Text: Fabian Dombrowski — Fotos: Timo Knorr
Sonja „Schwessi“ Schwabe sitzt an einem sonnigen Nachmittag auf einer Bank vor einer Bar im quirligen Hamburger Szeneviertel Ottensen. Neben ihr ein Becher Kaffee, vor ihren Füßen tollt Chihuahua-Hündin Talula. Und es dauert nicht lange, da werfen vorbeilaufende Menschen Schwessi Komplimente zu: „Schicke Hose“, meint eine junge Frau. Ein Mädchen bewundert mit schüchtern-neugierigem Blick die „schöne Haarfarbe“.
Hose und Haare leuchten in dunklem Lila, um Schwessis Augen glitzert es. In drei Stunden wird sie hier auf der Bühne der Mathilde Bar „Smash Comedy“ moderieren. Die queerfeministische Show hatte sie im April 2023 erdacht. Mittlerweile präsentiert Schwessi – ihren Künstlerinnen-Namen lässt sie sich gerade in den Personalausweis eintragen – mehrmals im Monat vor allem weibliche und queere Comedy-Acts. Bald schon finden die Auftritte vor einem deutlich größerem Publikum im Theater „Centralkomitee“ nahe des Hamburger Hauptbahnhofs statt.
Seit Kurzem läuft „Smash Comedy“ außerdem in Köln, weitere Städte sind in Planung. In den Aufbau und die Organisation des Formats steckt Schwessi viel Energie, Liebe und auch Geld – bislang alles ehrenamtlich. Das Patriarchat zerschlagen – ausgerechnet mit Comedy?
„Comedy hat etwas Empowerndes“, macht Schwessi deutlich. „Diese Perspektive erlaubt uns, die Welt und unser Leben nicht mehr ganz so ernst zu nehmen und darüber zu lachen.“ Dabei ist Humor für Schwessi mehr als nur Eskapismus: „Wir sprechen an, was im System falsch läuft und uns als Menschen, die nicht zur Dominanz-Gesellschaft gehören, verletzt. Über die zu lachen, die uns unterdrücken, ist eine Form der Selbstermächtigung – und befreiend.“
Auch ihre eigene Geschichte handelt von Freiheit. Von Sinnsuche, Orientierungslosigkeit und Rausch. Es ist eine Abenteuergeschichte irgendwo zwischen thailändischem Dschungel und Hamburger A-Prominenz. Und ein bisschen ist es auch ein Märchen.
Heimat als Gefängnis
Aufgewachsen ist sie in einem kleinen fränkischen Dorf: Bildungsbürgertum, die Eltern waren Lehrkräfte. Schnell fühlt sie sich dort einsam und fremd. „Wie ein Gefängnis“ erschien ihr die Heimat irgendwann. Ihr Tor zur Welt ist die Musik. Mit etwa elf Jahren entdeckt sie Nina Hagen, Ton Steine Scherben, Udo Lindenberg. Später auch die Fantastischen Vier und Nena. „Durch die Musik und die deutschen Texte habe ich einen anderen Blick auf die Gesellschaft und auf das System, in dem wir leben, bekommen“, fasst sie zusammen.
Und schon früh beginnt sie, auf Konzerte zu gehen: Disco, Schützenfest, Coverbands. Auf dem Dorf heißt das auch: trinken, trinken, trinken. „Alkohol gehörte fest zur Kultur“, meint Schwessi. „In meiner Klasse hatten einige schon mit zwölf ihren ersten Vollrausch, ich dann so mit 15. Es war normal, sich ins Koma zu saufen.“


Mit 16 spielt sie E-Gitarre in ihrer ersten Band und singt Pink Floyd, Rolling Stones oder Marius Müller-Westernhagen. Sie besucht antifaschistische Treffen, Punk-Konzerte und Demos. Die Rebellion habe da schon in ihr gesteckt, genährt durch Literatur. Jede Woche, erinnert sich Schwessi, verschlingt sie damals einen Stapel Bücher – besonders die von Hermann Hesse. In seinen Werken entdeckt sie vor allem die Themen Selbstfindung und Selbstbestimmung.
Zum Studieren geht es schließlich raus aus dem Dorf. Erst nach Bamberg, dann weiter nach Frankreich. Doch Literatur und Musik treten zunehmend in den Hintergrund. „In meinen ersten Studienjahren habe ich eigentlich nur gekifft und gesoffen und wenig sinnvolle Dinge getan.“ Der Suizid ihres besten Freundes änderte alles. „Der Schock und die Schuldgefühle waren so heftig. Ich hatte monatelang einfach nicht mitbekommen, wie schlecht es ihm ging.“
Als sie daraufhin über ein Jahr lang vergeblich versucht, vom Alkohol wegzukommen, begibt sich Schwessi schließlich in Therapie. Erst dann kehrt auch die Musik langsam zurück in ihr Leben. Und sie fasst den Entschluss, in den kommenden Jahren alles auszuprobieren, worauf sie Bock hat. Backpacking in Australien zum Beispiel.
