Bolzen kickt — Henrike Deitert

Die Dortmunder Nordstadt gilt als sozialer Brennpunkt. Hier kicken jede Woche 80 Mädchen auf den Plätzen der Nordstadtliga. Doch bei dem Straßenfußballprojekt geht es um weit mehr als Tore. Trainerin Henrike Deitert stärkt den Selbstwert.
1. Juli 2025
5 Minuten Lesezeit
Text: Elena Kirillidis — Fotos: Benjamin Jenak

Eine Stunde vor Trainingsbeginn betritt die erste Spielerin den Platz. Pflaster auf die wunden Füße, Schuhe an und ab auf den Kunstrasen. Gekonnt dribbelt Maria, 15, alleine über das Feld und drischt den Ball ins Tor. „Obwohl sie in einem professionellen Fußballverein spielt, kommt sie immer wieder gerne zum Queenstraining“, sagt Henrike Deitert. Auch sie ist schon deutlich früher am Spielfeld, um das Training mit ihren beiden Kolleginnen zu planen. 

„Wir sind immer zu dritt“, meint Deitert. Zwei stehen auf dem Platz und eine von uns kümmert sich um die Mädchen, die besondere Zuwendung brauchen – weil sie Sorgen mitbringen oder einfach jemanden zum Reden brauchen. Um Punkt 16 Uhr beginnt die 90-minütige Einheit. Die Fußballschuhe werden den Spielerinnen gestellt, denn eigene können sich viele nicht leisten.

Seit drei Jahren schon ist Henrike Deitert Trainerin und gleichzeitig das Herz der Queens, dem Mädchenteam der Dortmunder Nordstadtliga. Aufgewachsen ist Deitert in einer Kleinstadt in der Nähe von Bielefeld. Ein Freiwilliges Soziales Jahr in der Kinder- und Jugendarbeit brachte sie nach dem Abitur schließlich ins Ruhrgebiet. Und danach ging es für insgesamt acht Jahre nach Köln zum Erziehungswissenschaftsstudium. „Dortmund habe ich all die Jahre vermisst.“

2022 ist sie zurückgegangen, habe anfangs einmal in der Woche die Spieltagsbetreuung bei der U17 übernommen. „Nach einem halben Jahr bin ich bei den Queens reingerutscht, erst als Minijob, dann hauptberuflich und seit diesem Jahr arbeite ich 39 Stunden nur für sie.“

Fußballspielen, das macht Henrike Deitert schon ihr ganzes Leben. Von der Grundschule bis zum Abitur war sie im Verein aktiv. „Bei uns in der Familie war Fußball immer weiblich geprägt“, erinnert sie sich. Auch ihre Schwester und die Cousine standen regelmäßig auf dem Platz. Am Wochenende trafen sie sich zum Kicken bei ihren Großeltern. Und als Deitert über Instagram von den Queens erfuhr, wusste sie: „Dieser Job ist für mich gemacht. Er verbindet meine Liebe zur Sozialarbeit, zum Fußball und zu Dortmund.“

Stigmatisierung im Alltag

Warum die Straßenfußballliga gerade in der Dortmunder Nordstadt so wichtig ist, weiß Dierk Borstel. Der Fachhochschulprofessor begleitet das Projekt wissenschaftlich: „Wir haben hier einen der ärmsten und kinderreichsten Stadtteile Deutschlands. Und im Vergleich zu anderen Brennpunktvierteln gibt es in der Nordstadt keine ethnische Dominanzgruppe. Die Nordstadt ist super divers.“ Der günstige Wohnraum zog Gastarbeitende, Zugewanderte aus der EU und zuletzt auch Geflüchtete an. 2021 lag der Anteil von Menschen mit Migrationsgeschichte bei über 55 Prozent – der Dortmunder Durchschnitt betrug hingegen etwa 20 Prozent.

In den drei Nordstadt-Quartieren – Hafen, Nordmarkt und Borsigplatz – leben knapp 60 000 Menschen auf engem Raum. „Wenn es eng ist, kommen die Kinder auf die Straße“, sagt Dierk Borstel. Für die Kinder selbst sei das Normalität und das Viertel ein fester Teil ihres Alltags. „Viertelkinder“ nennt sie die Sozialwissenschaft. Sie sind in ihrem Quartier gut vernetzt und kennen die Spielregeln. Das eigene Quartier zu verlassen sei für viele schon eine große Hürde. Auf die andere Seite des Bahnhofs, in die wohlhabenderen Viertel zu gehen, scheine beinahe unvorstellbar, sagt er. Der Bewegungsradius der Kinder, ihre Chancen und Perspektiven sind eng mit dem Viertel verknüpft. Besonders in armen Stadtteilen präge der eigene Lebensraum die gesamte Realität. Und daraus resultiere laut Borstel zwangsläufig auch Kriminalität.

Der Stadtteil und seine Bewohnenden seien stigmatisiert, so Borstel. Und die Jugendlichen wissen: Wer aus der Nordstadt kommt, habe schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt. „Dort setzt die Nordstadtliga an, vollzieht einen Perspektivwechsel“, sagt er. Anders als in der Schule sei das Angebot nicht leistungsorientiert und die Kinder müssten sich nicht erst noch beweisen, um mitspielen zu können. Finanziert wird das Projekt vom Dortmunder Jugendamt, durch Spenden und die Stiftung von Borussia Dortmund (BVB).  

