Text: Anne Brockmann — Fotos: Katrin Binner
Dieser Text handelt von Suizid. Bei Depressionen oder Selbstmordgedanken gibt es das kostenfreie Angebot der Telefonseelsorge: 0800 111 0111 oder 0800 1110 222. Außerdem ist der Bereitschaftsdienst der kassenärztlichen Vereinigungen unter 116 117 erreichbar.
„Ich wundere mich, dass bei zweieinhalb Millionen Betroffenen im Land nicht längst die Hütte brennt. Warum ist der Protest da so leise?“, fragt Alix Puhl. Ihre Stimme lässt ahnen, dass sich unter Verwunderung auch Empörung mischt. Zweieinhalb Millionen Betroffene – die Rede ist von Kindern und Jugendlichen, die allein in Deutschland eine psychische Erkrankung haben.
Noch vor sieben Jahren kamen Ängste, Depressionen oder Süchte in ihrer Lebenswelt nicht vor. „Es war nicht so“, sagt Puhl, „dass ich diesen Themen keine Beachtung geschenkt oder sie ausgeblendet habe, sondern schlimmer. Ich habe nicht einmal wahrgenommen, dass es sie gibt.“ Heute ist sie Expertin auf dem Gebiet. Puhl ist tief eingetaucht in Ursachen, Symptome, Diagnostik, Behandlung. Und sie spricht darüber mit Eltern, Lehrkräften und Klinikpersonal. Zusammen mit ihrem Mann Oliver leitet Puhl das Sozialunternehmen Tomoni Mental Health.
Im Sommer 2020 hat sich Puhls Sohn Emil das Leben genommen. Er war damals 16 Jahre alt und das zweite von vier Kindern. Emil lebte lange mit einer unentdeckten Autismus-Spektrum-Störung und in der Folge mit immer schwerer werdenden Depressionen. „Wenn wir früher erkannt hätten, was mit ihm los ist, wäre er vielleicht noch hier.“ Die Puhls nahmen an ihrem Sohn nichts Auffälliges wahr, bis sie Ende Januar 2020 einen Anruf vom Schulleiter erhielten: Emil habe gegenüber anderen Jugendlichen aus der Klasse Selbstmordgedanken geäußert.

Die Eltern reagierten sofort, Emil bekam einen Therapieplatz. Später kam er für sechs Wochen in eine Kinder- und Jugendpsychiatrie, wo er seine Diagnose erhielt. Als er die sechste Woche wieder zu Hause war, beging er Suizid. Seit Emils Tod hat Alix Puhl es sich zur Lebensaufgabe gemacht, Anzeichen psychischer Erkrankungen bei jungen Menschen früh zu erkennen. Sie will anderen Menschen diesen Verlust ersparen, bemerkt sie.
„Zuallererst braucht es die Sensibilität der Eltern oder anderer Menschen, die täglich mit dem Kind zu tun haben. Erst auf ihre Initiative hin können psychiatrisch oder psychologisch ausgebildete Menschen Diagnosen stellen. Aber dem gehen ja Verdachtsmomente voraus“, sagt Puhl. „Genau da liegt das Problem.“ Denn um Verdacht zu schöpfen, braucht es Wissen.
Suizide sind in 90 Prozent der Fälle die Folge psychischer Erkrankungen. Und die wiederum sind behandelbar. Das ist die gute Nachricht. Doch Voraussetzung ist, dass die Erkrankung diagnostiziert wird – und das bestenfalls sehr früh. Möglich ist das theoretisch – wenn denn Anzeichen vom direkten Umfeld erkannt und gedeutet werden. 75 Prozent der psychischen Erkrankungen zeigen sich bereits vor dem 25. Lebensjahr und immerhin noch 50 Prozent schon vor dem 15. Diese Zahlen, Fakten und Zusammenhänge sind der studierten Juristin mittlerweile längst vertraut. Puhl bringt sie unter die Menschen, wo immer es möglich ist.
Seit Anfang 2023 bietet sie mit Tomoni Mental Health online kostenfreie Fortbildungen für Menschen im Umfeld von Kindern und Jugendlichen an – allen voran den Mitarbeitenden in Grundschulen und weiterführenden Schulen. Vergangenes Jahr ist ein Fortbildungsangebot für Eltern dazugekommen. Die Teilnehmenden befassen sich mit Anzeichen einer psychischen Erkrankung, Betroffene teilen Erfahrungen und vermitteln, was ihnen geholfen hat oder hätte.
