Heilend — Therapie mal anders

Rassismus und geschlechtsspezifische Gewalt sind für Menschen, die in der Psychotherapie arbeiten, oft Leerstellen. Eine Dresdner Hochschulgruppe will vor allem Betroffenen mehr Raum geben. Sie spricht an, was im Studium fehlt.
10. Juni 2025
5 Minuten Lesezeit
Text: Laura Catoni — Fotos: Franziska Kestel

260 Kliniken für Psychosomatik, 400 Fachkrankenhäuser für Psychiatrie und Psychotherapie, 48 000 Fachkräfte im Bereich der Psychotherapie – das sind die nüchternen Zahlen zu einem System, das jedes Jahr Millionen Menschen mit Depressionen, Angststörungen oder anderen seelischen Erkrankungen behandelt. Und obwohl das System in vielen Fällen erfolgreich ist, arbeiten fünf Dresdner Psychologie-Studierende an einem Update. Sie sitzen spätabends bei einer Kanne Tee in einer Dachgeschosswohnung in Sachsens Landeshauptstadt zusammen.

„Menschen aus der Psychologie werden herangezogen, wenn es medial um gesellschaftliche oder politische Themen geht. Der Fachbereich selbst beschäftigt sich kaum damit“, meint Lea Franz. Die 24-Jährige gehört zur 2019 gegründeten Dresdner Hochschulgruppe „Therapie mal anders“. Ähnliche Initiativen gibt es mittlerweile auch in Köln, Münster, Göttingen und Trier.

Sie alle wollen der Perspektive von Betroffenen mehr Raum geben und das eigene Fach auf den Prüfstand stellen. Inwiefern reproduziert das therapeutische Personal selbst Rassismus oder Sexismus? Welchen Einfluss hat die Klimakrise auf unsere Psyche? Werden Burnout und Depression durch den Kapitalismus befördert? Darauf suchen die Studierenden Antworten.

Zwar gibt es mittlerweile auch Universitäten, die Themen wie Rassismus und Sexismus in der Psychologie Raum geben – und manche Praxen verfolgen einen diskriminierungssensiblen Ansatz, vor allem in Großstädten wie Berlin und Hamburg. Doch sind es weiterhin Ausnahmen.

Lea Franz und ihre Mitstreitenden von „Therapie mal anders“ wollen es zur Regel machen und organisieren deshalb jedes Semester eine Veranstaltungsreihe, die sich kritisch mit Aspekten der Psychotherapie auseinandersetzt. Mit kostenfreien Vorträgen, Workshops oder Lesungen richtet sich die Gruppe besonders an Menschen mit Psychologiebezug, aber genauso an alle anderen Neugierigen. Zu den Referierenden gehören die Psychiaterin und Supervisorin Amma Yeboah, die Traumaexpertin Luise Reddemann und Psychotherapeutin Lucía Muriel.

Ein neuer Blick auf die Lehre

Die neuen Veranstaltungen laufen schon seit Ende Mai. Letzte Fragen zur Organisation wurden vorab im Plenum geklärt, das heute in der Dachgeschosswohnung von Gruppenmitglied Susa Langer stattfindet. Auf dem Boden liegen Stifte, Notizzettel, ein Terminplaner und in der Mitte die Kanne Tee, die Langer für die anderen gekocht hat. Auf einem Hocker steht ein Laptop, von dessen Bildschirm Mitstreiterin Elisa Freyberg den anderen zuwinkt. Freyberg ist aktuell im Praktikum in einer psychosomatischen Klinik in Bayern. Die erste Woche sei intensiv gewesen. Sie wirkt müde. Trotzdem hat sie sich heute dazugeschaltet.

Wenn keine Prüfungszeit ist oder nicht gerade eine Erkältung auskuriert wird, bringen die Engagierten mehrere Stunden pro Woche für ihren Aktivismus auf. Allein das Plenum jeden Donnerstagabend dauert oft zwei Stunden. Zwischen den Treffen gilt es, Referierende für die Workshops und Vorträge zu akquirieren, Räume zu finden, Plakate für die Veranstaltungen zu designen und diese auch in der Stadt zu verteilen. Daneben sind Fördermittel zu beantragen, um Referierende zu bezahlen, Protokolle zu schreiben, die Kanäle bei Social Media zu pflegen.

„Das, was wir hier machen“, fasst Lea Franz zusammen, „brauche ich, um die Psychotherapie weiter als berufliche Perspektive für mich zu sehen. Durch den Austausch in der Gruppe und mit den Referierenden bin ich wieder neugierig auf mein Fach geworden und habe gefunden, was mir im Studium fehlt.“

Helena Schlendermann sieht es ähnlich. Die 26-Jährige ist zeitgleich wie Lea zu „Therapie mal anders“ gekommen, nachdem sie durch Zufall davon erfahren hatte. „Ich war damals auf der Suche nach einer Möglichkeit, mich politisch zu engagieren und brannte für Psychologie und Psychotherapie. Bei ‚Therapie mal anders‘ konnte ich beides miteinander verbinden.“

Geht es nach Uli Heidemann, braucht es mehr solche Initiativen, damit sich in der Fläche was verändert. Als Anti-Rassimus-Trainer sensibilisiert der Psychotherapeut und Supervisor aus Hamburg Menschen aus seinem Kollegium für das Thema und bietet Empowerment-Kurse für Therapierende an, die von Rassismus betroffen sind. „Rassismussensible Psychotherapie ist überfällig in Deutschland“, erklärt Heidemann. Er nehme eine zunehmende Offenheit für das Thema war, aber: „In der Forschung werden Rassismus und strukturelle Diskriminierung als gesundheitlicher Risikofaktor bisher kaum berücksichtigt.“ Der Fokus liege stattdessen auf „kultureller Differenz“ oder „Migrationshintergrund“, was die eigentliche Debatte verwässere. 