Flucht aus dem Alltag
In Australien trifft sie wiederum auf mehrere Frauen, die ihr von Thailand vorschwärmen. „Sie haben gesagt: ‚Wenn du auf Reisen gehen willst, fang in Thailand an, da bist du als Frau safe‘.“ Daraufhin kündigt Schwessi ihre Wohnung, verkauft ihr Auto, verschenkt ihren Besitz. Sie fliegt mit Rucksack, Gitarre und One-Way-Ticket auf den asiatischen Kontinent. Was sie dort erfährt, nennt sie ein „ultimatives Freiheitsgefühl“.
„Ich konnte in jedem Moment neu entscheiden, was ich will und was mir gut tut“, erinnert sich Schwessi. Mit ihren eigenen Bedürfnissen und Grenzen sei sie bis zu dem Zeitpunkt noch nicht wirklich vertraut gewesen. „Aber das Zurückgeworfensein auf mich selbst, in einem fremden Land, in dem ich nicht mal die Sprache sprechen konnte: das war der Hammer!“ Entgegen der ursprünglichen Pläne reist sie deshalb nicht weiter. Sie lernt Thai, taucht in den Buddhismus ein und lässt sich im thailändischen Dschungel von Moskitos zerstechen.
Und sie wird mit ihren eigenen Vorurteilen konfrontiert. „Ich habe die ganze Zeit gedacht: Mein Gott, was bin ich deutsch! Unser Land ist noch immer vom Nationalsozialismus geprägt, diese Gehorsamkeit, das ständige Bewerten und Urteilen – das steckt noch in uns allen drin.“
Irgendwann aber kehrt die Sehnsucht nach der deutschen Kultur zurück. Als sie eines Tages in einem Internetcafé in Chiang Mai sitzt und über Kopfhörer deutsches Radio hört, entdeckt sie auf Udo Lindenbergs Webseite, dass dieser eine kulturpolitische Stiftung gegründet hat, die im Geiste Hermann Hesses steht. „Ich dachte, es kann nicht wahr sein, dass Udo auch Fan von Hesse ist“, erzählt Schwessi. Für sie ist es ein Wink des Schicksals.
Kurzerhand tippt sie eine E-Mail und erzählt ihrem Idol ihre Lebensgeschichte: vom Alkohol, von Thailand, ihrer Liebe zu Hesse, zur Musik und natürlich zu ihm. Und tatsächlich: Lindenberg antwortet ihr noch in derselben Nacht persönlich. Ein paar Wochen später nur treffen sie sich auf einer Party in der Lobby des Hamburger Atlantic Hotels. „Wir haben uns eine Stunde lang unterhalten, er gab mir verschiedene Kontakte und drückte mir schließlich 300 Euro für ein Zugticket nach Stuttgart in die Hand, um zu seiner Stiftung zu kommen.“
An Lindenbergs Seite
Das war 2007, kurz vor Lindenbergs großem Comeback. Und plötzlich hatte sie nicht nur einen, sondern „tausende Jobs“. Die Webseite musste aufgebaut und die Marketing-Maschinerie in Gang gesetzt werden. Schwessi produziert Backstage-Reportagen, führt Interviews, sie dreht Filme über Lindenbergs Tourneen, schreibt mit ihm gemeinsam Songtexte, reist zu „Wetten, dass ..?“ und anderen Fernsehshows. Und wieder betritt sie damit eine neue, ihr fremde Welt.
„Ich wusste am Anfang nicht einmal, wie ich mich anziehen sollte. Ich war überfordert und habe jedes Fettnäpfchen mitgenommen“, erzählt Schwessi. „Aber Udo war das völlig egal. Er hatte volles Vertrauen in meine kreativen Fähigkeiten und ließ mich einfach machen.“
Der Job erlaubt es ihr, die Wintermonate in Thailand zu verbringen – bis sie 2010 unerwartet schwanger wird und daraufhin endgültig nach Hamburg zieht. Die Rolle als alleinerziehende Mutter überfordert sie, körperlich wie mental. Den Udo-Traum wieder aufzugeben, das kam für sie allerdings nicht infrage – im Gegenteil. „Der Job hat mir in der Zeit ganz viel Halt und Kraft gegeben“, sagt sie. „Das war ja das, was ich wirklich machen wollte.“


Um alles logistisch zu wuppen, baut sie sich ein Netzwerk aus Tagesmutter, Leih-Oma, Krippe, diversen Babysittern und anderen Müttern auf. „Oft war ich tagsüber für mein Kind da und habe am Abend und in der Nacht gearbeitet. Klar, dass bald der erste Burnout kam.“
Ein Jahr nach der Geburt ihres Sohnes kommt sie in Kontakt mit gewaltfreier Kommunikation. Schwessi lässt sich über mehrere Jahre zur Seminarleiterin ausbilden, wird Mitgründerin einer freien, demokratischen Schule, berät Familien in Konflikten und gibt Songwriting-Workshops für Kinder und Jugendliche. „So geil ich die Welt der Stars und das Rock’n’Roll-Leben finde: Ich sehne mich auch nach dem Kontakt zur ‚echten Welt‘“, sagt sie. „Ich brauche das Gefühl, dass ich das Leben anderer Menschen bereichern kann.“
Über Liebe und Politik
2019 geht Schwessi mit ihrer eigenen Musik-LP an die Öffentlichkeit, zwei Jahre später folgt das Album „Achtung, Überlebensgefahr“, auf dem sie in dichten, wortverspielten Texten und mit ihrer samtig-rauen Stimme über den Alltag einer alleinerziehenden Mutter rappt: „Hallo Selbstmitleid – für dich hab ich heut‘ keine Zeit“. Oder den Rechtsruck anprangert: „Wir sind das Volk der Patrioten, lassen uns verarschen von rechtspopulistischen Polit-Chaoten“.