Einsamkeitsgefühle
Ein wachsender Kreis engagierter Jugendlicher ist für Puhl das Herzstück: „Viele von ihnen meistern ihr Leben mit einer psychischen Erkrankung. Mit ihrer Expertise als Betroffene oder Angehörige sind sie unsere wichtigsten Rat- und Ideengeber, liefern uns die ehrlichste Kritik.“ Jeden Monat lädt Puhl die jungen Menschen zum Brunch zu sich nach Hause ein. Gemeinsam erarbeiten sie Angebote oder organisieren den Frankfurter Schulpräventionstag.
Diese Formate werden von einem wissenschaftlichen und pädagogischen Beirat geprüft. Mittlerweile haben Puhl und ihr Mann ein 25-köpfiges Team um sich versammelt. Sie alle wollen dazu beitragen, dass Geschichten wie die von Emil anders ausgehen.
Schon von Geburt an sei er anders gewesen als andere Kinder. Nur hatten seine Eltern keine Hilfe dabei, die Zeichen richtig zu deuten. „Emil war als Baby überwach“, erklärt seine Mutter. „Er hat täglich insgesamt nur acht Stunden geschlafen“. Sein erstes Wort war Blackberry, wie die Handymarke seines Vaters. Kleidung trug er nur in bestimmten Farben. Menschenmengen überforderten ihn. Als Jugendlicher lernte Emil auf eigenen Wunsch Japanisch. Und binnen zweieinhalb Jahren erreichte er Hochschulniveau und ging im Jahr vor seinem Tod für ein paar Monate nach Japan. Er löste anspruchsvollste Matheaufgaben um zwei Uhr morgens, besuchte regelmäßig Online-Vorlesungen amerikanischer Elite-Universitäten. „Im Rückblick scheint es klar, aber auf Autismus sind wir damals einfach nicht gekommen“, resümiert Puhl.

Dass sein Anderssein mit einem großen Schmerz, einer tiefen Einsamkeit verbunden war, ahnten sie damals nicht. Denn befreundete Menschen gab es in Emils Leben durchaus, nicht viele zwar, aber ein paar. „Wer so spezielle Interessen hat und die auch noch bis ins Detail auslotet, der findet aber kaum jemanden, mit dem er das ernsthaft teilen kann. Sich wirklich sehen, sich wirklich wahrnehmen, sich in der Tiefe verstehen – ob ihm das in Freundschaften gefehlt hat?“, fragt sich seine Mutter heute. Dabei ziehen ihr Erinnerungen durch den Kopf: Emil, wie er mit seinen Freunden auf dem Weg zum Fußballplatz ist. Er ging mit, war dabei, saß aber meist am Spielfeldrand und las ein Buch. Puhl kann solche Szenen heute besser deuten.
In den Wochen vor seinem Suizid habe Emil gelöst gewirkt, befreit, zuversichtlich. Nach dem Aufenthalt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie schmiedete er zusammen mit seiner Familie Pläne für die Zukunft. Unterlagen für den Leistungskurs ab Herbst – danach fragte er. Eine vollkommene innere Sicherheit wollte sich bei seinen Eltern nicht einstellen. Aber die Familie schöpfte damals Hoffnung. Mit ihrem Wissen von heute ordnet Puhl auch das anders ein: „Es ist nicht untypisch, dass Betroffene vor ihrem Suizid positiv sind und aufzublühen scheinen. Dahinter steckt die Erleichterung, die um sich greift, wenn der Entschluss steht.“ Emil konkret zu fragen, traute sie sich nicht: Wie geht es dir? Was machen deine Suizidgedanken?
Nach seinem Tod gab Hündin Zelda der Familie Kraft. „Zelda war Verantwortung, war Aufgabe, war Zukunft für uns“, berichtet Alix Puhl. Eine Zeitlang seien sie beinahe jeden Tag gemeinsam mit Emil losgezogen, um irgendetwas für den Hund zu kaufen, der bald bei ihnen einziehen würde. Die Hündin hatte die Familie genau an dem Tag ausgewählt, an dem Emil Suizid beging. Ihren Namen verdankt sie der Prinzessin aus dem gleichnamigen Spiel. Emil hat es geliebt.
