Text: Laura Catoni — Fotos: Basti Winterscheid
Heike Liebsch wirkt erschöpft, als sie in den gläsernen Fahrstuhl des Dresdner Stadtarchivs steigt. Die 61-Jährige plagt eine Erkältung. Angekommen im vierten Stock, eröffnet sich ihr ein weiter Blick hinab auf die Stadt, die „Perspektive auf einen schönen Tag“, erklärt Liebsch und lächelt auffallend. Das Archiv liegt auf einem kleinen Hügel in der Äußeren Neustadt.
Im Lesesaal des Archivs stehen Arbeitsplätze bereit. Die Regale sind mit historischen Werken gefüllt. Im Raum nebenan lassen sich an speziellen Geräten alte Zeitungen durchforsten. Für Heike Liebsch ist es „zweites Wohnzimmer und Zeitmaschine“ in einem. Nicht nur in Dresdens jüdische Geschichte hat sie sich hier zurückversetzen lassen, zu der die studierte Philosophin und Sozialpädagogin schon lange forscht. Ebenso in ein Kapitel DDR-Geschichte, das bis vor wenigen Jahren noch ein Tabu war: Wochenkrippen und -heime.
Mindestens 200 000 Kinder im Alter von bis zu drei Jahren kamen Liebschs Schätzungen nach in Ostdeutschland zwischen 1950 und Anfang der Neunziger in solchen Einrichtungen unter – durchgehend von Montagmorgen bis Freitagabend. Bis in die Siebzigerjahre waren sie beim Eintritt in die Wochenkrippe erst wenige Wochen alt. Mit vier Jahren ging es für viele in Heime. Auch hier blieben die Kinder über Nacht, sahen ihre Eltern nur am Wochenende.

Was im Licht heutiger Erkenntnisse der Bindungsforschung zumindest zweifelhaft erscheint, sollte Müttern in der DDR das Arbeiten ermöglichen und damit den Nachwuchs der Republik sichern – und diesen zu sozialistischen Menschen erziehen.
In den letzten zehn Jahren hat Heike Liebsch nicht nur mehrere Arbeiten über diese Form der Kinderbetreuung geschrieben und in zahlreichen Interviews darüber aufgeklärt. Mit diversen Mitstreitenden organisierte sie 2023 in Rostock außerdem das erste große wissenschaftliche Symposium zu dem Thema. 2024 wirkte die Historikerin zudem bei der Gründung des Vereins „Wochenkinder“ mit, der informiert und den Betroffenen die Möglichkeit zur Vernetzung gibt. So sind zum Beispiel deutschlandweit zahlreiche Selbsthilfegruppen entstanden.
Betreuung mit Folgen
Eltern in der DDR waren nicht verpflichtet, ihre Kinder wochenweise abzugeben. Doch für viele brachte das staatliche Angebot große Erleichterung – und war unhinterfragte Normalität. „Es klang immer total harmlos, wenn meine Eltern darüber gesprochen haben“, bemerkt Liebsch, die selbst in einer solchen Einrichtung untergebracht war. Auch deshalb gab es für sie lange gar keinen Grund, sich damit zu beschäftigen. Erst in Therapiesitzungen, mit denen sie 2015 wegen Depressionen begonnen hatte, fing sie an, ihre frühen Kindheitsjahre zu hinterfragen.
Zwei Jahre später hörte sie durch Zufall einen Radiobeitrag, in dem Wochenkinder, Menschen also, die in den Krippen aufgewachsen waren, über ihr Leben sprachen. „Das war verrückt. Ich erkannte mich in all dem, was da gesagt wurde, wieder“, berichtet Heike Liebsch. Mit „all dem“ meint sie ihre Unfähigkeit, enge Beziehungen einzugehen, die Dissonanz, die sie schon immer zwischen sich und ihrer Mutter wahrnahm, ihren starken Leistungsanspruch an sich selbst. Liebsch begann, sich in die Themen frühkindliche Bindung und Trauma einzulesen. „Danach“, fasst sie zusammen, „habe ich plötzlich mein Leben verstanden.“
Doch sie wollte mehr erfahren über das System der Wochenunterbringung, wie sie es nennt, und tat sich 2016 mit der Pädagogin Ute Stary zusammen, die bereits zu dem Thema forschte. Die einzigen Studien, die die beiden finden konnten, sind die von der Medizinerin Eva Schmidt-Kolmer, die schon in den Fünfzigern zeigte, welche negativen Effekte die Wochenkrippen auf die Entwicklung der betroffenen Kinder hatten.