Das Andere pathologisieren

Auch in der Lehre, die mehrheitlich weiß sei, sieht Heidemann dringenden Handlungsbedarf. Lehrstühle müssten sich diverser aufstellen und die Auseinandersetzung mit Privilegien und institutionellen Machtverhältnissen dürfe nicht länger von dem Einsatz Einzelner abhängen. Eine rassismussensible Psychotherapie gehöre für Uli Heidemann in die Berufsordnung und Curricula. Für Praxen und Kliniken fordert er klare Standards. Nur so könne verhindert werden, was viele Betroffene bis heute erlebten: dass ihre persönlichen Rassismuserfahrungen in der Therapie bagatellisiert oder ignoriert würden. „Das erschüttert das Vertrauen in ein System, das eigentlich Heilung ermöglichen soll“, sagt Heidemann. 

Wie mit Menschen in der Therapie umgegangen wird, die nicht der Mehrheitsgesellschaft angehören, hat auch Helena Schlendermann beobachtet. Sie erinnert sich an ein Praktikum in einer Klinik, die eine nicht-binäre Person behandelte: „Das hat unglaublich viel Unsicherheit im Team ausgelöst. Eine Ärztin weigerte sich, die Person so anzusprechen, wie die es wollte.“ Geht es um psychisch Erkrankte, die in gleichgeschlechtlichen oder Polybeziehungen lebten, komme es zudem immer wieder vor, dass Therapierende deren Beziehungsmodell mit deren Störungsbild in Verbindung brächten. „Da werden Dinge pathologisiert, weil die behandelnde Person selbst keinen Bezug dazu hat“, kritisiert Schlendermann. 

Der angehenden Psychotherapeutin geht es bei ihrer Kritik nicht um Verurteilung. Es brauche einen Raum, damit zu behandelnde Personen und Mitarbeitende Vorfälle ansprechen können, ohne Angst haben zu müssen, den Job zu verlieren oder nicht ernst genommen zu werden. 

Dass dieser Raum bis heute fehlt, sieht auch Bettina Zehetner. Die Philosophin und Autorin ist Vorständin der feministischen psychosozialen Beratungsstelle „Frauen* beraten Frauen*“ in Wien, die in der Arbeit gesellschaftliche Machtverhältnisse mitdenkt und kritisch hinterfragt. „Wir haben immer wieder Frauen in der Beratung, die teils jahrelang in psychotherapeutischer Betreuung waren, in der aber psychische oder ökonomische Gewalt in der Partnerschaft nie als Gewalt eingeordnet wurde. Stattdessen wurde ihnen geraten, an sich und ihrer Beziehung zu arbeiten, anstatt sie zu ermutigen, dem Partner gegenüber klare Grenzen zu ziehen.“

Gendersensible Behandlung

Bettina Zehetner sieht darin einen Beweis für eine Leerstelle, die die Psychotherapie beim Thema Gender und Gewalt immer noch hat. Das Interesse an gendersensibler Therapie sei in den vergangenen Jahren zwar gestiegen, doch es gebe bis heute kaum Ausbildungsinstitute, die sie verpflichtend anbieten. Dabei sei gerade für Therapierende eine kritische Reflexion von Geschlechterstereotypen unabdingbar. Das helfe nicht nur Frauen: „Geschlechterkritisch zu handeln ermöglicht Erkrankten mehr Handlungsfreiheit. So können sie menschlich sein statt nur männlich oder weiblich. Das schafft letztlich mehr psychische Gesundheit für alle.“

Mit der Reform der Psychotherapieausbildung wurde 2019 in Deutschland festgeschrieben, dass The­rapierende die „menschliche Diversität in Bezug auf Gender, Ethnie beziehungsweise Kultur, sexuelle Orientierung, Beeinträchtigung“ berücksichtigen können müssen. Das lässt vermuten, dass der Status Quo der Psychotherapie noch weit entfernt ist von jener Vision, die Lea Franz, Helena Schlendermann und die anderen von „Therapie mal anders“ haben. 

Auf dem Weg dorthin plädiert die Gruppe für eine Fehlertoleranz. Denn es sei nicht möglich, dass Therapierende von vornherein jede Lebensrealität und jede Diskriminierungserfahrung sofort auf dem Schirm hätten, betont Lea Franz. Das gilt auch für die Hochschulgruppe selbst: Wie können wir Veranstaltungen barriereärmer gestalten? Wie kann ein Awareness-Konzept aussehen, in dem sich alle Teilnehmenden wohlfühlen? Auch darum geht es in den Plena.

Für Helena Schlendermann ist klar: Nur wer seinen Anspruch auf Allwissenheit ablege und auch die Auseinandersetzung mit ungemütlichen Themen nicht scheue, könne das Potenzial der Psychotherapie, das in der täglichen Begegnung mit unterschiedlichen Menschen liege, voll ausschöpfen. „Und gerade diese Begegnung“, sagt sie, „ist ja das Schöne an dem Beruf.“

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