Text: Jakob Springfeld — Foto: Karla Schröder
Vor knapp einem Jahr fahre ich mal wieder für Lesungen quer durch das Land, als mir mein guter Kumpel Bruno schreibt, dass er zwei Interrail-Tickets gewonnen hat. Das sächsische Europaministerium hat 700 Tickets an junge Leute zwischen 18 und 27 Jahren verlost und wir sind zwei der Glücklichen: „Schaut euch Europa an! Werdet zu Europabotschaftern!“
Jetzt, zurück im regnerisch-grauen Deutschland zwischen Herbst, Kürzungsdebatten beim Sozialstaat und Semesterbeginn kann ich allerdings sagen: Europabotschafter sind wir wohl kaum geworden, aber diese Reise hatte es absolut in sich …
Los ging es nach meiner letzten Lesung vor der Pause in Hamburg. Von dort aus sind Bruno und ich Richtung Basel gefahren – und wir waren live dabei beim Viertelfinale der Frauen-EM: Deutschland gegen Frankreich. Spannung. Stimmung. Keine saufenden Männerfans. Und am Ende: Elfmeterschießen. Deutschland gewinnt 6:5. Seit langer Zeit ist mein Kopf mal wieder richtig frei und in der Schweiz habe ich sowieso immer das Gefühl, dass die Zeit irgendwie stillsteht. Glattgeleckte Straßen. Ruhe. Oder auch: Turbo-Kapitalismus und Ungleichheit, die in den touristischen Zentren meist komplett unsichtbar bleibt.
Nach der Fahrt ins südfranzösische Montpellier platzt meine privilegiert-berauschende Urlaubsblase wohl das erste Mal. Gerade hatte ich begonnen, die alltäglichen Nachrichten über Rechtsruck, Neonazis und Spahns AfD-Anbiederungsversuche aus meinem Kopf zu verbannen, treffen wir einen französischen Freund. Er blickt düster in die Zukunft: „2027 kommt Le Pen an die Macht, daran habe ich keinen Zweifel und insgesamt nur noch wenig Hoffnung.“ Uff. 30 Grad. Etappenstart der Tour der France. Baden. Und dann das. Welcher Illusion war ich eigentlich verfallen, als ich dachte, eine Reise durch Rechtsruck-Europa 2025 könnte ein Politik-Detox sein?
Spätestens als ich in Italien angekommen war, spüre ich diese innere Unruhe. Die, die mir sagt, dass nicht nur diese Reise, sondern unser ganzes Leben in Europa auf Widersprüchen basiert. Zwischen fabelhaften Landschaften und himmlischen Küsten-Orten in Ligurien wird mir bewusst, wie absurd das alles ist. Eine Bootstour auf einem Meer, in dem Woche für Woche Menschen ertrinken. Urlaub in einem Land, das von der Postfaschistin Giorgia Meloni regiert wird. Eine Italienerin erzählt, dass das soziale Zentrum in ihrem Heimatort von extrem Rechten dichtgemacht wurde. Europabotschafter? Nein danke.
Ankunft in Rom – und ich stelle fest, dass US-Rapstar Kendrick Lamar mit R&B-Sängerin SZA am Wochenende spielt. Meine Glückshormone schnellen wieder in die Höhe. Als es auch noch mit dem ersehnten Ticket klappt, fühle ich mich dem Himmel nahe. Fulminante Show. Alle meine Lieblingstracks. Zehntausende Fans, die alles vergessen lassen. Dass die beiden aus einem Land kommen, das immer weiter in den Autoritarismus rutscht, wirkt dabei umso grotesker.
Doch solange Kendrick und SZA in den USA die Stellung halten, ist längst nicht alles verloren. Und wenn sich so viele junge Leute in Italien den Spaß nicht nehmen lassen und Musik von einem entschiedenen Trump-Gegner abfeiern, dann ist er da vielleicht wieder: dieser Funke von einem europäischen Gedanken, mit dem ich etwas anfangen kann.
Während mir in Italiens Hauptstadt immer wieder holocaustrelativierende Sticker auffallen – umgestaltete Israelflaggen mit Hakenkreuzen statt Davidsternen –, sitze ich Tage später im Zug Richtung Baltikum und lese, dass sich Deutschland als einziges Land den Forderungen 28 anderer europäischer Staaten nach Frieden in Gaza nicht anschließt. Mein Kopf dröhnt und durch die Berichte, dass bereits Mitte August eine russische Sprengstoff-Drohne in Litauen heruntergekommen ist, erscheint der Krieg ganz nah. Über deutsche Waffen- und Wehrpflichtdebatten wird im Baltikum wahrscheinlich nur gelacht. Hier bereiten sich die Menschen schon lange auf eine russische Invasion vor.
