Text: Jasper von Römer — Fotos: Benjamin Jenak + Stella Weiß
„Menschliche Verbindungen aufbauen“, so beschreibt Sophia die Arbeit im Jenaer Stadtteil Lobeda. Genauer gesagt in Neulobeda, einer Plattenbausiedlung, die seit den Sechzigerjahren südwestlich der einst selbstständigen Stadt Lobeda entstand. Seitdem ist das Viertel mit gut 20 000 Einwohnenden auf nicht einmal vier Quadratkilometern das bevölkerungsreichste der Stadt. Die meisten hier müssen mit geringem Einkommen über die Runden kommen.
Und genau hier wollen Sophia und die anderen Mitglieder der Stadtteilgewerkschaft „Lobeda Solidarisch“ wirken. Für sie steht fest: rechte und konservative Kräfte profitieren von sozialer Ungerechtigkeit und wissen diese auch zu nutzen, um etwa Stimmung gegen Geflüchtete zu machen. Gleichzeitig fühle sich die Mehrheit armer und migrantisierter Bevölkerungsteile von linken Angeboten bislang nicht abgeholt, analysiert Sophia: „Wir wollen diejenigen Menschen ansprechen, die diese Wut verspüren und von rechten Parolen vereinnahmt sind.“
Diese Wut sei berechtigt, findet Sophia. Nur richte sie sich häufig gegen Schwächere – gegen die Nachbarin, die migrantisch aussieht. Oder gegen den Typen, der vor dem Discounter sitzt und so streng nach Bier riecht. Die Stadtteilgewerkschaft versucht, die eigentlichen Urheber der erfahrenen Ungerechtigkeit auszumachen: die Wohnungsgesellschaft, das Jobcenter, die Ausländerbehörde. „Wir wollen zeigen, dass linke Politik im Sinne der Menschen ist“, so Sophia.

„Ich habe vorher viel unbezahlte soziale Arbeit geleistet und Menschen zu Ämtern begleitet“, erinnert sich Sophia. In dieser Zeit habe sich viel Frust angestaut: „Ich hatte das Gefühl, mich die ganze Zeit im Kreis zu drehen. Wenn ich nur noch Brände lösche, sehe ich nicht mehr, wie ich grundlegende Sachen verändern kann.“ 2023 sei Sophia auf die Gruppe „Solidarisch in Gröpelingen“ getroffen. Die Stadtteilgewerkschaft aus Bremen habe durch den sogenannten Beratungsorganisierungsansatz für Aufsehen in der deutschen Organizing-Szene gesorgt.
Organizing ist ein Begriff aus dem gewerkschaftlichen Arbeitskampf und bezeichnet einen Ansatz, bei dem eine kleine Gruppe möglichst viele Mitglieder einer Interessengemeinschaft adressiert. Das Ziel dabei: Viele werden für verbesserte Lebensumstände streiten und Druck auf „die Mächtigen“ ausüben, die für die Umstände verantwortlich sind. Das passiert in den meisten Fällen in Betrieben, funktioniere im Viertel jedoch ganz ähnlich, bemerkt Sophia. Was es dafür brauche, sei die Erkenntnis, sich in einer ähnlichen Problemlage zu befinden und deshalb ähnliche Rechte erkämpfen zu können. „Wird eine Person angegriffen, werden wir alle angegriffen und wehren uns. Wir wollen eine Verbindung aufbauen“, beschreibt Sophia, „die nicht auf freundschaftlicher Ebene basiert, sondern auf Solidarität.“
Teil des Miteinanders werden
So ein Angriff könne zum Beispiel von einem Mietkonzern ausgehen, der zum Auszug aus der Wohnung auffordert – ohne Rückkehrrecht. In einem Haus, in dem die Mietenden organisiert sind, bleibe das nicht folgenlos. Sie würden ein Treffen einberufen und sich in Gemeinschaft gegen den Auszug wehren, erklärt Sophia. Mit juristischem Beistand und zusammen mit dem lokalen Mieterschutzverein können die Betroffenen eine passende Strategie entwickeln.

Seit Sommer 2024 ist die Jenaer Stadtteilgewerkschaft im öffentlichen Raum präsent: Immer donnerstags und freitags finden im Nachbarschaftszentrum Emils Ecke Sprechstunden statt. Die Räumlichkeiten werden von einem anderen Verein in Stand gehalten, damit Initiativen aus Lobeda diese nutzen können. Die Nachfrage nach Beratung sei groß: Wohnungskündigungen wegen Sanierungen, Sozialgeldkürzungen und diverse Probleme mit der Ausländerbehörde.
Die Beratenden hätten durch ihre jahrelange politische Arbeit Expertise in unterschiedlichen juristischen Bereichen gesammelt oder soziale Arbeit studiert. Dass sie keine offizielle Stelle sind, verunsichere viele Interessierte zu Beginn, erzählt Sophia. Die Vorteile jedoch würden am Ende überzeugen: „Menschen erwarten, dass wir wie ein Amt sind. Kalt, rational und nur dazu da, den Fall zu bearbeiten. Fertig!“ Dass die Beratenden die Hilfesuchenden ernst nehmen und ihnen zuhören, löse Überraschung und vor allem Wertschätzung aus.