Zum Trainingsstart sind an diesem Dienstag nur vier Mädchen gekommen. Kein Wunder, meint Henrike Deitert, es sind Ferien. Sonst wären es etwa 20. Leicht verspätet stößt auch Jordanis Bairaktaridis dazu. Der lizenzierte Fußballtrainer unterstützt die Gruppe regelmäßig. „Von der Nordstadtliga können sich einige Jugendmannschaften eine Scheibe abschneiden“, bemerkt Bairaktaridis, der als Kontaktbeamter für interkulturelle und interreligiöse Angelegenheiten arbeitet. Es sei für „viele Vereine ein Traum“, dass die Trainings immer von drei Mitarbeitenden geleitet werden und ein Team des Erstligisten Borussia Dortmund mit Workshops hilft. 

Der Fußball als Lockmittel

Der BVB schafft Identifikation im gesamten Ruhrgebiet. Europaweit haben die Schwarzgelben den höchsten Zuschauendenschnitt aller Fußballvereine. Diesen Zuspruch versucht auch die Nordstadtliga für sich zu nutzen und Kinder und Jugendliche zu erreichen, die sich in Schule oder Nachbarschaft nicht gesehen fühlen. „Der Ball ist nur das Lockmittel“, sagt Dierk Borstel. 

„Das Straßenfußballprojekt hat drei Bereiche“, ergänzt Henrike Deitert: die Queens, die mobile Nordstadtliga und den wöchentlichen Ligabetrieb. Am Anfang jeder Saison schließen sich die Kinder selbst in Teams zusammen, entscheiden, mit wem sie spielen wollen, klären, wie viele Mitspielende sie brauchen und sie kommen wöchentlich zu den Spieltagen. In Tagesturnieren treten sie gegeneinander an und sammeln Punkte. Deitert begleitet sie durch die Saison. Und sie ist verantwortlich für die Personalplanung, Teamsitzungen und auch das Ferienangebot wie Schreibwerkstätten oder Freundschaftsspiele. 

Neben Punkten für Tore bekommen die Kinder auch welche für Selbstorganisation und faires Verhalten. „Wer ehrlich zu einem Foul steht oder anderen hilft, wird besonders gewürdigt“, so Deitert. Dafür gibt es den Respekt-Pokal, „den wichtigsten Preis der Saison“. Im Spiel lernen die Kinder Verantwortung zu übernehmen und Konflikte zu lösen.

Das Straßenfußballprojekt gibt es schon seit 2001. Nach einem personellen Neustart 2020 fiel den Sozialarbeitenden jedoch auf, dass fast nur Jungs das Angebot nutzten. „Sich in männlich geprägten Räumen zu behaupten, das erfordert viel Mut“, weiß die Trainerin. Das erkannte die frühere Projektleiterin Nesren Ibrahim und machte sich damals für ein Angebot für Mädchen stark. Das erste Training fand in einem geschützten Raum statt. „Damals war es den Mädchen wichtig, unter sich zu sein und sich auszuprobieren zu können“, sagt Henrike Deitert. Parallel dazu gab es einen Selbstverteidigungskurs mit Thaibox-Weltmeisterin Julia Symannek. Beide Angebote sollte den Mädchen helfen, sich in der Dortmunder Nordstadt durchzusetzen. 

Kinder und vor allem Mädchen hätten im Stadion nichts zu suchen. Ein Satz, den Deitert schon oft gehört habe. „In allen Lebensbereichen bewegen sich Männer anders als Frauen.“ Gerade für junge Mädchen sei es nochmal schwieriger, sich durchzusetzen. „Sie bekommen wenig Aufmerksamkeit“, meint Deitert. Sie und ihr Team bauen deshalb neues Vertrauen auf.

Queens finden ihren Platz

Beim Saisonstart der Nordstadtliga im September 2022 hatten auch die Queens ihr eigenes Team. Anfangs hätten manche Jungs Sprüche gedrückt und die Mädchen in den gemischten Teams auch nur als Torhüterinnen gewählt, erinnert sich Deitert. „Mittlerweile schießen die Mädchen die entscheidenden Tore und stehen für sich ein.“

Heute sind zwei neue Mädchen zum Training gekommen. Die beiden Schwestern hatten bei einem Schulevent von den Queens erfahren und wollten es gleich ausprobieren. Die Trainerin nimmt sich Zeit, um mit der Mutter zu sprechen. Währenddessen wärmen sich die beiden auf dem Feld auf, dribbeln mit dem Ball um bunte Hütchen. Das Team nimmt sich die Spielerinnen immer wieder zur Seite, zeigt ihnen, den Ball sauber anzunehmen und präzise zu passen.

Mitten in der Aufwärmphase läuft ein weiteres Mädchen auf Deitert zu. Beide fallen sich in die Arme. Das Mädchen war mit ihren Eltern auf der Kirmes und ist auf dem Heimweg am Stadion vorbeigekommen. Die Gruppe ist nun zu fünft. Weil sich aber so nur schwer ein richtiges Spiel organisieren lässt, springt Deiterts Trainerkollegin ein. Während des Trainings füllt sich das Feld weiter – solange, bis irgendwann zehn Mädchen gegen-, aber auch immer miteinander kicken. „Die Mädchen können kommen und gehen, wann sie möchten“, so Deitert.  

Inzwischen gibt es an sechs Tagen in der Woche Angebote für die Queens: Fußballtraining auf dem Kunstrasen am Dienstag und Sonntag, Schwimmen in der Halle, Spieltag ist immer samstags. Beim Saisonauftakt Anfang April traten fünf Teams an. „Damit empowern wir nicht nur die Mädchen, sondern auch die Jungs“, findet Deitert. Über 100 Mädchen gehören heute zum festen Kern der Nordstadtliga – und das stelle auch längst niemand mehr infrage. 

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