Und bei allem politischen Engagement gibt sie auch mal der Liebe den Vorrang: „Wenn sie uns genmanipulieren, werden wir kopulieren“. Lindenbergs harte Liedtexterschule lässt grüßen.
Auf ihren Konzerten baut Schwessi zwischen den Liedern kurze Comedy-Parts ein – und sie merkt: „Leute zum Lachen zu bringen, das will ich öfter!“ Also meldet sie sich bei Hamburgs offenen Bühnen an und testet erstes Material. Nicht selten ist sie dabei die einzige Frau im Line-up. Auch die meisten Veranstaltenden sind männlich, weiß Schwessi, und die männlichen Comedians würden sich untereinander im Vergleich zu den weiblichen Comedians viel stärker unterstützen und vernetzen.
„Wenn ich ein Line-up für meine FLINTA*-Show zusammenstelle, muss ich mich bemühen, nicht immer die gleichen fünf Gesichter auf der Bühne zu haben: Ich muss recherchieren, Kontakte knüpfen, mit Leuten ins Gespräch kommen, auch Geld investieren.“ Schwessi versteht, wenn Veranstaltende den Aufwand und das Risiko scheuten und am Ende doch wieder die Personen einladen würden, die sowieso schon bei ihnen auftreten. Sie mache aber auch die Erfahrung, dass die Kunstschaffenden, die sie anfragt, anschließend auch in anderen Comedyshows auftreten – am Ende würden also alle von den Bemühungen und der Diversität profitieren.
Raus aus der Bubble
Ob Grenzüberschreitungen hinter der Bühne, Mansplaining oder die Angst vor unangenehmen Rufen aus dem Publikum während eines Auftritts – Künstlerinnen würden weiterhin vielerlei Arten von Sexismus erleben. Hinzu kommt, dass weibliche und queere Comedians oft sehr viel kritischer beurteilt würden als Männer. „Frauen müssen mindestens doppelt so gut sein wie ein Typ, um überhaupt die gleichen Chancen zu bekommen“, stellt Schwessi fest.
Die männlich-dominierte Heteronormativität führe wiederum dazu, dass bei Comedyshows meist ein ähnlicher Humor vorherrsche. Schwessi ist längst gelangweilt davon, erzählt sie. „Queere Acts erzählen oft Geschichten, bei denen die Gag-Dichte, die erwartet wird, meist gar nicht möglich ist. Aber wenn eine Person zum Beispiel vom eigenen Coming-out erzählt, bin ich viel mehr mit dem Leben und dem Menschsein verknüpft, als wenn ich eine Person sehe, deren Witze handwerklich vielleicht gut sind, aber ich das Gefühl habe, es wird in erster Linie Schema F reproduziert.“


Über den Humor möchte Schwessi aber auch Menschen außerhalb der queerfeministischen Community erreichen. „Wenn wir nur in unseren eigenen Bubbles bleiben, verhärten sich die Fronten nur viel mehr. Wir nutzen unser eigenes Vokabular, aber damit grenzen wir uns immer weiter ab und werden weniger verstanden. Dabei wollen wir doch gehört werden, mit unseren Werten, unseren Ideen und Visionen.“
Gerade an den Wochenenden kämen auch Hetero-Pärchen und ältere Leute, die erstmal nicht wüssten, worauf sie sich einlassen. Der Abend führe dann aber dazu, dass sich das Publikum mit den Geschichten der weiblichen und queeren Comedy-Acts verbindet. „Vor dir steht ein lebendiger Mensch, du hörst seine persönliche Geschichte und nimmst so fast automatisch dessen Sichtweise ein. Wir sind ja empathische und soziale Wesen. Das ist etwas anderes, als wenn du ein TikTok siehst, das du jederzeit einfach wegwischen kannst.“
An diesem Donnerstagabend sind rund 50 Menschen in die Bar gekommen. Die Reihen sind voll, es ist kurz nach 20 Uhr. Schwessi betritt die Bühne, mit lila Haaren, lila Hose und Glitzer im Gesicht und ordentlich Energie, um das Patriarchat zu „smashen“. Die Show kann beginnen.
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