Füreinander da sein
„Wie geht es dir? Was machen deine Suizidgedanken?“ Das würde Alix Puhl ihren Sohn heute auf jeden Fall fragen. Denn sie weiß, solche Fragen können den entscheidenden Unterschied machen. Dass derlei Fragen diese Gedanken erst auslösen würden, ist ein Mythos, den die Wissenschaft längst widerlegt hat. Studien zeigen im Gegenteil, dass das Thematisieren Suizide sogar verhindern oder ihr Risiko wenigstens minimieren kann.
Das Gesprächsangebot kann von jedem Menschen gemacht werden. „Dafür braucht es nur Mut“, sagt Alix Puhl. Entscheidend ist das Wie. Öffnende Worte können die Suche nach Hilfe auslösen. Forschende bezeichnen diese Wirkung als Papageno-Effekt – in Anlehnung an den Protagonisten in Mozarts Singspiel Die Zauberflöte. Darin glaubt Papageno, seine Papagena verloren zu haben und trägt sich deshalb mit Suizidgedanken. Drei Jungen können ihn durch Gespräche aber davon abhalten und ihm helfen, seine Krise zu überwinden.
„Menschen sollten sich stärker füreinander verantwortlich fühlen, nicht nur innerhalb der Kernfamilie, sondern im gesamten sozialen Gefüge, das sie umgibt“, fasst Puhl zusammen. „Stattdessen schaffen wir Begegnungsmöglichkeiten sukzessive ab – den Kassierer im Supermarkt, die Postangestellte in der Filiale. Dafür gibt es mehr und mehr Self-Scan-Kassen und Packstationen. Die Maschinen schauen uns aber nicht an, sie sehen nicht die Ringe unter unseren Augen, nicht die speckigen Haare, die wir vielleicht schon länger nicht gewaschen haben. Und vor allem sagen sie nicht: ‚Alles in Ordnung? Du wirkst anders auf mich als sonst‘.“

Puhl schwebt eine Art Marktplatz sozialer Dienstleistungen vor, ganz ohne Erwartungsdruck. Ich führe heute deinen Hund aus, damit du dich um deinen pflegebedürftigen Vater kümmern kannst, weil die Pflegekraft beim Handballspiel ihres Sohnes dabei sein will. „Hilfekette“ nennt sie das. Ob, wann und in welcher Form sich die Pflegekraft revanchiert, bleibt offen. Wenn Menschen auf diese Weise immer wieder in anderen Konstellationen zusammenkommen, ist die gegenseitige Wahrnehmung bereits enthalten und niemand fällt mehr aus dem Blick. Um Beobachtungen und Sorgen zu teilen oder sie aufzunehmen, müssten die Menschen bloß noch ihr „Igel-Kleid“ abstreifen, beschreibt Puhl.
Ganz sicher ist sie sich aber selbst nicht, wie sie wohl reagiert hätte, wenn früher jemand zu ihr gekommen wäre und gesagt hätte: „Alix, dein Emil kommt mir in letzter Zeit so verloren vor. Ich glaube, dem geht es nicht gut.“ Schließlich hat sie Rechnungen von Emils ersten Besuchen beim Psychotherapeuten lieber privat bezahlt, damit die Krankenkasse keinen Wind bekommt und nichts in Emils Krankenakte landet. „Psychische Erkrankungen sind eben doch und trotz mancher Fortschritte noch ein Tabu und werden als Manko angesehen.“
Bei Rückmeldungen zu den eigenen Kindern seien Menschen ohnehin schnell geneigt, dies als Angriff oder Kritik zu verstehen und machten dicht. „Aber was, wenn sich andere Eltern für meine Kinder genauso verantwortlich fühlen würden wie ich selbst – in der Zeit, die sie nach der Schule bei ihnen im Garten spielen. Das wäre doch echtes Miteinander“, sagt Puhl. Tomoni ist übrigens Japanisch, die Sprache, die Emil so gemocht hat. Es heißt „zusammen“.
Mit Veto geben wir dem Aktivismus im Land eine mediale Bühne. Warum? Weil es Zeit ist, all jene zu zeigen, die sich einmischen. Unser Selbstverständnis: Journalismus mit Haltung. Du kannst uns ganz einfach bei Steady unterstützen oder auch mit einer Spende via PayPal.