Doch wie viele Einrichtungen dieser Art gab es? Wurde Kritik geäußert? Und vor allem: Welche Folgen hatte diese Fremdbetreuung für die Betroffenen? Auf keine dieser Fragen fand Heike Liebsch zufriedenstellend Antworten. Also recherchierte sie selbst: im Dresdner Stadtarchiv.

Liebsch wälzte Telefonbücher aus DDR-Zeit, in denen die Krippen eingetragen waren, schaute sich Akten der Gesundheitsämter an, die Krankheiten der Wochenkinder dokumentierten, las in regionalen Zeitungen und Frauenmagazinen die stolzen Berichte über die Eröffnung neuer Krippen. Was sie nicht fand, war die Kritik von medizinischem Fachpersonal – und die habe es durchaus gegeben. Doch damals habe gezählt, was für so vieles in der DDR gegolten hatte: „Dass die Einrichtungen praktisch waren.“
Es war ein Sinn für Pragmatik, der aus heutiger Sicht zu undenkbaren Maßnahmen führte: das Fixieren von Kindern zum Beispiel, damit diese nicht aus ihren Betten kletterten. Nachts war in den Wochenkrippen eine Betreuungskraft allein für bis zu 40 Kleinkinder verantwortlich. Der Tagesablauf war fest strukturiert und ließ wenig Raum für individuelle Bedürfnisse. Schlafen, essen, spielen, aufs Töpfchen gehen – alles streng protokolliert.
Heike Liebsch erinnert sich gut an ihren ersten öffentlichen Auftritt: im Oktober 2019 in ihrem „zweiten Wohnzimmer“. Der Andrang war so groß, dass die bereitgestellten Stühle bei Weitem nicht ausreichten. Auch einstige Erzieherinnen aus den DDR-Wochenkrippen, mit denen sie für ihre Recherche Interviews geführt hatte, saßen im Publikum. „Die waren zum Teil furchtbar gekränkt. Dabei ging es mir nie darum, die Erzieherinnen zu kritisieren, sondern das System.“
Psychische Probleme
Nicht nur wissenschaftlich, auch persönlich hat das Thema für Liebsch große Bedeutung. Sie selbst nennt sich einen bekennenden „Ossi“. Dazu gehöre, die DDR in all ihren Facetten kritisch zu hinterfragen, nicht nur die Wochenunterbringung, auch die eigene Rolle im System: In den Achtzigen zum Beispiel arbeitete sie als FDJ-Sekretärin in ihrem Ausbildungsbetrieb, machte mehrere Kurse an der Parteischule der SED und war als Kirchenreferentin Kontaktperson zwischen Staat und den Gläubigen in Dresdens Zentrum. Mit dieser Zeit habe sich Liebsch in den vergangenen Jahren intensiv beschäftigt, was schmerzhaft gewesen sei.
Seitdem sie ihre Erkenntnisse über die Wochenunterbringung an die Öffentlichkeit gebracht hat, spürt sie, wie das Thema polarisiert. Da gibt es Kai von Klitzing, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Leipziger Uniklinikum, der 2019 vom System der Wochenkrippen als „gesellschaftlich akzeptierte Misshandlung“ sprach und Betroffene wie Heike Liebsch, die in ihrer Wochenkrippenzeit die Ursache für ihr heutiges seelisches Leiden sehen. Gleichzeitig erklärte der Rostocker Sozialpsychologe Olaf Reis vor zwei Jahren, dass die Wochenkrippe an sich kein Trauma sei und die Forschungslage für gesicherte Erkenntnisse zu den Folgen der Unterbringung ohnehin noch zu dünn.
Und dann sind da die Erzieherinnen und Eltern von damals, die ihr gegenüber beteuern, sie hätten ihr Bestes gegeben, aus den Kindern sei doch was geworden. Selbst Wochenkinder kämen auf die Forscherin zu und sagten: „Ich weiß nicht, was ihr habt, mir geht es gut.“

Dass es nicht allen gut geht, ergab 2024 eine Untersuchung der Universitätsmedizin Rostock und der Uniklinik der TU Dresden. Die Forschenden hatten dazu 300 ehemalige Wochenkinder und Menschen, die in der DDR in einer Tageskrippe oder zuhause betreut wurden, zu ihrem emotionalen Erleben befragt. Ergebnis: Wochenkinder litten deutlich öfter unter psychischen Problemen, größeren Verlustängsten und Schwierigkeiten, Nähe zuzulassen.