Wenn selbst ein Urlaub nicht mehr sorgenfrei ist, steuern wir wohl geradezu ins autoritäre Zeitalter. Und für meine Generation bleibt kaum etwas, dass sich wirklich nach Ruhe, Sorglosigkeit und glücklichem Ausgang der Geschichte anfühlt.
Es ist ungerecht, dass Menschen an der Front im Ukraine-Krieg sterben, die Unterstützung aber auf immer wackligeren Beinen steht? Wie soll ich frei von Depressionen bleiben, wenn ich ins Künstlerviertel im litauischen Vilnius trete, ein Typ mit Springerstiefeln ankommt und „Juden raus!“ schreit? Und wie krass ist es bitte, dass Kaliningrad als russische Exklave mitten in Europa liegt und ich bis vor ein paar Monaten nichts davon wusste?
In einem Museum zum sowjetischen Geheimdienst KGB realisiere ich das erste Mal, wie sehr die osteuropäische Geschichte und deren Stimmen unter dem Radar bleiben. Als ich im Urlaub erfahre, dass der ukrainische Künstler und Aktivist David Chichkan im Krieg stirbt – ein Mann, der nicht für Nationalismus, sondern für queere Rechte, Antifaschismus und eine gerechtere Welt kämpfte –, wird mir klar, wie schief unser westeuropäischer Diskurs läuft.
Die Ukraine-Unterstützung muss linkes Kernanliegen sein – und damit meine ich vor allem die Hilfe für die Menschen vor Ort und nicht für den Staat. Doch während Putins Russland die Nato mit Drohnen provoziert und sich Trump im völkerrechtswidrigen israelischen Vorgehen in Gaza als Friedenstaube inszeniert, steht Europa vor der wohl größten Zerreißprobe. Mal ganz abgesehen von der Klimakrise. Das alles geht an niemandem spurlos vorbei.
Ob es das Saxorail-Projekt, über das mein Kumpel Bruno unsere Bahntickets gewonnen hatte, jemals wieder geben wird? Bisher wurde jedenfalls keine Neuauflage der Geschenkaktion für junge Deutsche angekündigt. Die viel größere Frage, die sich mir jedoch stellt: Wie oft werden junge Europäer*innen solche Reisen überhaupt noch machen können? Der Erfolg von Andrej Babiš – Rechtspopulist, Milliardär, Orbán-Freund – bei der Parlamentswahl in Tschechien zeigt, wohin sich unser Kontinent entwickelt. Das alles fühlt sich erschreckend nach Stefan Zweigs „Die Welt von Gestern“ an, in dem er das Vorkriegseuropa beschreibt.
Zwar kann ich mit vielen europäischen Regierungen, die den Ist-Zustand verwalten oder nach Trump und Orbán eifern, wenig anfangen. Aber: Hier leben doch auch so viele gute Leute. Ihre Realität in Frankreich, Italien oder dem Baltikum ist komplett gegensätzlich zu meiner, und trotzdem kämpfen wir alle mit ähnlichen Sorgen.
Wir haben vielleicht nur noch nicht den richtigen Weg gefunden, um gegen den Rechtsruck, die europäische Spaltung und den klimazerstörenden Kapitalismus anzukommen, auch wenn uns die Zeit davon rennt. Die Leute, die ich getroffen habe, sind noch nicht kalt, abgestumpft oder teilnahmslos geworden. Im Gegenteil: Sie sind häufig offen, politisch und interessiert.
Europa ist ein unendlich schöner Kontinent und die Reise war trotz allem die schönste meines Lebens. Es gibt so viel zu sehen und so viel Geschichte, aus der wir lernen können. Nein, lernen müssen. Sorgen wir dafür, dass es um Menschen geht, statt um Nationalstaaten, Abschottung und Ausbeutung anderer Kontinente. Ich für meinen Teil möchte kein Europabotschafter sein, sondern Leute zusammenbringen, auf Menschenrechte pochen und daran mitarbeiten, dass die Leute checken, dass all das nicht singulär-europäisch ist. Kostenloses Interrail für alle – nicht nur für Europäer*innen. Wir dürfen uns das Träumen nicht nehmen lassen. What a ride!
Jakob Springfeld wurde 2002 im sächsischen Zwickau geboren, ist Klima- und Antifa-Aktivist, Student und Autor des Buches „Unter Nazis. Jung, ostdeutsch, gegen rechts“.