist skandalös einfach“, erklärt sie. „Es kann nicht sein, dass wir in Europa für 50 Euro ein Fährticket nach Tunis bekommen und Menschen ohne europäischen Pass für eine Fahrt in einem nicht seetauglichen Boot oft mit ihrem Leben bezahlen müssen.“
Blick auf Flucht ist negativ
Diesen Punkt macht Dimke auch bei der Mittelmeer-Besetzung vor Lampedusa stark. Sie hat ein vier Meter langes Banner an einem der 13 Schiffe angebracht: „Ferries not Frontex“, auf Deutsch: Fähren statt Frontex. Seenotrettungsinitiativen werfen der EU-Grenzschutzagentur seit Jahren Menschenrechtsverletzungen und eine intransparente Arbeitsweise vor.
Das Motiv des Banners hat Dimke selbst entworfen. Es zeigt drei Erwachsene und ein Kind mit Koffern, die an der Reling einer Fähre stehen und in die Ferne blicken. Mit ihrer Kunst will sie Stereotype aufbrechen: „keine gequälten Menschen auf einem Schlauchboot malen, sondern die Flüchtenden in Würde abbilden“. Ihr geht es um eine sichere Alternative zur oftmals tödlichen Route über das Mittelmeer und um ein positives Bild von Flucht. Geflüchtete seien keine Opfer ihrer Umstände, sagt sie, sondern „Menschen, die Grenzen überwinden“.

f.Lotta ließ sich bei der Planung des Protests vom „Marsch der Hoffnung“ inspirieren. In der Nacht auf den 4. September 2015 nahmen rund 1 000 Menschen, vor allem aus Syrien, ihr Schicksal selbst in die Hand. Weil Ungarns Regierung die Geflüchteten an ihrer Weiterreise nach Wien hinderte, machten sie sich zu Fuß auf den Weg nach Österreich und schließlich weiter nach Deutschland. Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte im Vorfeld zugesagt, die Betroffenen aufzunehmen, statt die Grenzen zu schließen.
Merkels berühmter Appell
Zehn Jahre sind seit Merkels Appell „Wir schaffen das“ vergangen. Die politische Stimmung hat sich inzwischen grundlegend verändert. Die Zeit der Willkommenskultur, deren Geist sich damals über die Aufnahmen von klatschenden Ehrenamtlichen am Münchner Hauptbahnhof und dem berühmt gewordenen Selfie von Angela Merkel und dem Syrer Anas Modamani vor einer Berliner Geflüchtetenunterkunft medial verbreitete, scheint vorbei.
Die Alternative für Deutschland, die im November 2023 bei einem Geheimtreffen in Potsdam Deportationspläne für migrantische Menschen schmiedete, liegt in Umfragen gleichauf mit der Union. Die CDU selbst versprach im Bundestagswahlkampf eine Migrationswende, führte in den vergangenen Monaten Grenzkontrollen an allen deutschen Landesgrenzen ein und setzte in der Koalition mit der SPD den Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte aus.

Parallel dazu hat die EU ihr Gemeinsames Europäisches Asylsystem (GEAS) reformiert. Die neue Version soll irreguläre Migration begrenzen und Asylverfahren vereinheitlichen. In der Praxis bedeutet das etwa deutliche Verschärfungen im Umgang mit Schutzsuchenden. So sieht die Reform für Geflüchtete unter anderem ein „Sicherheitsscreening“ an den EU-Außengrenzen vor, außerdem ein beschleunigtes Asylverfahren in Lagern mit haftähnlichen Bedingungen.
Veronika Dimke bereiten diese Entwicklungen Sorgen. Resignation allerdings ist für sie nicht denkbar. „Wir müssen uns gegen den Rechtsruck positionieren.“ Ihren Aktivismus finanziert sie teils über ihre Kunst, teils mit Bürgergeld. Die Sparpläne der Union und Sanktionen gegen „Totalverweigerer“ würden sie deshalb nur noch wütender machen.
Momente voller Solidarität
Es ist Punkt 11 Uhr am 24. September. Veronika Dimke meldet sich zum ersten Mal aus Köln. Am Telefon erzählt sie, dass ihr der deutsche Kälteeinbruch nach fast zwei Wochen brütender Hitze auf dem Mittelmeer zusetze. Doch sie klingt zufrieden. Anfangs habe sie gezweifelt, ob die Koordination so vieler, unterschiedlich schneller Schiffe gelingen würde. Doch am Ende sei alles gut gegangen – „ein bisschen wie Wasserballett“.
Was besonders prägende Momente auf ihrer Reise waren? Dimke erzählt von Straßenhändler Giovanni. Dieser habe bei einer ihrer Kundgebungen auf Lampedusa plötzlich das Transparent mit der Aufschrift „Ferries not Frontex“ gegriffen und energisch nach oben gehalten. „Seine Kollegen schauten ihn ungläubig an. Ob er verstehen würde, was darauf geschrieben stand? Er versicherte, das zu tun. Er wollte Solidarität zeigen.“ Dieser Moment habe ihr gezeigt, dass viele andere Menschen mit ihr für die gute Sache kämpfen. „Die Reise hat mir wieder Hoffnung gegeben und damit bin ich nicht allein.“
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