Zwar wiesen die Forschenden auch darauf hin, dass ein eindeutiger Zusammenhang zwischen Wochenkrippe und den genannten Problemen nicht gezogen werden könne, da es den Daten an Repräsentativität fehle. Doch decken sich die Ergebnisse mit dem, was in der Psychologie bereits bekannt ist: Dass es zu tiefen seelischen Wunden führen kann, wenn einem Kind in seinen ersten Lebensjahren eine feste Bezugsperson fehlt.
Im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Arbeit haben Heike Liebsch zuletzt auch Nachrichten aus Westdeutschland erreicht, darunter manche mit dem Tenor: „Die armen Kinder. Ich hätte das meinen nie angetan.“ Liebsch ist es deshalb wichtig, mit dem Missverständnis aufzuräumen, die Wochenunterbringung sei ein reines DDR-Phänomen gewesen. Ähnliche Systeme habe es in der Sowjetunion und Bulgarien oder in nicht-sozialistischen Ländern wie Israel gegeben.
Erinnerungen an ihre Zeit in der Wochenkrippe hat Heike Liebsch keine. Von ihrer früheren Erzieherin, die nach einem Vortrag im Dresdner Stadtarchiv auf sie zugekommen war, bekam sie ein Foto, auf dem sie als Zweijährige in ihrer Krippe auf dem Weißen Hirsch in Dresden zu sehen ist. Von ihr erfuhr sie, dass auch sie nachts fixiert wurde. In dem Moment, sagt Liebsch, wurde ihr klar: „Ich bin Betroffene.“ Was das wohl in einem Kind auslöse, sich zwölf Stunden lang nicht bewegen zu können, fragt sie mit leiser Stimme.
Kindsein abtrainieren
Wenn sie spricht und sich bewegt, strahlt die Dresdnerin eine Zurückhaltung aus, die konträr erscheint zu dem Beitrag, den sie in den letzten Jahren zur Aufarbeitung des DDR-Kapitels der Wochenunterbringung geleistet hat. Eine Form der Zurückhaltung, die sie schon früh gelernt hat? In ihrer Wochenkrippe hätte sie sich viel um die jüngeren Kinder gekümmert. Das erfuhr sie von ihrer Mutter. Etwas, womit sie damals positiv aufgefallen ist, ihrer Meinung nach aber nur zeigt, wie sehr das Betreuungssystem von damals den Kindern das Kindsein abtrainierte.
Aufarbeitung allein, das reicht Liebsch nicht. 2024 traf sie sich mit der Bundesbeauftragten für die Opfer der SED-Diktatur Evelyn Zupke, die in ihrem damaligen Jahresbericht erstmals die Wochenkrippen und -heime erwähnte. Darin heißt es: Auch wenn die Unterbringung „nach derzeitiger Rechtslage nicht als rehabilitierungs- und entschädigungsfähiges Unrecht gilt, verdienen die Betroffenen, die heute als Erwachsene unter psychischen Folgen leiden, mehr Wahrnehmung für ihre Anliegen in unserer Gesellschaft.“

Anders als die ehemaligen Bewohnenden der Jugendwerkhöfe der DDR haben Wochenkinder bislang keinen Anspruch auf finanzielle Entschädigung. „Wir passen nicht so recht ins Bild des klassischen Opfers des DDR-Systems“, sagt Liebsch. „Wir waren einfach nur kleine Kinder.“
Trotzdem will Liebsch weiter forschen und aufklären. „Es braucht diese Stetigkeit, damit es zu einer gesellschaftlichen Akzeptanz dieses DDR-Kapitels kommt“, betont sie. Auch um den Preis ihres eigenen Schutzes. Körperlich angegriffen oder bedroht wurde Liebsch bislang nicht. In E-Mails werde ihr die nötige Objektivität abgesprochen und DDR-Bashing vorgeworfen. Dabei sieht sie ihre Betroffenheit als beste Motivation, das zu erledigen, was lange liegen geblieben war. „Es gab Forschende, die es ablehnten, zu den Wochenkrippen zu forschen, weil sie das Thema für eine Marginalie hielten“, erklärt Liebsch. „Selbst wenn es nur fünf Kinder betroffen hätte, wären sie nicht weniger relevant gewesen.“
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