Welche Erfahrungen die Menschen an anderen Stellen machen, das kann Sophia nur erahnen: „Manche fragen, ob Ausländer bei uns Mitglied werden dürfen oder ob es okay ist, wenn sie nicht so gut Deutsch sprechen. Da frage ich mich dann: Wie gehen denn andere mit euch um, dass ihr das so erwartet?“ Die Stadtteilgewerkschaft bittet beim zweiten Beratungsgespräch darum, einen Mitgliedsantrag zu unterschreiben und mindestens einen symbolischen Euro monatlich zu zahlen. Die Gruppe sei auf diese Beiträge angewiesen, um sich unabhängig von staatlichen Geldern zu finanzieren. „Wir schicken niemanden weg, der das zweite Mal kommt und nicht gleich den Beitrag zahlen kann. Es geht uns nicht primär darum, dass dieser Wisch unterschrieben wird, sondern um das Gefühl, Teil eines Miteinanders zu sein“, betont Sophia. Einmal im Monat lädt die Stadtteilgewerkschaft außerdem zum gemeinsamen Essen, Spielen und Basteln ein. Um die 50 Menschen kämen dann zusammen.
Kein Projekt der linken Blase
Durch die gewerkschaftlichen Prinzipien unterscheide sich das Vorgehen der Jenaer Gruppe von klassischer Sozialarbeit – aber genauso von Ansätzen vieler linker Aktionen und Projekte. Die würden sich meist exklusiv an die eigene Blase wenden, findet Sophia. „In der linken Szene versuchen wir, Dinge zu verstehen, um sie dann gut oder schlecht zu finden. Hier im Stadtteil versuchen wir eher ein Gefühl zu vermitteln. Und dafür müssen wir Zeit zusammen verbracht haben und Beziehungen aufbauen.“ Sophia denkt vor allem an Menschen, die eigentlich von linker Politik profitierten, davon aber ein Bild hätten, in dem sie sich gar nicht wiederfinden.
Während das Thema „Respekt“ Olaf Scholz 2021 ins Kanzleramt brachte, machte dieselbe SPD Friedrich Merz zu dessen Nachfolger, der mit seiner CDU seit Jahren einen harten Kurs gegen sozial Schwache forderte – und beim Bürgergeld, im Asyl- und Migrationsrecht durchsetzte.
Dabei hätten gerade Angehörige linker Subkulturen oft sehr viel mehr mit Lohnarbeitenden und Langzeitarbeitslosen in sozial schwachen Stadtvierteln gemeinsam, als beide Gruppen sehen wollen. Sophia zum Beispiel bezieht Bürgergeld und befindet sich im Rechtsstreit mit dem Vermieter. „Dieses Gefühl, dass ich mich nicht überall alleine reindenken muss, ist total entlastend. Zu wissen, da gibt es noch andere und wir wehren uns gemeinsam.“

In Weimar und Erfurt seien inzwischen Stadtteilgewerkschaften mit ganz ähnlichen Ansätzen entstanden, berichtet Sophia. Außerhalb von Thüringen gebe es noch mehr davon. Warum die Bewegung gerade so an Fahrt aufnimmt? Der Ausbruch aus dem eigenen Dunstkreis sei eine Antwort auf die wachsende Zustimmung zu rechter Politik. „Der Hass gegen Queers hat sich in den letzten Jahren extrem weit verbreitet“, weiß die nicht-binäre Person und ist überzeugt: „Diesen Narrativen setzen wir durch unsere Präsenz im Stadtteil etwas entgegen.“ Denn wenn sich Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte, Queers und Nicht-Queers, Arbeitende und Arbeitslose zusammentun und organisieren, bauen sie dabei gleichzeitig Vorurteile ab.
Ein internationaler Blick gibt Sophia Hoffnung: Die Kommunistische Partei Österreichs etwa stellt seit 2021 in Graz die Bürgermeisterin und habe bewiesen, dass es durchaus möglich ist, durch linke Gesellschaftsarbeit, den Rechtspopulismus wieder an den Rand zu drängen. Und in Spanien funktioniere das Prinzip von Stadtteilgewerkschaften bereits seit 15 Jahren. „Diese Kämpfe werden gerade an vielen Orten geführt. Wir sind Teil einer großen Bewegung.“
Mit Veto geben wir dem Aktivismus im Land eine mediale Bühne. Warum? Weil es Zeit ist, all jene zu zeigen, die sich einmischen. Unser Selbstverständnis: Journalismus mit Haltung. Du kannst uns mit einer Spende unterstützen: DE50 4306 0967 1305 6302 00 oder via PayPal.